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Gerechtigkeit – Eine fast perfekte Weihnachtsgeschichte
In einem Zelt, nah bei einem gemütlich prasselnden Feuer, mitten in der mongolischen Steppe bei so ca. minus 44°C, kam dem braven Yak-Hüter Ungwar Enchhold die entscheidende Idee, was die Welt dringend brauchte. Er schnappte sich ein Pergament aus Yakhaut, zückte einen Schreibkiel aus Yakfeder und brachte die Idee umgehend zu Papier. In den meisten Geschichten und Sagen würde dieses Papier nun verloren gehen, herabsinken in Höllenschlünde, runtertrudeln in Vulkankrater, untergehen in salzigen Meeren, verspeist werden von Dämonen oder Drachen, als Joint-Paper aufgeraucht werden oder einfach nur in den Untiefen des Händtäschchens von Céline B. verloren gehen – aber in dieser tiefgreifenden und wahren Weihnachtsgeschichte wird der geneigte Leser und die ehrfürchtige Leserin bald erfahren, was auf diesem Stück enthaarter Yak-Haut zu lesen stand.
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Der Weihnachtsmann war ein wenig gereizt. Man kann nicht sagen, dass die Geschäfte schlecht liefen. Auch war der Ruf des Unternehmens nicht wirklich ramponiert, aber es hatte sich eine gewisse Profanisierung des Geschäftes eingeschlichen, seit der aufstrebenden Jungmanager Peter Paul-Marie einige Strukturänderungen vorgenommen hatte Er hatte das C.A.M.I.N.- System (civilisation assimilated maximum impact navigation) weiter perfektioniert. Insbesondere war das Reklamationssystem nach einigen schlechten Erfahrungen überarbeitet worden. Kunden, die unzufrieden waren, wurden nun darüber belehrt, dass Unzufriedenheit nur eine andere Art der Wirklichkeitskonstruktion sei und somit nie das Geschenk als Objekt die Ursache dafür sein könne. Zu des Weihnachtsmanns Überraschung waren die Beschwerden trotz dieser wirren Logik tatsächlich um 43% zurückgegangen.
In der Außendarstellung setzte Peter Paul-Marie auf ein stromlinienförmiges Corporate image unter relativem Verzicht auf Glitzer und Geblinke. Durch geschickte Pressearbeit hatte es Peter auch zum Großteil geschafft, den Weihnachtsmann aus den üblichen „Konsumterror“-Diskussionen herauszuhalten. Vielmehr verkaufte er C.A.M.I.N. als individuelle Bedürfnisbefriedigung mit gemeinnützigem Charakter. Der Leitwerbespruch lautete:
Lebst du schon – oder wünschst Du dir noch was?
Trotz all den nicht gerade negativen Veränderungen war Peter Paul-Marie dem Weihnachtsmann stets unsympathisch geblieben, obwohl der in dereinst aus einer äußerst schwierigen Bredouille geholfen hatte. Er fand es an der Zeit, dass dieser Schnösel mal wieder kapierte, wer in dem Laden der Chef war.
Der Weihnachtsmann wollte seine Sekretärin Heather, die gerade bei
„F.E.A.R.“ einige Untote auf dem Computer-Bildschirm zerpflückte, nicht stören, und durchforstete seine Datenbanken höchstselbst auf der Suche nach etwas, mit dem er Peter Paul-Marie aus dem Gleichgewicht bringen könnte. Und da, in den am allerdünnsten besiedeten Ecken seiner Datenbank, stieß er auf genau den Wunsch, den er Peter um die Ohren hauen würde…
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„Sie haben mich gerufen, Joe?“
(Peter hatte es sich angewöhnt, den Weihnachtsmann ein wenig despektierlich mit Joe anzureden, was der sich nie getraut hatte zu unterbinden).
„Hi, Peter, danke dass du Zeit gefunden hast. Ich habe hier einen speziellen Fall und ich, äh, wünsche, dass du dich persönlich drum kümmerst.“
Er reichte Peter ein beschriebenes Etwas, das aussah, als hätte es Gunther von Hagens persönlich präpariert. Peter las es und schüttelte nach wenigen Sekunden den Kopf.
„Joe, du weißt doch, dass unser System mittlerweile alle metaphysischen, philosophischen, religiösen, sexuellen, sowie Wünsche nach Schönheits-OPs automatisch aussondert. Was soll also das hier?“
Der Weihnachtsmann räusperte sich entschlossen.
„Nun, Peter, wie du dir vielleicht denken kannst ist dies der erste und einzige Wunsch aus der Mongolei, der mich je erreicht hat. Und ich denke, es könnte uns nicht schaden, wenn wir unsere geschäftliche Aktivitäten bis an die Grenzen der Wüste Gobi hin ausdehnen würden. Du kannst es auch persönlich sehen: Ich will den einzigen Fan, den wir in der Mongolei haben, nicht enttäuschen.“
„Na, wenn dir so viel daran liegt, warum fährst du dann nicht selbst hin?“
„Nun ja, in der Mongolei ist es gerade so was von arschkalt und mein Arzt hat mir Temperaturen von unter 15°C strengstens untersagt.“
„Dann mail ihm doch.“
„Geht nicht.“
„Post?“
„Peter, der Typ wohnt in einem Zelt mitten in der Steppe. Die Post braucht dahin circa drei Monate und kostet einen Haufen Porto. Fahr selbst hin, dann geht es schneller. Auf der Rückseite steht die Adresse.“
Peter drehte das Pergament um und las: „Abs.: Ungwar Enchhold, im braunen Zelt, möglichst weit weg vom Kochzelt, wo es immer so nach ranzigem Yak-Fett stinkt.“
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Fünf Tage später stieg Peter Paul-Marie am Flughafen von Ulaanbaatar aus und war froh, die alte russische Maschine des Typs Tupolew Tu 134 heil hinter sich zu lassen. Er klemmte sein trendiges Umhängtäschchen unter den Arm (das mit dem Aufdruck „Aeroflot“ hier allerdings nur doof wirkte) und machte sich auf die Suche nach dem Taxistand. Nach kaum vier Stunden fuhr ein alter Wartburg vor, aus dem ihn ein milde lächelndes mongolisches Gesicht ansah.
„Sind Sie frei?“ fragte Peter, der als Angestellter des Weihnachtsmanns natürlich stets einen automatischen Translator bei sich führte.
„Haha. Guter Witz! Sie gefallen mir! Wo soll’s denn hingehen?“
Peter stieg ein und reichte dem Taxifahrer die Adresse.
„Haha! Tolle Adresse! Sie gefallen mir! Dauert nur drei Tage und macht 30 487 Tögrög.“
„Kein Problem. Hat ihr Auto eine Heizung?“
„Hahaha! Guter Witz! Sie gefallen mir echt, Mann!“
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Drei Tage später stieg Peter reichlich durchgefroren und noch reichlicher verspannt aus dem Taxi am Rande eines original mongolischen Yakhirten-Zeltdorfes und gab dem Fahrer 32 000 Tögrög.
„Der Rest ist für Sie.“
„Vielen Dank, Mann. Sie gefallen mir echt. Sicher, dass ich sie nicht noch vor den Zelteingang fahren soll?“
„Danke, das finde ich schon. Sind ja nur fünf Zelte.“
„Hahaha! Stimmt genau. Eine echte Großstadt, Mann! Na denn Wiedersehen…“
Peter macht anhand des teuflischen von ihm ausgehenden Geruchs das Kochzelt ausfindig und erspähte dann ein braunes Zelt, das aussah, als habe es jemand gebaut, der gleichzeitig versucht hatte sich die Nase zuzuhalten. Peter trat heran und da er kein Tür zum Klopfen fand, räusperte er sich und rief:
„Hallo, Herr Enchhold? Peter Paul-Marie hier. Mich schickt der Weihnachtsmann. Kann ich reinkommen?“
„Ah“, tönte von ihnen eine weiche Stimme, „endlich! Kommen Sie rein, mein Herr, nur herein!“
Drinnen prasselte ein munteres Feuerchen (wer’s genau wissen will: ein anderes als am Anfang der Geschichte) und nahe daran saß Ungwar Enchhold und kaute an einem Stückchen Yak-Tabak, denn sein Tagewerk auf den Viehweiden der Steppe war begangen und im Winter gab es eh nichts zu tun.
„Nehmen Sie Platz! Ein Stück Tab-Yatak?“
„Sie meinen Kad-Yatab?“
„Nein, Dad-Kayab.“
„Ach vergessen wir’s. Zur Sache!“
Peter schaute sich in dem Zelt um, indem außer ein paar Töpfen und Klamotten, ein paar archaisch wirkenden Musikinstrumenten und einer alten Dreamcast-Konsole nicht viel herumstand.
„Sagen Sie, Herr Enchhold, warum haben Sie einen solchen Wunsch an den Weihnachtsmann geäußert?“
Ungwar spuckte den Yak-Tabak ins Feuer und begann zu erzählen. Er erzählte recht umständlich und langatmig, so dass wir auf eine genaue Wiedergabe seiner Geschichte hier verzichten. Was sich Peter nach drei Stunden zusammenreimen konnte, war, dass Ungwar eine Nichte hatte, die einst eine kleine Affäre mit einem Entwicklungshelfer aus Bad Kissingen hatte, der ihr erzählt hatte, dass es in Deutschland Brauch sei, Wünsche an den Weihnachtsmann zu richten, und daher habe Ungwar Enchhold das eben auch mal gemacht.
„Aha“, sagte Peter Paul-Marie.
„Herr Enchhold – die Mongolei ist das am dünnsten besiedelte Land der Welt. Aber es ist auch das Land mit den größten Kämpfern. Im Sumo-Ringen stellt ihre kleine Nation den Meister aller Klassen. Die Mongolei ist auch das Land mit den extremsten Klimastrapazen. Aber es ist auch das Land mit der herrlichen Tradition des Oberton- bzw. Kehlkopfsingens (von dem manche zwar der Meinung sind, es klinge wie ein Staubsauger auf LSD, aber ich find’s toll, echt!). Es gibt also eine Menge ausgleichende Gerechtigkeit im Lande der Mongolen. Warum also meinen Sie, die Welt brauche mehr Gerechtigkeit?“
Ungwar Enchhold starrte ihn verwirrt an.
„Mein Herr, ich weiß nicht, wovon Sie reden. Ich kenne nur mein Zeltdorf hier.“
„Sie wollen damit sagen, Sie wissen nichts von den großartigen internationalen Erfolgen des Sumo-Champions Asashoryu?“
„Nein.“
„Und Sie wissen auch nichts von der großartigen Tradition des Oberton- bzw. Kehlkopfgesangs?“
„Also das natürlich. Ich singe sogar selbst. Wollen Sie mal hören?“
Und bevor Peter widersprechen konnte, schnappte sich Ungwar eines seiner archaischen Zupfinstrumente und fing an zu singen. Da er aber kein Könner war, klang es bei ihm nicht wie ein Staubsauger auf LSD, sonder mehr wie ein Mixer, indem man eine lebendige Maus eingesperrt und dann alles zusammen in ein Aquarium versenkt hatte. Nach etwa drei Stunden setzte der Mongole die Laute wieder ab und wandte sich an einen nun etwas müde aussehenden Peter Paul-Marie.
„Herr Paul-Marie. Unser Dorf mag nur fünf Zelte haben. Aber es ist meine Welt und in der gibt es jede Menge Ungerechtigkeit. Z.B. kann ich die Yak-Suppe, wie unsere Dorfköchin Yaalgahaar Enchkult sie jeden Tag zubereitet, nicht ausstehen. Dennoch bekomme ich nichts anderes zu essen.“
„Klingt scheiße.“
„Ja. Allerdings. Also wenn ihr Herr Weihnachtsmann da was machen könnte wäre ich ihnen sehr verbunden.“
„Hm“, dachte Peter kurz nach, „meine Firma könnte ihnen eine Privileg Kombi-Mikrowelle und einen Vorrat an Tiefkühlgerichten für die nächsten 40 Jahre anbieten. Wäre das was?“
„Also wenn Sie das könnten“, strahlte Ungwar Enchold, „das wäre echt große Klasse.“
„Ich hätte sicher auch noch ein paar Spiele für ihre alte Dreamscast-Konsole da drüben…“
„Ach nee“, winkte Ungwar ab, „total langweiliger Kasten. Ich wünsch mir zum Geburtstag `ne Playstation Two.“
„Na denn“, sagte Peter und rappelte sich auf, „dann freue ich mich sehr, dass wir Ihnen helfen konnten. Ich denke, das Geschenk kommt dann gerade noch rechtzeitig zu Weihnachten. Äh – könnten Sie mir ein Taxi rufen?“
„Klar doch. Dauert aber ein paar Tage.“
***
So endet diese lauschige Geschichte, die mal wieder beweist, dass es sich lohnt, sich auch in den hintersten Winkeln unseres Erdballs für mehr Gerechtigkeit einzusetzen.
Zum Abschluss noch ein kleiner Tipp, gerade für die , die an Weihnachten einsam sind: Greifen Sie doch mal statt zurück auf die üblichen Weihnachtslieder, zum Kehlkopf- bzw. Obertongesang der Mongolen. Da können Sie nämlich mehrstimmig singen, auch wenn Sie allein sind!
Ich wünsche allen ein frohes, geselliges Fest, bis zur nächsten Geschichte!