Die Zehn Welten
»Nichiren verstand diese zehn Welten oder Entwicklungsstufen, die man ursprünglich voneinander getrennt sah, als zehn potentielle Zustände, die ausnahmslos jeder Mensch erfahren kann.«
Die Theorie der »Zehn Welten« oder »Zehn Lebenszustände« lehrt, daß jeder von uns über zehn grundlegende innere Seinszustände verfügt, die wir alle in einem einzigen Augenblick erfahren können.
Die zehn Lebenszustände im einzelnen sind:
Hölle: Leben in einem Zustand tiefer Leiden und Schmerzen, oft begleitet von dem Drang, sich selbst oder andere zu zerstören. Es ist ein Zustand absoluter Hoffnungslosigkeit, der den Gedanken an eine Veränderung nicht zuläßt.
Hunger: Man wird in diesem Zustand von ständigen Begierden vollkommen beherrscht und fühlt ein andauerndes Verlangen, z. B. nach Essen, Reichtum und Ruhm, ist aber niemals befriedigt.
Animalität: Dies ist ein Zustand, der von rein instinktivem Verhalten geprägt ist. Das Gesetz des Dschungels herrscht. Ein Mensch in diesem Zustand macht die Schwächeren zu Opfern, die Starken werden gefürchtet.
Hölle, Hunger und Animalität werden zusammen als die Drei Bösen Pfade bezeichnet.
Ärger: Arroganz und selbstsüchtiges Verlangen nach Anerkennung. Man fühlt sich in ständiger Konkurrenz zu anderen und sucht andere zu übertrumpfen.
Hölle, Hunger, Animalität und Ärger werden zusammen die Vier Bösen Pfade genannt.
Ruhe: Dieser Lebenszustand ist von vorübergehender Ausgeglichenheit geprägt. Man erlebt weder großes Unglück noch großes Glück und geht ruhig seinen täglichen Aktivitäten nach.
Vorübergehende Freude: Dieser Zustand tritt durch die Befriedigung einer Begierde oder eines Wunsches ein und verschwindet schnell wieder, wenn man z. B. eine Enttäuschung erlebt. In allen sechs bis hier genannten Zuständen ist man noch völlig von äußeren Umständen abhängig und lebt nicht frei.
Lernen: Ein Mensch im Zustand des Lernens genießt die Freude des sich vergrößernden Wissens, das er durch die Lehren oder Erfahrungen anderer erhält.
Teilerleuchtung: Aus der Beobachtung natürlicher Phänomene oder durch Kontemplation entwickelt man ein tieferes Lebensverständnis. In diesem Zustand hoher Konzentration genießt man auch die Freude kreativen Arbeitens. Die beiden letztgenannten Zustände sind noch im Egoismus verwurzelt und verbinden sich manchmal mit Arroganz.
Bodhisattwa: Dieser Zustand ist von dein aufrichtigen und leidenschaftlichen Wunsch erfüllt, sich dem Wohlergehen anderer zu widmen, selbst auf Kosten des eigenen momentanen Glücks. Der Bodhisattwa-Zustand zeigt sich in jedem Menschen als Hilfsbereitschaft und tiefer Anteilnahme am Leiden anderer. Ein Mensch in diesem Zustand ist frei von Egoismus und genießt die Freude am Leben, die er mit anderen teilt.
Buddhaschaft: Dies ist der Zustand wahren, unzerstörbaren Glücks und absoluter Freiheit, charakterisiert durch grenzenlose Lebenskraft, Mut, Mitgefühl und Weisheit. Da jeder der zehn Lebenszustände alle anderen als Möglichkeit in sich trägt, zeigen im Zustand der Buddhaschaft selbst die Vier Bösen Pfade ihre positive und erleuchtete Seite. Hölle wird zur Basis des Mitgefühls; Hunger wandelt sich zum Wunsch, anderen beim Öffnen ihrer Buddhaschaft zu helfen; Animalität wird zu instinktiver Weisheit; Ärger nährt die Leidenschaft nach Frieden und Freiheit in der Gesellschaft.
Nichiren verstand diese zehn Welten oder Entwicklungsstufen, die man ursprünglich voneinander getrennt sah, als zehn potentielle Zustände, die ausnahmslos jeder Mensch erfahren kann:
»Zunächst einmal zur Frage, wo genau denn die Hölle und der Buddha existieren, so lautet ein Sutra, daß sich die Hölle unter der Erde befindet, und ein anderes Sutra besagt, daß der Buddha im Westen sei. Eine sorgfältige Überlegung wird jedoch klarstellen, daß beide in unserem fünf Fuß großen Körper existieren; die Hölle ist im Herz eines Menschen, der seinen Vater beleidigt und seine Mutter verachtet. (... ) Sie mögen fragen, wie es möglich ist, daß der Buddha in uns wohnen kann, wo doch unser Körper, der vom Sperma und Blut unserer Eltern herstammt, der Ursprung der Drei Gifte und der Sitz geschlechtlicher Begierde ist. Aber (... ) die reine weiße Lotos-Blume erblüht aus dem schlammigen Grund des Teiches.«
Die Zehn Welten sind Teil des weit größeren philosophischen Systems »Ichinen sanzen«, das von T'ien-t'ai (538 - 597) auf der Grundlage des Lotos-Sutras entwickelt wurde. Ichinen sanzen bedeutet wörtlich »ein einziger Lebensaugenblick besitzt dreitausend Welten« und erläutert die Beziehung zwischen der letztendlichen Wahrheit von Nam-Myoho-Renge-Kyo
(bedeutet soviel wie mystisches gesetz) und dem täglichen Leben. Mit diesem Prinzip zeigte T'ien-t'ai auf, daß alles - Körper und Geist, Leben und Umgebung, Lebendiges und Nicht-Lebendiges, Ursache und Wirkung - in jedem Augenblick des Lebens eines Menschen integriert ist.