Ehrlich gesagt schlagen bei diesem Thema immer zwei Seelen in meiner Brust und ich bin mir manchmal ziemlich unsicher, ob ich die eine davon überhaupt rauslassen soll.
Heute ein Zitat gelesen:
"Wir glauben immer, wir machten unsere Erfahrungen, dabei machen die Erfahrungen uns."
Der nachfolgende Text behandelt eigentlich nicht die Menschen, die wir normalerweise als Flüchtlinge ansehen. Im Orden nannten wir Mitarbeiter sie intern Desperados. Aber das sind ja auch so eine Art Flüchtlinge.
Als Tourist in Marokko kam, sobald ich mein Hotel in der kleinen Hafenstadt Essaouira auf eine Marktstraße verlies, immerzu ein Bettler auf mich zu und bettelte mich an. Bettler gehören da zum Straßenbild, sind meist Versehrte und auch die Einheimischen geben ihnen Geld. Bei diesem Nassauer gab es aber überhaupt keinen Grund, warum er bettelte, und das in einem Land, wo ein jeder irgendeiner Arbeit nachgeht, und sei es mit Botengängen oder als Schuhputzer.
Eines Tages platzte mir dann der Kragen, und ich beschimpfte ihn, lautstark und auf Deutsch.
Aber kaum, dass ich die harten Worte rausgelassen hatte, hielt ich - uuups - mir die Hand vor den Mund, es war mir unangenehm, so entnervt reagiert zu haben. Ich schaute umher die Einheimischen an, wie die den nun reagieren würden.
Aber die lachten alle nur, schallerlaut. Denn sie kannten die Nervensäge selber auch.
Danach ließ mich der Depp fortan in Ruhe.
Was will uns der Autor damit sagen?
Ich war in einem Land, wo es Armut gibt, Betteln allgegenwärtig ist, Bettler so gut es eben geht von den Einheimischen mit durchgezogen werden und Almosen geben sogar eine der wichtigsten religiösen Pflichten des Gläubigen ist. Aber selbst da gibt es Menschen, die immer nur an den Taschen anderer kleben, weil sie für alles andere zu faul sind.
Auch hier in München gehören Bettler seit Jahren zum Stadtbild. Früher beschränkten sie sich auf die zentralen Stadtteile, mittlerweile sitzen sie in der ganzen Stadt.
Während der Lockdowns hatten wir unsere Ruhe - aber kaum, dass wieder alles hochgefahren wurde, quatschte mich der erste vor dem Shoppingzentrum mit dem Pappschild in der Hand wieder an.
Manche von ihnen hätten mein Verständnis, andere aber auch nicht.
Was muss mich ein junger, gesunder Mann aus Rumänien Sommeranfangs hier anbetteln?
Es gibt tausende Jobs für Spüler in den Biergärten, dafür braucht er weder Sprach- noch Sachkenntnisse - und alle suchen händeringend Leute. Als Rumäne kann er da arbeiten, und wenn er will, auch nur den Sommer über. Nicht übermäßig bezahlt, aber dafür gibt's ein ordentliches Essen obendrauf. Aber in ein anderes Land gehen und da die Leute anbetteln?
Solche Menschen machen mich aggressiv. Das sollte nicht so sein, es ist aber so. Denn nach meinem Empfinden stören sie unser soziales Engagement für die Menschen, die es auch verdienen.
Während meiner Tätigkeit in der Bedürftigen-Speisung habe ich mit den verschiedensten Menschen zu tun gehabt. Jeder Mensch kann in eine Lebenskrise geraten, auch ich war in einer Lebenskrise. Es hat mich Jahre gekostet, mich aus ihr wieder zu befreien, und dieser Prozess dauert noch immer an.
Zur Bewältigung der Not solcher Krisen sind solche Angebote da, und wenn man es nicht aushalten kann, dann soll man da nicht arbeiten. Ich hatte damit kein Problem.
Der "Vorbild-Besucher" - sofern es nicht völlig zynisch ist, so etwas zu sagen - ist dann jemand, der ein paar Wochen oder auch Monate regelmäßig kommt, weil er in Not ist.
Und eines Tages kommt er nicht mehr und man sieht ihn nie wieder, weil andere Maßnahmen greifen.
Diese Maßnahmen können aber nur greifen, wenn er sich auch helfen lassen will und sich um ein Minimum kümmert.
Andere nehmen nicht einmal die Angebote wahr, die sie wahrnehmen können. Bei einer anderen Stelle hier kann man 2x die Woche duschen, Einzelkabine und sauber, man kann die Keidung wechseln, alles kostenlos und keiner stellt Fragen. Ich war dort selbst schon einmal.
Niemand muss stinken wie ein Wiedehuppe, selbst dann nicht, wenn man auf der Straße lebt.
Eines Weihnachten - und wir hatten immer herausragende Menüs an den Feiertagen - da hatten sich unsere Gäste für ihre Verhältnisse herausgeputzt, das war deutlich erkennbar. Es ging sogar ein kleine Parfümwolke durch den Raum. Ich war stolz auf meine Gäste, denn sie hatten die Würde dieses Tages gewahrt und zeigten Respekt vor dem christlichen Haus.
Und dann kommt da einer rein, da stinkt dann mit einem Mal der ganze Gastraum, bis in die Küche, nach Kläranlage, anders kann man es nicht nennen.
Da waren wir Mitarbeiter dann ziemlich sauer - aber nicht etwa deshalb, weil wir auf einen Menschen in sozialen Schwierigkeiten herab blicken würden.
Sondern vielmehr deshalb, weil es völlig asozial gegenüber den anderen Gästen ist, die es auch auf die Reihe gebracht haben - wenigstens für diesen einen Tag. Bei Möglichkeiten, die es gibt und die in dieser Subkultur auch jeder kennt. Wenn jemand so stinkt, dann ist das auch keine Frage mehr, ob er es diese Woche mal nicht in die andere Einrichtung geschafft hat. Oder letzte Woche. Oder vorletzte.
Es ist vielmehr jemand, dem alles völlig scheißegal ist, im wörtlichen Sinne, sei es, weil er psychisch krank ist, sei es aus Alkoholismus. Sogar die anderen, mit denen er da sitzt, das Haus, die Religion.
Es hat Zeiten gegeben, in denen habe ich viel darüber nachgedacht. Ob man solchen Menschen überhaupt noch helfen kann.
Wahrscheinlich kann man manche Menschen nicht mehr auf die Füße stellen, wenn sie es selbst nicht tun wollen. Denn denkt man darüber nach, wie denn eine Einrichtung aussehen müsste, die dies zu leisten versuchte, dann landet man schnell bei einer ganz üblen Konstruktion. Ein Haus mit einer Reihe von strengen Regeln und Maßnahmen, und denkt man das weiter, dann landet man bei einer Art KZ im Anfangsstadium.
Es ist, im mentalen Sinne, schwer, sich alltäglich mit diesen Gästen auseinander zu setzen. Denn einerseits möchte man einen gewissen Standard aufrecht erhalten, eine gewisse Disziplin, wenn man so will. Nicht nur für das Haus, die Mitarbeiter und sich selbst, sondern gerade auch für alle anderen, die da sitzen und es wenigstens noch versuchen, ordentlich zu sein. Und die die gebotenen Möglichkeiten auch nutzen - und die sind vorhanden, reichlich sogar.
Man muss aufpassen, in diesem Prozess kein aggressiver Despot zu werden und auf die Menschen herab zu blicken. Solche Mitarbeiter habe ich in anderen Einrichtungen schon erlebt. Vielleicht wird man mit der Zeit dann einfach so. Tatsächlich habe ich versucht, mich jeden Tag zu hinterfragen, was ich da tue, und wie.
Das ist schwer.
In gewisser Weise kann man es nicht machen, wenn man nicht selbst in sozialen Schwierigkeiten wäre. Der Abstand wäre zu groß. Andererseits darf man die Not dieser Menschen auch nicht zu sehr an sich heranlassen, denn dann zieht es einen selbst mit herunter. Zu groß darf man den Abstand aber auch nicht werden lassen, denn dann wird man überheblich.
Es kam auch regelmäßig vor, dass man beschimpft, beleidigt und bedroht wurde. Einmal hat jemand sogar versucht, mich auf der Straße zu verfolgen, das war ganz offensichtlich. Denn ich bemerkte dies und änderte meinen Kurs - und er auch. Ich sprach mit dem Abt darüber, und er sagte mir: Gehen Sie eine Zeitlang andere Wege. Er wird bald jemanden anderen haben, dem er auflauert.
Was für eine Lebenserfahrung, aber genau so war es dann auch.
Da war aber auch noch ein anderer Kontrast. Im Gastraum hingen Gemälde an der Wand, die u.a. Armut thematisierten, Maria, die fürsorglich über Bettlern und Versehrten schwebt o.ä.
Das ist dann dieses romantisierte Bild der Armut und der christlichen Fürsorge. Die Armut gibt es, aber die moderne Armut entspricht nicht diesem Bild.
Wir, Deutschland, müssten mehr tun, als dass, was hier seit vielen Jahren passiert.
Ich kann nicht genau sagen, wie das eigentlich aussehen soll. Zumal dann, wenn es keine repressiven Maßnahmen sein sollen. Wahrscheinlich kann man aus den Erfahrungen anderer Länder viel lernen, Portugal (Drogensucht) oder Finnland (Obdachlosigkeit) etwa. Die beschreiten seit Jahren andere Wege und sind dabei ziemlich erfolgreich - und dies sogar bei deutlich reduzierten Kosten für die Gesellschaft.
Andere europäische Länder, EU-Länder, tun offenbar noch weniger (oder zuviel), um sich um ihre Sorgenkinder zu kümmern. Eine der größten Gruppen der Speisung waren z.B. Osteuropäer, Polen, Ungarn, Bulgarien, Rumänien. Warum reisen Menschen aus diesen Ländern Deutschland an, um dann hier auf der Straße zu leben? Geht es ihnen hier auf der Straße besser als allgemein in ihren Heimatländern?
Während der Lockdowns waren sie dann alle weg, das war sichtbar. Die Speisungen mussten, wie die Gastronomie auch, in ihrer Form eingestellt werden, offenbar konnten sich die Desperados so hier nicht mehr halten. Wahrscheinlich sind sie in ihre Heimatländer zurück gegangen, aber kaum, dass die strengen Lockdowns aufgehoben sind, da sind sie wieder alle da.