Das Heideggersche "Mitsein" ist eben nicht gleichzusetzen mit "soziale[n] Gegebenheit[en] der menschlichen Existenz". Das gerade lehnt Heidegger doch kategorisch ab. Heidegger interessiert sich nicht für den Menschen und sein soziales Umfeld/Miteinander/Bezüge, sondern für das "Dasein", also das, was immer schon Grundstruktur (Sein) alles Seienden ist; dies ist nicht erst zu verstehen, sondern als immer schon Verstandenes wesensgemäß freizulegen. Hier endet der verständliche Heidegger (sofern man davon sprechen möchte) bereits und derjenige, der dann in der Spätphilosphie zur vollen (esoterischen) Entfaltung findet, tritt bereits in Erscheinung.
Da sich die Phänomenologie gerade für das "Wie" der Erscheinungen (z.B. Husserl) interessiert und diese analysiert bzw. reflektiert, ist es mehr als fraglich, die Heideggersche sogen. Phänomenologie (resp. "Fundamentalontologie") überhaupt als solche zu bezeichnen.
Nun ich habe mich hinsichtlich dieser Frage noch mal im Heidegger-Handbuch umgeschaut und dort den Artikel zum "Mitsein" angeschaut , wo es dazu heißt an bestimmten Stellen (2013, S. 305):
" Es ist die ontologisch-existenziale Perspektive, die für Heideggers Reflexionen zu Gemeinschaft, Sozialität und Intersubjektivität in
Sein und Zeit bestimmend ist. In scharfer Abgrenzung gegen die bewusstseinsphilosophischen Positionen Descartes und Husserls ist ihm in den §§25 bis 27 insbesondere daran gelegen, die soziale Verfasstheit von <Welt> aufzuweisen. Das Eingelassensein einzelnen Daseins in einen geteilten , dessen je eigene Einflussphäre übersteigenden Kontext verweist dieses an anderes Dasein: Wie das Treffen auf Zuhandenes und Vorhandes ein notwendiges Moment des <In-der-Welt-seins> bildet, stellt somit auch die Begegnung mit Seiendem von der Seinsart des Daseins einen Grundzug desselben dar. Diese Mit-Struktur der <Welt> , d.h. die Tatsache, dass nie <ein isoliertes Ich gegeben ist ohne die Anderen (SZ 116) schlägt sich im Verstehen ebenso nieder wie in Befindlichkeit und Rede, als <existenziales Konstituens des In-der-Welt-seins > (SZ, S.125) ist sie Bedingung der Möglichkeit von Intelligibilität und Wahrheit."
Heidegger spricht auch wie folgt (a.a.O.):
"Das Sein zu Anderen ist nicht nur ein eigenständiger , irreduktibler Seinsbezug, er ist als Mitsein mit dem Sein des Daseins schon seiend. "
und : "wenn Dasein als In-der-Welt-sein je schon mit Anderen ist."
und: "Das Mitsein ist ein existenziales Konstituens des In-der-Welt-seins. Das Mitdasein erweist sich als eigene Seinsart von innerweltlich begegnendem Seienden. Sofern Dasein überhaupt ist, hat es die Seinart des Miteinanderdaseins. Dieses kann nicht als summatives Resultat des Vorkommens mehrerer <Subjekte> begriffen werden. Das Vorfinden einer Anzahl von <Subjekten> wird selbst nur dadurch möglich, daß die zunächst in ihrem Mitsein begegnenden Anderen lediglich noch als Nummern> behandelt werden. (...) Das eigene Dasein ebenso wie das Mitsein Anderer begegnet zunächst und zumeist aus der umweltlich besorgten Mitwelt. "
und (S.118): "Die Welt des Daseins ist
Mitwelt. Das In-Sein ist Mitsein mit Anderen."
>Alles mehr oder weniger in den §25 bis 27 nachzulesen.
Dazu heißt es dann aber auch kritisch in dem Artikel aus dem Heidegger-Handbuch, was vermutlich auch deiner Sichtweise engegenkommen könnte:
"Ein weiterer Zug von
Sein und Zeit bestätigt, dass Heidegger das Thema zwischenmenschlicher Gemeinschaft wenn auch nicht komplett ausklammert, so doch vielfach unterbestimmt lässt: So lassen auch seine Ausführungen zum <Begegnen> bzw. >Mitbegegnen> anderen Daseins nicht zu, dass sich substanziellere , d.h. kommunikatives, konzentriertes Handeln berücksichtigende Formen von Sozialität und Intersubjektivität ergeben. Vielmehr handelt es sich beim Zusammentreffen von Dasein mit anderem Dasein um ein geradezu zufälliges Stoßen auf..erfolgt dieses doch primär dingvermittelt, d.h. in durch Zuhandenes mediierter Weise. So ist es erst ein Boot, welches <auf einen Bekannten , der damit seinen Fahrten unternimmt> (SZ 118) verweist. Dem Ansatz des >Mitbegegnens> entsprechend , treten Andere also vor allem dadurch in Bezug zur je eigenen Existenz, dass sie aus der Welt her begegnen, wobei sich der Kontakt zu diesen nicht unmittelbar, sondern nur mit Hilfe von <besorgten> Dingen ergeben kann, die damit zum eigentlichen Ort der Begegnung werden. Mag dieses Modell eine rudimentäre Sozialität auch zulassen , bleibt es hinter Bestimmung von tatsächlicher Kommunität doch deutlich zurück."
Nun ich kann mir gut vorstellen, dass dies deiner Sichtweise auf Heidegger hinsichtlich des Mitseins entsprechen könnte, allerdings wird hier aber auch darauf hingewiesen, dass Heideggers Modell des Mitsein eben auch eine "rudimentäre Sozialität" zulässt...Immerhin könnte man sagen.
Und weiter heißt es in dem Artikel:
" In eigentümlicher Abweichung hiervon (...) wird in § 74 von
Sein und Zeit ein ganz andere Ausgestaltung des <Mit> angesprochen: Unter verstärkt existenziellem Blickwinkel skizziert Heidegger in seinen Reflexionen zu <eigentlicher Geschichtlichkeit> im >Volk> eine Form von Gemeinschaft, die ihrer positiven Bestimmung am nächsten kommen soll.
Zum ersten und einzigen Mal in Sein und Zeit affizieren sich umfassende Sozialität und Selbstheit nicht negativ, sondern fallen im Volk in eins. (...) Mehr noch: Als <das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes> macht dieses erst <das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus> (SuZ, S.384ff). Seinem im
Sein und Zeit wiederholt aufscheinenden Vorbehalt zum Trotz, wonach anderes, <mitdaseiendes> Dasein die Selbstständigkeit je einzelnen Daseins gefährde, legt Heidegger hier nahe,
dass Sozialität sich unter bestimmten Voraussetzungen - den Voraussetzungen geteilter >Entschlossenheit> sogar in >Eigentlichkeit> steigernder Weise auswirken kann."
Dazu heißt es in Sein und Zeit , S.384:
"Wenn aber das schicksalhafte Dasein als In-der-Welt-sein wesenhaft im Mitsein mit Anderen existiert, ist sein Geschehen ein Mitgeschehen und bestimmt als
Geschick. Damit bezeichnen wir
das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes. Das Geschick setzt sich nicht aus einzelnen Schicksalen zusammen, sowenig als das
Miteinandersein als ein Zusammenvorkommen mehrerer Subjekte begriffen werden kann. Im
Miteinandersein in derselben Welt und in der Entschlossenheit für bestimmte Möglichkeiten sind die Schicksale im vorhinein schon geleitet. In der Mitteilung und im Kampf wird die Macht des Geschickes erst frei. Das schicksalhafte Geschick des Daseins in und mit seiner <Generation> macht das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus. "
Man kann hier eigentlich relativ gut sehen, wie "Sozialität" sich in diesem Fall positiv auf das einzelne Dasein auswirken kann. Also ich würde in dem Fall schon sagen, dass sich Heidegger hier in Bezug auf das einzelne Dasein für das "soziale Umfeld" interessiert, und hier eben den Wert der "Gemeinschaft", also des "Volkes" betont. Und dafür hat er sogar den Begriff des "Geschickes". Aber es ist teils , teils würde ich sagen. Denn einerseits scheint mir der Artikel aus dem ich mir hier erlaubt habe länger zu zitieren, deine Sichtweise zu stützen, anderseits weist er aber auch darauf hin, dass bei Heidegger ein Denken von "rudimentarer Sozialität" gegeben ist. Und für mich auch besonders wichtig:
Zum ersten und einzigen Mal in Sein und Zeit affizieren sich umfassende Sozialität und Selbstheit nicht negativ, sondern fallen im Volk in eins. (...) Mehr noch: Als <das Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes> macht dieses erst <das volle, eigentliche Geschehen des Daseins aus> (SuZ, S.384ff).
Hier wird anders gesagt Sozialität als etwas positives für das menschliche Dasein aufgefasst (also der Gemeinschaft , dem Volk). Entspricht dies nicht doch in dem Fall der von dir genannten "sozialen Gegebenheit der menschlichen Existenz"? Denn: Als <das
Geschehen der Gemeinschaft, des Volkes> macht dieses erst <das volle,
eigentliche Geschehen des Daseins aus>..Und ich bin eigentlich der Meinung, dass dies nur möglich sein sollte , eben durch das "Heideggersche Mitsein" als "In-der-Welt-sein" ("
Miteinandersein in derselben Welt"). Man sieht gerade dieser Punkt ist recht komplex. Und hat daher eine längere Stellungnahme verlangt, wo ich hoffe, dass man dafür Verständnis haben kann.
Die Rede von der "Volks-Gemeinschaft" wurde ja dann im NS-System populär...und dann könnte man natürlich schauen wie Heidegger über das "Volk" und/oder die "Gemeinschaft" in den 1930er und 1940er Jahren nachgedacht hat unter Einfluss des Nationalsozialismus. Aber interessant, dass bei Heidegger der Begriff des "Volkes" schon in SuZ angelegt ist (oder?). Aber ab den 1930 er Jahren beginnt ja die "Kehre" bei Heidegger, und all das was danach kommt entspricht ja seinem späteren über Volk, Gemeinschaft usw. So habe ich mich erstmal auf die Phase von Sein und Zeit hier eher konzentriert.
Die Phänomenologie /Fundamentalontologie Heideggers (welche man vielleicht auch seine "Sozialontologie" nennen könnte), teilt ja mit Husserls Phänomenologie das Thema "Intersubjektivität", nur denkt Heidegger diese eben anders als Husserl.
PS: Soweit ich auch diesem Handbuch entnehmen konnte, war Heidegger kein Freund der Soziologie , denn diese habe "zur Frage nach dem Wesen der Gemeinschaft nichts beizutragen; dies deshalb weil sie das Soziale (das Volk) stehts nur von außen feststelle, statt es von innen als <Wir> zu verstehen (GA 38, 54). Die Soziologie wird von Heidegger sogar als "Moment der technischen Welt" aufgefasst. Es gibt also eine Distanz zur Soziologie bei Heidegger (2013, S.498).
Meiner differenzierten Sichtweise entspricht dieses Zitat aus derselben Seite (a.a.0), was vielleicht als eine Art Schlusswort zu diesem Punkt betrachtet werden kann:
"Es gibt wenige Philosophen vergleichbaren Ranges, in deren Denken
das Soziale so präsent ist -und doch zugleich
mit soviel Reserve, ja Distanz behandelt wird. Und wohl nirgendwo sonst als in Heideggers Überlegungen zum Miteinandersein sind plausible und unplausible Motive zur Bestimmung des Sozialen eng miteinander verwoben."
Ich hoffe, dass es dir möglich ist, diese Differenziertheit in ihrer Gänze bei Heidegger gedanklich zu nachvollziehen. Wie gesagt Heidegger ist kein einfacher Philosoph. Aber das davor von dir gesagte bedurfte einer differenzierten "Korrektur", wenn man das so mal sagen darf (was man mir hoffentlich nicht übel nehmen wird...).
Die "Wissenschaft" arbeitet eben nicht "vor allem mit den 'beobachtbaren' ... Dingen", sie orientiert sich aber fortwährend an Wirkungszusammenhängen, die direkt oder indirekt mit Hilfe von empirischen Überlegungen (d.h. allgemeiner Metaphysik) verstanden und aufgearbeitet sowie weiterentwickelt werden können.
Ich verlinke nochmal zu meinem Beitrag, wo ich die Differenz von traditioneller (theologischer) Metapyhsik und allgemeiner Metaphysik erläutere:
https://www.denkforum.at/threads/so...gar-nicht-moeglich.17221/page-169#post-657364
Ohne diese Differenzierung führt der Begriff "Metaphysik" nur zu ständigen Missverständnissen.
Gruß
Phil
Nun ich verstehe "Wissenschaft" so (oder empirische Einzelwissenschaften so), dass diese schon mit beobachtbaren Phänomenen zu tun habe, welche ja dann auch genauer untersucht werden können. Metaphysik aber verträgt sich wenig mit Empirie, denn Meta-physik- betrifft ja die Übersinnlichen Dinge..daher der Positivismus als antimetaphysische Bewegung (in der "Wissenschaft ").
"Der
Positivismus ist eine Richtung in der
Philosophie, die fordert,
Erkenntnis auf die
Interpretation von „positiven“ Befunden, Mathematik oder Logik zu beschränken, also solchen, die im
Experiment unter vorab definierten
Bedingungen einen erwarteten Nachweis erbringen.
Der Positivismus geht in der Namensgebung und ersten Institutionalisierung auf
Auguste Comte (1798–1857) zurück und wurde unter diesem und seinen Nachfolgern im 19. Jahrhundert zu einem weltumspannenden humanistischen Ansatz in den Geisteswissenschaften ausgebaut, der alles
Transzendente aus den Überlegungen ausschloss. Zwischen der erkenntnistheoretischen Position, die vor allem die Wissenschaftsdiskussion auf sich zog, und dem institutionalisierten Positivismus, der einen Religionsersatz anstrebte, entstanden im Verlauf des 19. Jahrhunderts erhebliche Spannungen."
https://de.wikipedia.org/wiki/Positivismus
Dem Positivismus geht es also um eine Wissenschaft, die sich am Beobachtbaren, Empirischem hält und daher antimetaphysisch eingestellt ist. Eventuell kann man jetzt eben hier auch den Gegensatz zwischen Metaphysik und Wissenschaft verstehen.
Was die Differenz zwischen traditioneller und allgemeiner Metaphysik anbetrifft, werde ich mir das nochmal in Ruhe anschauen. Ob ich aber dem inhaltlich folgen werde, muss ich dann sehen.
Aber generell ist es natürlich gut, wenn man semantische Unklarheiten durch entsprechende Differenzierungen vermeidet (sofern dies sinnvoll ist).
Einen Gruß am Abend
Philosophist