Ein Regenmantel für die Seele
Der Tschador, der von manchen muslimischen Frauen getragen wird, lässt nur das Gesicht und die Hände frei. Aus westlicher Sicht gilt der Schleier in erster Linie als Zeichen der Unterdrückung. Das muss aber nicht so sein, meint die iranische Psychoanalytikerin Gohar Homayounpour.
Kategorie: Psychoanalyse Erstellt am 20.11.2009.
Trägerinnen von Bikinis könnten genauso unterdrückt sein wie von Tschadors, oder auch nicht. Mehr als die politischen Implikationen des Schleiers interessiert Homayounpour aber die psychische Funktion, die er während einer psychoanalytischen Behandlung haben kann.
Für viele Frauen sei er eine Art Regenmantel für die Seele, der vor den nassen Tropfen der Angst Schutz bieten soll, wie sie im zweiten Teil eines Interviews erklärt (hier Teil 1).
Gohar Homayounpour wurde in Paris geboren, hat in Kanada und Boston studiert, wo sie auch ihr Doktorat und eine psychoanalytische Ausbildung gemacht hat. Vor drei Jahren ist sie nach 20-jähriger Abwesenheit zurück nach Teheran gegangen.
science.ORF.at: Aus westlicher Sicht wird der Tschador als Zeichen der Unterdrückung von Frauen betrachtet. Wie sehen Sie das?
Gohar Homayounpour: Es ist nicht Aufgabe der Psychoanalyse zu sagen, was richtig und falsch ist. Ihr Job ist es, zu verstehen und zu analysieren, und das ist auch, was ich mache. Es gibt zwei Hauptargumente zum Tschador, ich kenne sie beide, stelle mich aber auf keine Seite. Das eine Argument lautet: Der Tschador ist ein Zeichen undemokratischer, patriarchaler Unterdrückung. In Teheran gibt es einige Psychoanalytikerinnen, die dem zustimmen. Sie denken, dass Frauenbefreiung und Tschadorabnahme zusammenhängen und unterstützen junge Frauen auch in diesem Sinne.
Das andere Argument geht davon aus, dass es sich um den westlichen Blick auf den Tschador handelt. Wenn Sie etwa an die Trageverbotsgesetze in Frankreich denken: Aus psychoanalytischer Sicht geht jedem Verbot eine Angst voraus, man fürchtet sich vor etwas, das man verbietet. Was ist für westliche Menschen so angsterregend, wenn sie eine Frau im Tschador sehen?
Sagen Sie es mir.
Eine These: Frauen unter dem Tschador können die Betrachter sehen, aber nicht umgekehrt. Das ist für die Betrachter automatisch eine machtlose Situation, ähnlich wie die panoptischen Gefängnisse, die Michel Foucault beschrieben hat. Ich erlebe das mit männlichen Patienten in Teheran jeden Tag. Sie kommen zu mir und müssen auf der Couch liegen - vor einer iranischen Frau, ohne sie zu sehen! Die Männer haben Schwierigkeiten, sich darauf einzulassen und fühlen sich ohnmächtig. So ähnlich dürfte das auch vielen westlichen Menschen gehen, wenn sie Frauen im Tschador sehen.
Dem Tschador in der Psychoanalyse widmet sich auch ein Beitrag des Ö1 Dimensionen-Magazins am 20. November, 19.05 Uhr.
Die psychoanalytische Situation ist so ähnlich wie der Tschador?
Ja, wir können als Psychoanalytiker nicht verleugnen, dass wir unsere Analysanden in eine unterwürfige Position führen. Wenn man das konstruktiv nutzt, kommt aber etwas Sinnvolles heraus.
Sie haben aber noch eine zweite Erklärung für die westliche Angst vor dem Tschador, wie Sie es nennen.
Ja, im Westen herrscht eine Obsession der Transparenz. Alle muss gesehen werden. Frauen im Tschador sind nicht transparent, und das löst offenbar Ängste aus. Zur gleichen Zeit wird der Tschador auch erotisiert. Schauen Sie sich die Kunst an, etwa Shirin Neshat. Sie hat Bilder mit Frauen im Tschador aufgenommen, die auf dem Kunstmarkt zu unglaublichen Preisen verkauft werden. Ist diese Gleichzeitigkeit von Angst und Begehren nicht auffällig? Der Iran ist heute das exotische Andere, etwas, das einmal Japan gewesen ist.
Sie verwenden das englische Wort "dechadorize" für den Vorgang, wenn Frauen den Tschador ablegen ...
Das Wort habe ich erfunden.
... aber nicht den Vorgang. Ist das etwas, das sie oft in ihrer Praxis sehen?
Ich bin Psychoanalytikerin und für mich sind Totalitarismus und Unterdrückung innerlich. Was zählt, ist nicht, ob man den Tschador trägt oder nicht, sondern welche Bedeutung er für Ihre persönliche Psyche besitzt. Ich kenne Frauen mit Tschador, die zu den am wenigsten unterdrückten Frauen zählen, die ich je getroffen habe. Umgekehrt gibt es Bikiniträgerinnen in Südfrankreich, die unterdrückt werden.
Von der Oberfläche kann man nicht auf die inneren Bedeutungen schließen. Wir sollten uns deshalb vor Generalisierungen der Art scheuen: Bikinis befreien und der Tschador unterdrückt. Das ist nicht wahr. Beides gibt es in beiden Fällen. Wenn wir uns für die Befreiung von Frauen einsetzen, ist die Tschadorabnahme sicher nicht die Generallösung. Das war ja der Plan des Schahs und der hat nicht geklappt. Ansonsten würde ja die Verhaltenstherapie funktionieren: einfach den Schleier abnehmen und schon bist du frei. So einfach ist das nicht.
Anlässlich des heurigen 70. Todestags von Sigmund Freud wurde vor kurzem die Tagung "Die Macht der Monotheismen - Psychoanalyse und Religionen" in Wien veranstaltet. Sein letztes zu Lebzeiten veröffentlichtes Werk war "Der Mann Moses und die monotheistische Religion" - der Ausgangspunkt für die Veranstaltung. Homayounpour war Teilnehmerin der Tagung.
Welche Erfahrungen haben Sie mit dem Tschador konkret in Ihrer Praxis?
Auch unter der strengsten Auslegung des Islam ist es nicht verboten, dass Frauen in Anwesenheit anderer Frauen verschleiert sein müssen, es betrifft ja immer nur den männlichen Blick. Deshalb fand ich es interessant, dass sich viele meiner Patienten bei mir dennoch an ihren Tschador geklammert haben. Das hat nichts mit Religion oder Unterdrückung zu tun, sondern offenbar etwas mit der psychoanalytischen Situation. Ich hätte angenommen, dass sie es sich auf der Couch bequem machen und den Tschador zuvor ablegen. Sie haben sich aber regelrecht in ihren Tschador verkrochen und nur sehr langsam, als sich mehr Vertrauen zwischen uns entwickelt hat, den Schleier gelüftet.
Ich denke, dass der Tschador in der Psychoanalyse eine spezifische Funktion hat und zwar die des Übergangsobjekts im Sinne Winnicotts. Die Patienten klammern sich daran wie an Teddybären. Sie brauchen es, wenn ihre Ängste groß sind, mit mehr Sicherheit können sie ihre "Teddybären" - sehr vereinfacht gesagt - aber real und symbolisch loslassen. Sobald etwas in der Analyse aufgetaucht ist, dass sie wieder mit Angst erfüllt - zumeist geht es dabei um Sex -, legen sie den Tschador wieder an. Verschleiern hat ja auch diese Wortbedeutung: etwas verbergen, sich nicht mehr auseinandersetzen zu wollen etc.
Fast schade, dass wir im Westen diese Möglichkeit nicht haben, uns zu verstecken, wenn wir Angst haben.
Ich denke, das gibt es im Westen genauso. Regenmäntel können etwa die gleiche Funktion haben. Manche Patienten hier legen ihre Kleidung auch im Sommer nicht ab, wenn es wirklich heiß ist. Auch wenn ich mich speziell mit dem Tschador beschäftigt habe: Vieles von dem gilt auch für andere Kleidungsstücke.
Interview: Lukas Wieselberg, science.ORF.at