AW: Der Fluch der Moderne
Die Frage stellt sich: ist das tatsächlich so? Oder sind vielleicht die Naturwissenschaften einer gewissen Zeit eher eine Spiegelung des allgemeinen Denkens dieser Epoche?
Also nicht Basis, nicht Fundament – sondern eigentlich ein Produkt einer gewissen Denkweise. Und da es wahrscheinlich so ist, schafft man sich oft durch die Wissenschaft ein Instrument welches einer Ideologie dienlich ist. Ich betone: dies darf man nicht verallgemeinern – aber Wissenschaft die als Produkt einer gesellschaftlichen Denkweise entsteht, muss zumindest relativiert werden, manchmal sogar in Frage gestellt werden.
Die politische Dimension der Wissenschaft oder ihrer Erkenntnisse lässt sich auch heute erkennen. Dazu zählt für mich das Streichen der Evolutionstheorie aus dem Unterricht in manchen der US Staaten und ihr Ersetzten durch das Intelligent Design, aber auch die Tatsache, dass HIV oder AIDS am Anfang als Schwulenseuche bezeichnet wurde. Dies setzte sich fort lange nachdem man wusste, dass auch Heterosexuelle sich mit dem HIV infizieren.
Danke für diesen Beitrag, liebe Miriam. Ich denke nicht, daß er vom Thema wegführt, ganz im Gegenteil.
Die beunruhigende Frage ist ja, wie es zu derartigen "Entmenschlichungen" kommen konnte. Du sprichst als Beispiel die Bakteriologie an. Das finde ich sehr treffend. Denn an dem Beispiel erkennt man doch sehr deutlich die Janusköpfigkeit der "Moderne". In ihr hat sich doch die Medizin erst richtig etabliert, ebenso wie die Industrie, Wissenschaft, der Parlamentarismus.
Eigentlich alles Dinge, die den Menschen das Leben erleichtern sollten, und zwar unabhängig von einem steuernden Gott. Der Mensch der Moderne begann, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen, er wollte (mußte) sich selbst beweisen. Aber mit all den "guten" Dingen sind zugleich auch Instrumente böser Absichten geschaffen worden. Die Medizin ist etwas Lebensnotwendiges, um Leben zu retten. Sie ist aber eine tödliche Waffe, wenn es darum geht, ungeliebte Menschen, zu morden. Aus dem Mord wird so etwas wie "notwendige Hygiene". Himmler soll mal vor einem Mordkommando gesagt haben, sicher, auch Ungeziefer habe das Recht zu leben...es sei aber das Recht des Menschen, sich gegen das Ungeziefer zu wehren.
Ungeachtet der Perversion, die in den Worten steckt, machen sie die Denkweise, nein: die Funktionsweise eines Genozides deutlich, jedenfalls so wie er sich von Deutschland aus abspielte. Alles funtioniert mit einer banalen Verschiebung der Begrifflichkeiten. Der Mensch wird zum Bakterium degradiert. So simpel geht das.
Andere Mechanismen, so z.B. der sogenannte Befehlsnotstand treten als Katalysator hinzu. Selbst den "traditionellen" Antisemitismus würde ich eher als Beschleuniger, nicht aber als eigentlichen Grund für den Holocaust ansehen. Ich würde sogar so weit gehen, daß vielleicht sogar der Antisemitismus (der ohne Frage auch vor Hitler abgrundtief abscheulich war) eher instrumentalisiert wurde, als der Grund war. Er war - wobei ich mich zugegebenermaßen nur auf die historischen Quellen verlassen kann, nicht auf eigene unmittelbare Anschauung - in Deutschland traditionell weit weniger ausgeprägt als z.B. in Polen, Rußland, im Baltikum, ja selbst als in Österreich. Hitler allerdings muß ihn irgendwo, vermutlich in Wien, aufgeschnappt haben.
Auf Deine Frage würde ich daher meinen, daß die Naturwissenschaft mit Sicherheit nicht das Fundament war, sie lediglich - hoch wirksam -intrumentalisiert wurde, ebenso wie die o.g. Wissenschaften, übrigens auch die Rechtsprechung (einige der bedeutensten Nachkriegsjuristen haben üble Sachen verfaßt, ich habe während des Studiums einige der Pamphlete tief im Keller des Seiminars gefunden). Wo aber liegt denn dann die Basis?
Vielleicht liegt der Grund in einer (erschreckenden) banalen Erkenntnis, daß es gar keinen so furchtbar hochtrabenden Grund gibt, allenfalls in dem Aufeinandertreffen einiger unheilvoller Geschehnisse liegt (der Weltwirtschaftskrise, der Traumatisierung durch den 1. WK, später durch die Inflation, einem Wahnsinnigen namens Hitler, der sich wie ein "Bazillus" in dieses ungute Beet einpflanzte und sein zerstörerisches Gedankengut ausbreitete). Und der Unfähigkeit der Menschen (in Deutschland jedenfalls), mit der überantworteten Mündigkeit zurechtzukommen.
Apropos Hilter? Ist er vielleicht gar ein typischer Vertreter des "Entwurzelten" der Moderne?
Viele Grüße
Zwetsche