Giacomo_S
Well-Known Member
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Ich muss zugeben, dass mir manchmal auch der Gedanke kommt: Wie real ist diese Krise eigentlich? Und überhaupt: Wie real ist unsere moderne, hochtechnisierte Gesellschaft im Allgemeinen? Haben wir uns nicht schon lange in die virtuelle Welt zurückgezogen, weil diese spannender und wichtiger scheint als der triste Alltag? Wieviel von dem was wir online schreiben, hat überhaupt einen Einfluss auf irgend ein reales Geschehen?
Vielleicht weniger, als wir glauben.
Andererseits ist es ja nicht so, die Leute hätten vor dem Internet keine Kommunikation, selbst im Kleinen, betrieben. Sicher, die technischen Möglichkeiten haben das eingeschränkt und mehr kanalisiert. Aber die Leute haben ja auch Fanzines, Zeitschriften in Kleinauflagen, Flugblätter, ja Schülerzeitungen herausgegeben.
Und was unterscheidet schon eine private email-Kommunikation, formal wenigstens, von den Brieffreundschaften, die wir vorher hatten?
Das Internet hat die Informationsverbreitung fraglos demokratisiert, es wird von mehr Menschen öffentlich geschrieben, mit viel mehr Umfang, viel mehr Inhalten und natürlich viel mehr Meinungen. Und ganz ohne Frage dürfte der Traffic im Netz seit Corona deutlich höher sein, weil die Leute sonst nichts zu tun haben. Wer gerade im Theater, Sportverein, Konzert, Schwimmbad oder auch nur in einer Kneipe ist, der postet keine langen Texte im Netz.
Allerdings gehört zu einer demokratischen Diskussion auch eine demokratische Kultur, und das haben viele Zeitgenossen irgendwie noch nicht ganz begriffen. Freie Meinungsäußerung bedeutet nicht, dass es damit erlaubt wäre, andere zu beschimpfen, zu beleidigen, zu demütigen oder gar zu bedrohen.
Eines der größten Probleme ist bislang, dass die Geschäftsmodelle der sozialen Medien darauf basieren, die Teilnehmer möglichst lange am Ball zu halten. Ihre moral- und gesetzlosen Algorithmen haben in der Folge dazu geführt, die Gehässigen und die Schreihälse zu befördern - und damit verbiegen sie die öffentliche Meinung. Offenbar hält Gehässigkeit die Menschen länger am Ball als Anständigkeit und Souveränität. Und da leider die Klügeren nur allzuoft nachgeben, bleiben am Ende nur die Gehässigen und die Schreihälse übrig - die im Übrigen meist nicht die Mehrheitsmeinung abbilden.
Traurig und auch im Grunde wenig nachhaltig für die sozialen Medien selbst ist, dass sie bislang wenig aus eigenem Bestreben getan haben, daran etwas zu ändern. Es muss dann immer erst der Gesetzgeber kommen. Dabei wird im alltäglichen Leben selbst jeder Schankgastwirt die Krawallmacher rauswerfen, selbst wenn sie mehr Zeche machen. Denn sonst bleiben die guten Gäste irgendwann aus, und er hat dann nur noch die Krawallmacher. Und jeden Tag Krawall.
Manche Entgleisungen erkenne ich auch schon wieder als rückläufig, wenn auch nur leicht. Ich meine erkennen zu können, dass die SM-Nutzung z.B. im ÖPNV auch wieder abgenommen hat.
Vor Corona war ich öfter mal in der Bayerischen Staatsbibliothek und die wird viel von Studierenden besucht. Sie bietet mehrere hundert Arbeitsplätze an, die nur aus einem Tisch, Stuhl, Lampe und Steckdose bestehen - und zu gewissen Zeiten bekommt man dort überhaupt keinen Platz. Dabei gewinnt man nicht einmal den Eindruck, die Studierenden würden die Bücher der Stabi überhaupt nutzen, vielmehr bringen sie ihre Bücher selbst mit.
Warum kommen sie dann überhaupt?
Nun, man darf annehmen: Weil die Nutzung von Handys in der Stabi strikt untersagt ist. Sie kommen, weil sie dort auch etwas schaffen, unerreichbar sind für WhattsApp & Co. - und dies auch nach außen vertreten können ("Du, ich war den ganzen Tag in der Stabi, und Du weißt ja: Da geht das mit dem Handy nicht.").