• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Die hohe Bindekraft des Negativen

Negative Zwischenbemerkung

Ben schrieb:
Es ist meinem Wissen nach gar nicht in allen Ländern der Erde so, dass negatives so anziehend ist. Ich würde sagen, dieses Phänomen zeigt sich vor allem in Wohlstandsländern. Wer einmal ärmere Kulturen besucht hat, sieht oft auf verblüffende Weise, wie viele Menschen mit so wenig zufrieden sein können. Und gerade in diesen Kulturen sind negative Gesprächsthemen eher rar. Ich bin der Meinung, dass es ganz einfach daran liegt, dass es uns hier wirklich zu gut geht. Unser enormer materieller Wohlstand drückt auf unser aller Wohlbefinden.

Die These, daß es uns allen besser ginge, wenn wir ärmer wären, muß man nicht teilen; einige von denen, die in diesem schönen Mitteleuropa ihren Lebensunterhalt und den ihrer Angehörigen selbst verdienen müssen, werden solchen Aufruf zur Armut sogar als extrem zynisch beurteilen.

Nichtsdestoweniger hat Bens Theorie des negativen Wohlstands sicher mehr Anhänger, als ihm lieb sein kann, wenn er weiterhin gefüllte Regale im Lebensmittelladen sehen möchte.

Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral.
 
Werbung:
AW: Die hohe Bindekraft des Negativen

Gaius, das verstehst du wohl falsch.
Wenn ich sage, dass es uns in materieller Hinsicht zu gut geht, soll das nicht automatisch heißen, dass wir nun alle wie Einsiedler leben sollen, damit wir glücklich sind.

Extremer Wohlstand jedoch ist meiner Meinung nach ungesund. (Ich spreche hier ausschließlich von materiellem Wohlstand.) Er macht den Körper faul, den Geist träge und das Gemüt launisch. Und letzen Endes bindet er den Menschen, denn die Dinge, die wir zu besitzen meinen, besitzen gleichzeitig uns.
Aber darüber hab ich ja schon einmal geschrieben...

Ben
 
AW: Die hohe Bindekraft des Negativen

Guten Morgen!

Empfindet wirklich jemand "Freude" an all dem Horror, dem wir mittlerweile täglich durch die Medien ausgetzt sind?
Freude an steigender Arbeitslosigkeit, Kinderkriminalität, Naturkatastrophen?
Ich kann mir das nicht vorstellen!
Mir macht das pure Angst. Wie werden wir z.B. alle leben, wenn immer weniger Menschen in die Steuer- und Rentenkassen zahlen?
Das Sozialsystem bricht in Deutschland langsam, aber sicher zusammen. Das kann nur jemanden kalt lassen, der ein riesiges Privatvermoegen und gleichzeitig keinerlei Empathie hat.
ICH kann sehr gut nachempfinden, wie es einem 50-jährigen Mann geht, der gerade wegrationalisiert wurde und dessen nicht arbeitende Ehefrau und studierende Kinder (z.B.) von ihm finanziell abhängig sind.
Ich kann mich nicht darüber freuen, nur, weil das MIR nicht passieren kann mit meinem sicheren Arbeitsplatz beim Staat und meiner relativ guten Rente, die ich aufgrund meines Geburtsjahrgangs (noch) bekommen werde.
Wenn ich mir vorstelle, wie dieser Mann nach Hause geht und seiner Familie mitteilt, dass er überflüssig wurde und dass jetzt die ganze demütigende Mühle von Arbeitslosengeld, erfolgloser Stellensuche und Hartz4 auf sie alle zukommt mit wenig Aussicht auf Änderung, dann wird mir schlecht.
Ich bin entsetzt, wie negativ sich die Verhältnisse in den letzten 30 Jahren geändert haben!
Genauso geht es mir mit Naturkatastrophen oder Terroranschlägen.
Wenn ich dann mit jemandem darüber spreche, der ebenso entsetzt, hilflos und wütend ist, dann erlebe ich bestimmt keine Freude, ich fühle mich aber nicht mehr allein mit meiner Angst.
Wir brauchen alle das Gefühl der Gemeinsamkeit, und sei es das gemeinsame Entsetzen.
Genau DAS erklärt IMO auch Binchens Beobachtungen und Erfahrungen, dass Menschen gar nicht so gern von Positivem hören.
Bei den Beispielen, die sie angeführt hat, profitierte immer nur der andere davon und nie sie selber, es konnte also kein Gefühl der Gemeinsamkeit aufkommen.
Der eine freut sich halbtot über seinen Lottogewinn und Binchen steht belämmert da, weil sie nichts gewonnen hat. Sie kann die Freude nicht teilen.
Wären sie in einer Lottogemeinschaft, dann würde auch sie jubeln und dann wäre die geteilte Freude auch doppelte Freude.
Es ist eine Art Energieaustausch, der das Bewusstsein anhebt. Gemeinsames Empfinden stärkt den Einzelnen.
Wir wollen alle teilen, weil es so gut tut!
@wirrlicht
Dass das Paradies, also ein Zustand ohne Negativität, langweilig sein muss, ist eine weit verbreitete Ansicht.
Dabei wird vergessen, dass "das Paradies" ein Bewusstseinszustand ist mit flow und bliss.
Eine Ahnung davon ist der zustand des total Verliebtseins und zumindest Ansätze davon kennt jeder, für den Meditation kein Fremdwort ist.
Ist das langweilig?
Ich denke nicht!
Drogensüchtige kommen genau deshalb so schwer von der Sucht los, weil der Zustand im Vergleich mit dem Wahnsinnsrausch so öde ist.
Aber das führt vom Thema weg.
Jedenfalls finde ich all die negativen Nachrichten einfach nur zum Kotzen!
Ich kann auch nicht schadenfroh sein, nicht wirklich.
Ich habe eine Kollegin, die ich nicht sonderlich mag, sie ist ein Typ Frau, mit dem ich wenig anfangen kann, sehr selbstgerecht, überkorrekt und vollkommen humorlos. Ihr geht es nur um Pflichterfüllung im Leben, etwas anderes kennt sie nicht, will sie nicht, ist ihr fremd.
Sie hatte schon zwei Kinder und hat nun mit 43 Jahren das dritte bekommen - ein Kind mit Downsyndrom.
Ich kann überhaupt nicht sagen, wie leid mir das tut. Jede Antipathie ist wie weggewischt.
Nein, ich kann mich über Negatives nicht freuen und ich wünschte mir, ich könnte zaubern.
Vielleicht fühle ich mich deshalb so zur Spiritualität hingezogen, weil diese mir ein paar Auswege zeigt.

Fortuna
 
the medium is the message

@wirrlicht

wirrlicht schrieb:
Was wäre, wenn wir alle satt, ausreichend verdienend, wohlhabend, mit reichlich Freizeit und noch mehr gutem Wetter jeden Tag, das ganze Jahr über, gesegnet wären?
(...)

Ich weiß nicht, ob das obige dem "Himmel" gleichzusetzen ist, nur weil es dem augenblicklichen Zustand der Welt nicht entspricht.

Für die Wohlhabenden von heute würde sich materiell nichts ändern. Für die Mehrzahl der Menschen würde sich sehr viel ändern. Für die wäre das schon mal nicht langweilig (wovon träumen die meisten Menschen denn sonst?). Die einzigen, die wirklich was dagegen haben könnten sind, soweit ich sehe, diejenigen Wohlhabenden von heute, die den Unterschied (= das mehr Haben als der andere), genießen können, auch wenn neben ihnen ein Mensch verhungert. Vielleicht sogar gerade dann? Seid mal bitte nicht so naiv, Leute.

Wenn man die Vision einer besseren, gerechteren Welt lächerlich macht, redet man letztlich denen das Wort, die nur eines wollen: dass alles so bleibt, wie es ist.

Dass alles so bleibt, wie es ist, empfindest du das als das Nichtlangweilige?

wirrlicht schrieb:
Und irgendwo habe ich mal gelesen, daß der Himmel stinkelangweilig sein soll - den ganzen Tag Mannah, Harfenmusik und Halleluja (war's beim Engel Aloisius?) - wenig spannend, ne?

Ein Buch über den Himmel? Her damit!

Vielleicht mal eine etwas kriminalistischere Frage: Wer könnte ein Interesse daran haben, den Himmel als "stinkelangweilig" darzustellen?

@Fortuna

Fortuna schrieb:
Empfindet wirklich jemand "Freude" an all dem Horror, dem wir mittlerweile täglich durch die Medien ausgetzt sind? (...)
Ich kann mir das nicht vorstellen! Mir macht das pure Angst.

Es gibt doch einen Haufen Leute, die Horrorfilme mögen. Seit wann mögen Menschen das nicht, was ihnen auch Angst macht? Viele Menschen mögen gerade das.

Fortuna schrieb:
Jedenfalls finde ich all die negativen Nachrichten einfach nur zum Kotzen!

Ich auch.

Fortuna schrieb:
Ich kann auch nicht schadenfroh sein, nicht wirklich.

Ich auch nicht. Aber vielleicht sind wir ja Ausnahmen. Davon war ich ausgegangen. Das habe ich vorausgesetzt.

Fortuna schrieb:
Nein, ich kann mich über Negatives nicht freuen und ich wünschte mir, ich könnte zaubern.

Sich das zu wünschen ist vielleicht die erste Stufe auf dem Weg, es wirklich zu können: zaubern. Mit Sicherheit eine Vorbedingung. (Goethe hatte da ein feines Sätzchen zu, aber ich kriegs nicht mehr zusammen.)

Mediale Grüße

pergola


Nebenbei: Ich finde es nicht nett, wenn man sich auf mich bezieht, ohne mich zu erwähnen oder anzusprechen, liebe Fortuna.
 
AW: Die hohe Bindekraft des Negativen

Hu, Pergola, dein soziales, gerechtes Empfinden in allen Ehren: aber unterstelle doch nicht Leuten, von denen du nichts weißt, eine ignorante, ausschließlich auf den eigenen Wohlstand ausgerichtete Denkens- und Lebensart :p

Meine Frage "Was wäre wenn..." bezog sich auf uns alle hier im Wohlstand lebende, zivilisationsverwöhnte, meckernde und künstlich Ängste produzierende Deutsch-Ösi-Nabel-der-Welt-Bewohnende. Ist es Zufall, daß die Faszination an blutrünstigen Thrillern, gewaltverherrlichenden Computerspielen, Live-Übertragungen von blutigen Geiselnahmen und möglichst vielen Echt-Toten in den Nachrichtensendungen pünktlich zum Abendessen scheinbar gerade in den Ländern, in denen Angst am wenigsten notwendig scheint, am stärksten ausgeprägt ist?

Dass alles so bleibt, wie es ist, empfindest du das als das Nichtlangweilige?

Daß MEIN Leben so bleibt, wie es ist, hoffe ich zutiefst - das mag für andere als langweilig erscheinen, ist aber wurscht. Mein Leben war größtenteils "nichtlangweilig" genug. (ich vermute, daß du dich eher auf den Ist-Zustand der Welt im Ganzen beziehst - aber daß ich die Welt maßgeblich verändern könnte, hab ich mir schon vor langem aus dem Kopf geschlagen).
 
Empörung

Ein Aspekt ist hier noch nicht angesprochen worden: Die wohltuende Sattheit durch Empörung.

Empörung ist die gefühlsmäßige Reaktion auf eine negative Nachricht, mit der ein moralisches Urteil abgegeben wird, um sich selbst besser oder gerechter oder klüger fühlen zu können.

Ein Beispiel: Die Möglichkeit, zu Beiträgen in Online-Zeitungen Kommentare zu schreiben, boomt derzeit. Und diese Kommentare bestehen zu einem erklecklichen Prozentsatz aus Empörung. Empörung über den Inhalt der Nachrichten, über falsche Berichterstattung, über die falsche Interpretation, über den Blödsinn, den andere Kommentatoren so von sich geben. Sachliche Meinungsäußerungen kommen natürlich auch vor, aber die Empörung wirkt sehr anregend auf die Kommentar-Produktion.

Empörung erzeugt eine lebendige Auseinandersetzung, Empörung wird oft durch gezielte Provokation hervorgerufen.

Ein schönes Beispiel dafür ist Claus, der mit Unterstützung einiger User auf dem Empörungs-Instrument virtuos spielt. Und sehr viele stürzen sich voll Freude auf den Claus-Thread, um nur ja nichts zu verpassen.

Denn da ist was los, da geht was ab. Da braucht man auch nicht unbedingt aktiv mitzumischen, das gibt auch für die Mitleser was her.

herzlich
lilith
 
Werbung:
Zurück
Oben