Ich gebe Dir weitgehend recht, wenn ich sage, dass es ohne Atatürk die heutigen Debatten um Türkei-EU-Beitritt bestimmt gar nicht gäbe.
Wenn Du hier aber 'Her mit Leuten wie Atatürk' schreibst, kann ich mich dem nicht einfach anschliessen, dem zustimmen. Dir geht es lediglich um seine kategorische Ablehnung des Islam, alles andere blendest Du aus. Gerade Du solltest es aber nicht tun, denn Deine Forderung nach Kritikmöglichkeiten sollte nicht nur die Möglichkeit Islam zu kritisieren, umfassen.
Das Wort 'faschistisch' vermied ich in voller Absicht - es wurde zwar nicht in diesem Zusammenhang in die Diskussion aufgenommen, aber die Folgen in der Diskussion kann nun jeder nachlesen. Die Schuld liegt keinesfalls bei Dir, das möchte ich betonen.
Wenn Du aber Atatürk den Islam 'verteufelnd' zitierst, solltest Du seine anderen Zitate nicht vergessen:
'Ich befehle Euch nicht den Angriff, ich befehle Euch zu sterben!' lautete sein Befehl und 250 000 Türken verloren allein in den Çanakkale Kriegen ihr Leben, um die Ehre der Nation den Entente Staaten gegenüber zu wahren.
Und als die Griechen besiegt wurden, flohen 900 000 Christen aus dem Reich.
'Die Staatsgewalt soll nur dem Volke gehören' und 'Die Presse muss absolute Freiheit haben. Sie darf aus keinem Grund unter Druck gesetzt werden!' Diese Zitate stammen ebenfalls von Kemal Atatürk als 1923 die erste Regierung der türkischen Republik gebildet und er als Präsident gewählt wurde.
Als die Rufe nach mehr Demokratie im Lande immer lauter und stärker wurden, liess er eine Oppositionspartei gründen, um sie aber sehr kurze Zeit später wieder zu verbieten. Kritik und Konkurrenz ertrug er nicht im Geringsten.
Den Fez wie auch andere religiöse Symbole hat er verboten, dafür den Hut vorgeschrieben. Der Widerstand dagegen wurde durch Hinrichtung von etwa 100 Männern gebrochen.
Es galt nur eins: eine autoritäre Diktatur. Sogar das Parlament wurde wieder abgeschafft und die Kurdenaufstände -derselben Kurden, die ihn im Unabhängigkeitskrieg unterstützten- blutig zerschlagen. Und obwohl die Türken erst im 11. Jh. nach Anatolien kamen, hiess es auf einmal, 'die ganze Menschheit wäre ursprünglich türkisch und Türkisch die Mutter aller Sprachen'. Und diesen Kemal Atatürk hättest Du nun wirklich gerne hier, Gisbert?
Die Gegensätze: hier der Nationalheld und Visionär, ein Diktator par excellence, der auch heute noch -eigenartig ist es schon- in der Türkei nicht kritisiert werden darf und auf der anderen Seite die Islamisten. Er hielt die türkische Gesellschaft mit eiserner Hand zusammen, die heute sehr gespalten da steht, das bleibt unbestritten. Aber ob das der richtige Weg war?
Fast bin ich versucht zu sagen, er würde Dich an seiner Seite gegen den Koran kämpfen lassen, um Dich dann zu verraten. Ähnlich, wie er es mit den Jungtürken der Militärakademie tat. Sie orientierten sich mehr nach der franz. Revolution, schauten gleichermassen auch nach England, während er die italienischen Faschisten und auch Lenin und Stalin als Leitfiguren wählte.
Dass einige Deutsche und deutsche Juden in der Türkei z.Z. des NS Zuflucht fanden, hatten sie nur der Tatsache zu verdanken, dass sie Wissenschaftler und Gelehrte waren, die er für den Aufbau des Hochschulwesens dringend brauchte. Jedes gerettete Leben zählt sehr viel, aber die Motivation darf man auch da nicht vergessen.
Eine charismatische Persönlichkeit war er ganz zweifellos. Vielleicht mit Tito oder noch besser mit Castro vergleichbar. Hätte er sich nicht zu Tode getrunken, müssten wir uns jetzt nicht in Spekulationen ergehen, wohin sich dieTürkei mit ihm entwickelt hätte, denn er hätte sicher noch mindestens 10 - 15 Jahre länger regiert, natürlich nur, hätte nicht eine andere Gruppierung mit Erfolg geschafft, was die Jungtürken versucht haben . Sonst wäre es wie bei Castro: ein Revolutionär geht nicht in Pension .
So aber? Von mir ein Nein.