FritzR
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AW: Was lest ihr gerade?
Nachdem ich mit den Termiten und den Ameisen fertig bin, ist die Sprache wieder in den Vordergrund getreten.
Zwei Texte von Peter Bichsel sind mir wieder vor Augen gekommen.
Hier zum Mitlesen:
Peter Bichsel
Ein Tisch ist ein Tisch
Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von andern. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit.
Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.
Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.
Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.
Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten — und das Besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel.
Er lächelte.
«Jetzt wird sich alles ändern», dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloß sein Zimmer auf.
Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut.
Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder:
«Es muß sich ändern, es muß sich ändern!»
Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich.
«Immer derselbe Tisch», sagte der Mann, «dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?» Die Franzosen sagen dem Bett «li», dem Tisch «tabl», nennen das Bild «tablo»und den Stuhl «schäs», und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch. «Weshalb heißt das Bett nicht Bild», dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und «Ruhe» riefen.
«Jetzt ändert es sich», rief er, und er sagte von nun an dem Bett «Bild».
«Ich bin müde, ich will ins Bild», sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl «Wecker».
Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.
Dem Bett sagte er Bild.
Dem Tisch sagte er Teppich.
Dem Stuhl sagte er Wecker.
Der Zeitung sagte er Bett.
Dem Spiegel sagte er Stuhl.
Dem Wecker sagte er Fotoalbum.
Dem Schrank sagte er Zeitung.
Dem Teppich sagte er Schrank.
Dem Bild sagte er Tisch.
Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.
Also: Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.
Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.
Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann machte, auch die anderen Wörter austauschen:
läuten heißt stellen,
frieren heißt schauen,
liegen heißt läuten,
stehen heißt frieren,.
stellen heißt blättern.
So daß es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute.
Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße.
Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte.
Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.
Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er mußte die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er mußte lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen.
Seinem Bild sagen die Leute Bett.
Seinem Teppich sagen die Leute Tisch.
Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl.
Seinem Bert sagen die Leute Zeitung.
Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel.
Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker.
Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank.
Seinem Schrank sagen die Leute Teppich.
Seinem Tisch sagen die Leute Bild.
Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum.
Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er die Leute reden hörte.
Er mußte lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: «Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel?» Oder wenn jemand sagte: «Jetzt regnet es schon zwei Monate lang.» Oder wenn jemand sagte: «Ich habe einen Onkel in Amerika.»
Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand. Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.
Und deshalb sagte er nichts mehr.
Er schwieg.
Und dann noch:
Peter Bichsel, Jodok läßt grüßen
Von Onkel Jodok weiß ich gar nichts, außer daß er der Onkel des Großvaters war. Ich weiß nicht, wie er aussah, ich weiß nicht, wo er wohnte und was er arbeitete. Ich kenne nur seinen Namen: Jodok. Und ich kenne sonst niemanden, der so heißt. Der Großvater begann seine Geschichten mit: »Als Onkel Jodok noch lebte« oder mit »Als ich den Onkel Jodok besuchte« oder »Als mir Onkel Jodok eine Maulgeige schenkte«.
Aber er erzählte nie von Onkel Jodok, sondern nur von der Zeit, in der Jodok noch lebte, von der Reise zu Jodok und von der Maulgeige von Jodok. Und wenn man ihn fragte: »Wer war Onkel Jodok?«, dann sagte er: »Ein gescheiter Mann.«
Die Großmutter jedenfalls kannte keinen solchen Onkel, und mein Vater mußte lachen, wenn er den Namen hörte. Und der Großvater wurde böse, wenn der Vater lachte, und dann sagte die Großmutter: »Ja, ja, der Jodok«, und der Großvater war zufrieden.
Lange Zeit glaubte ich, Onkel Jodok sei Förster gewesen, denn als ich einmal zum Großvater sagte: »Ich will Förster werden«, sagte er, »das würde den Onkel Jodok freuen«.
Aber als ich Lokomotivführer werden wollte, sagte er das auch, und auch als ich nichts werden wollte. Der Großvater sagte immer: »Das würde den Onkel Jodok freuen.«
Aber der Großvater war ein Lügner.
Ich hatte ihn zwar gern, aber er war in seinem langen Leben zum Lügner geworden.
Oft ging er zum Telefon, nahm den Höher, stellte eine Nummer ein und sagte ins Telefon: »Tag, Onkel Jodok, wie gehts denn, Onkel Jodok, nein, Onkel Jodok, ja doch, bestimmt, Onkel Jodok«, und wir wußten alle, daß er beim Sprechen die Gabel runterdrückte und nur so tat.
Und die Großmutter wußte es auch, aber sie rief trotzdem: »Laß jetzt das Telefonieren, das kommt zu teuer.« Und der Großvater sagte: »Ich muß jetzt Schluß machen, Onkel Jodok« und kam zurück und sagte: »Jodok läßt grüßen.«
ebte«, und jetzt sagte er schon: »Wir müssen Onkel Jodok mal besuchen.« Oder er sagte: »Onkel Jodok besucht uns bestimmt«, und er schlug sich dabei aufs Knie, aber das sah nicht überzeugend aus, und er merkte es und wurde still und ließ dann seinen Jodok für kurze Zeit sein.
Und wir atmeten auf.
Aber dann begann es wieder:
Jodok hat angerufen,
Jodok hat immer gesagt.
Jodok ist derselben Meinung.
Der trägt einen Hut wie Onkel Jodok.
Onkel Jodok geht gern spazieren.
Onkel Jodok erträgt jede Kälte.
Onkel Jodok liebt die Tiere liebt Onkel Jodok geht mit ihnen spazieren bei jeder Kälte geht Onkel Jodok mit den Tieren geht Onkel Jodok verträgt jede Kälte verträgt der Onkel Jodok d-e-r O-n-k-e-l J-o-d-o-k.
Und wenn wir, seine Enkel, zu ihm kamen, fragte er nicht: »Wieviel gibt zwei mal sieben«, oder: »Wie heißt die Hauptstadt von Island«, sondern: »Wie schreibt man Jodok?«
Jodok schreibt man mit einem langen J und ohne CK, und das Schlimme an Jodok waren die beiden O. Man konnte sie nicht mehr hören, den ganzen Tag in der Stube des Großvaters die O von Joodook.
Und der Großvater liebte die O von Jooodoook und sagte:
Onkel Jodok kocht große Bohnen.
Onkel Jodok lobt den Nordpol.
Onkel Jodok tobt froh.
Dann wurde es bald so schlimm, daß er alles mit 0 sagte: Onkel Jodok word ons bosochon, or ost on goschotor Monn, wor roson morgon zom Onkol.
Oder so:
Onkoljodok word
onsbosochon orost
ongoschotor mon
woroson mor
gonzomonkol.
Und die Leute füchteten sich mehr und mehr vor dem Großvater, und er begann jetzt sogar zu behaupten, er kenne keinen Jodok, habe nie einen gekannt. Wir hätten gefragt: »Wer war Onkel Jodok?«
Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten.
Es gab für ihn nichts anderes mehr als Jodok.
Bereits sagte er zum Briefträger: »Guten Tag, Herr Jodok«, dann nannte er mich Jodok und bald alle Leute.
Jodok war sein Kosename: »Mein lieber Jodok«, sein Schimpfwort: »Vermaledeiter Jodok«, und sein Fluch: »Zum Jodok noch mal.« Er sagte nicht mehr: »Ich habe Hunger«, er sagte: Ich habe Jodok«. Später sagte er auch nicht mehr »Ich«, dann hieß es »Jodok hat Jodok«.
Er nahm die Zeitung, schlug die Seite »Jodok und Jodok« – nämlich Unglück und Verbrechen – auf und begann vorzulesen: »Am Jodok ereignete sich auf der Jodok bei Jodok ein Jodok, der zwei Jodok forderte. Ein Jodok fuhr auf der Jodok von Jodok nach Jodok. Kurze Jodok später ereignete sich auf der Jodok von Jodok der Jodok mit einem Jodok. Der Jodok des Jodoks, Jodok Jodok, und sein Jodok, Jodok Jodok, waren auf dem Jodok tot.« Die Großmutter stopfte sich die Finger in die Ohren und rief: »Ich kann’s nicht mehr hören, ich ertrag es nicht.« Aber mein Großvater hörte nicht auf. Er hörte sein ganzes Leben nicht auf, und mein Großvater ist sehr alt geworden, und ich habe ihn sehr gern gehabt. Und wenn er zum Schluß auch nichts anderes mehr als Jodok sagte, haben wir zwei uns doch immer sehr gut verstanden. Ich war sehr jung und der Großvater sehr alt, er nahm mich auf die Knie und jodokte Jodok die Jodok vom Jodok Jodok – das heißt: »Er erzählte mir die Geschichte von Onkel Jodok«, und ich freute mich sehr über die Geschichte, und alle, die älter waren als ich, aber jünger als mein Großvater, verstanden nichts und wollten nicht, daß er mich auf die Knie nahm und als er starb, weinte ich sehr. Und ich habe allen Verwandten gesagt, daß man auf seinen Grabstein nicht Friedrich Glauser, sondern Jodok Jodok schreiben müsse, mein Großvater habe es so sehr gewünscht. Man hörte nicht auf mich, so sehr ich auch weinte.
Aber leider, leider ist diese Geschichte nicht wahr, und leider war mein Großvater kein Lügner, und er ist leider auch nicht alt geworden.
Ich war noch sehr klein, als er starb, und ich erinnere mich nur noch daran, wie er einmal sagte: »Als Onkel Jodok noch lebte«, und meine Großmutter, die ich nicht gern gehabt habe, schrie ihn schroff an: »Hör auf mit deinem Jodok«, und der Großvater wurde ganz still und traurig und entschuldigte sich dann.
Da bekam ich eine große Wut – es war die erste, an die ich mich noch erinnere – und ich rief: »Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!«
Und wenn das mein Großvater getan hätte, wäre er vielleicht älter geworden, und ich hätte heute noch einen Großvater, und wir würden uns gut verstehen.
Termiten und Ameisen
Nachdem ich mit den Termiten und den Ameisen fertig bin, ist die Sprache wieder in den Vordergrund getreten.
Zwei Texte von Peter Bichsel sind mir wieder vor Augen gekommen.
Hier zum Mitlesen:
Peter Bichsel
Ein Tisch ist ein Tisch
Ich will von einem alten Mann erzählen, von einem Mann, der kein Wort mehr sagt, ein müdes Gesicht hat, zu müd zum Lächeln und zu müd, um böse zu sein. Er wohnt in einer kleinen Stadt, am Ende der Straße oder nahe der Kreuzung. Es lohnt sich fast nicht, ihn zu beschreiben, kaum etwas unterscheidet ihn von andern. Er trägt einen grauen Hut, graue Hosen, einen grauen Rock und im Winter den langen grauen Mantel, und er hat einen dünnen Hals, dessen Haut trocken und runzelig ist, die weißen Hemdkragen sind ihm viel zu weit.
Im obersten Stock des Hauses hat er sein Zimmer, vielleicht war er verheiratet und hatte Kinder, vielleicht wohnte er früher in einer andern Stadt. Bestimmt war er einmal ein Kind, aber das war zu einer Zeit, wo die Kinder wie Erwachsene angezogen waren. Man sieht sie so im Fotoalbum der Großmutter. In seinem Zimmer sind zwei Stühle, ein Tisch, ein Teppich, ein Bett und ein Schrank. Auf einem kleinen Tisch steht ein Wecker, daneben liegen alte Zeitungen und das Fotoalbum, an der Wand hängen ein Spiegel und ein Bild.
Der alte Mann machte morgens einen Spaziergang und nachmittags einen Spaziergang, sprach ein paar Worte mit seinem Nachbarn, und abends saß er an seinem Tisch.
Das änderte sich nie, auch sonntags war das so. Und wenn der Mann am Tisch saß, hörte er den Wecker ticken, immer den Wecker ticken.
Dann gab es einmal einen besonderen Tag, einen Tag mit Sonne, nicht zu heiß, nicht zu kalt, mit Vogelgezwitscher, mit freundlichen Leuten, mit Kindern, die spielten — und das Besondere war, daß das alles dem Mann plötzlich gefiel.
Er lächelte.
«Jetzt wird sich alles ändern», dachte er. Er öffnete den obersten Hemdknopf, nahm den Hut in die Hand, beschleunigte seinen Gang, wippte sogar beim Gehen in den Knien und freute sich. Er kam in seine Straße, nickte den Kindern zu, ging vor sein Haus, stieg die Treppe hoch, nahm die Schlüssel aus der Tasche und schloß sein Zimmer auf.
Aber im Zimmer war alles gleich, ein Tisch, zwei Stühle, ein Bett. Und wie er sich hinsetzte, hörte er wieder das Ticken, und alle Freude war vorbei, denn nichts hatte sich geändert. Und den Mann überkam eine große Wut.
Er sah im Spiegel sein Gesicht rot anlaufen, sah, wie er die Augen zukniff; dann verkrampfte er seine Hände zu Fäusten, hob sie und schlug mit ihnen auf die Tischplatte, erst nur einen Schlag, dann noch einen, und dann begann er auf den Tisch zu trommeln und schrie dazu immer wieder:
«Es muß sich ändern, es muß sich ändern!»
Und er hörte den Wecker nicht mehr. Dann begannen seine Hände zu schmerzen, seine Stimme versagte, dann hörte er den Wecker wieder, und nichts änderte sich.
«Immer derselbe Tisch», sagte der Mann, «dieselben Stühle, das Bett, das Bild. Und dem Tisch sage ich Tisch, dem Bild sage ich Bild, das Bett heißt Bett, und den Stuhl nennt man Stuhl. Warum denn eigentlich?» Die Franzosen sagen dem Bett «li», dem Tisch «tabl», nennen das Bild «tablo»und den Stuhl «schäs», und sie verstehen sich. Und die Chinesen verstehen sich auch. «Weshalb heißt das Bett nicht Bild», dachte der Mann und lächelte, dann lachte er, lachte, bis die Nachbarn an die Wand klopften und «Ruhe» riefen.
«Jetzt ändert es sich», rief er, und er sagte von nun an dem Bett «Bild».
«Ich bin müde, ich will ins Bild», sagte er, und morgens blieb er oft lange im Bild liegen und überlegte, wie er nun dem Stuhl sagen wolle, und er nannte den Stuhl «Wecker».
Er stand also auf, zog sich an, setzte sich auf den Wecker und stützte die Arme auf den Tisch. Aber der Tisch hieß jetzt nicht mehr Tisch, er hieß jetzt Teppich. Am Morgen verließ also der Mann das Bild, zog sich an, setzte sich an den Teppich auf den Wecker und überlegte, wem er wie sagen könnte.
Dem Bett sagte er Bild.
Dem Tisch sagte er Teppich.
Dem Stuhl sagte er Wecker.
Der Zeitung sagte er Bett.
Dem Spiegel sagte er Stuhl.
Dem Wecker sagte er Fotoalbum.
Dem Schrank sagte er Zeitung.
Dem Teppich sagte er Schrank.
Dem Bild sagte er Tisch.
Und dem Fotoalbum sagte er Spiegel.
Also: Am Morgen blieb der alte Mann lange im Bild liegen, um neun läutete das Fotoalbum, der Mann stand auf und stellte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Füße fror, dann nahm er seine Kleider aus der Zeitung, zog sich an, schaute in den Stuhl an der Wand, setzte sich dann auf den Wecker an den Teppich und blätterte den Spiegel durch, bis er den Tisch seiner Mutter fand.
Der Mann fand das lustig, und er übte den ganzen Tag und prägte sich die neuen Wörter ein. Jetzt wurde alles umbenannt: Er war jetzt kein Mann mehr, sondern ein Fuß, und der Fuß war ein Morgen und der Morgen ein Mann.
Jetzt könnt ihr die Geschichte selbst weiterschreiben. Und dann könnt ihr, so wie es der Mann machte, auch die anderen Wörter austauschen:
läuten heißt stellen,
frieren heißt schauen,
liegen heißt läuten,
stehen heißt frieren,.
stellen heißt blättern.
So daß es dann heißt: Am Mann blieb der alte Fuß lange im Bild läuten, um neun stellte das Fotoalbum, der Fuß fror auf und blätterte sich auf den Schrank, damit er nicht an die Morgen schaute.
Der alte Mann kaufte sich blaue Schulhefte und schrieb sie mit den neuen Wörtern voll, und er hatte viel zu tun damit, und man sah ihn nur noch selten auf der Straße.
Dann lernte er für alle Dinge die neuen Bezeichnungen und vergaß dabei mehr und mehr die richtigen. Er hatte jetzt eine neue Sprache, die ihm ganz allein gehörte.
Hie und da träumte er schon in der neuen Sprache, und dann übersetzte er die Lieder aus seiner Schulzeit in seine Sprache, und er sang sie leise vor sich hin.
Aber bald fiel ihm auch das Übersetzen schwer, er hatte seine alte Sprache fast vergessen, und er mußte die richtigen Wörter in seinen blauen Heften suchen. Und es machte ihm Angst, mit den Leuten zu sprechen. Er mußte lange nachdenken, wie die Leute zu den Dingen sagen.
Seinem Bild sagen die Leute Bett.
Seinem Teppich sagen die Leute Tisch.
Seinem Wecker sagen die Leute Stuhl.
Seinem Bert sagen die Leute Zeitung.
Seinem Stuhl sagen die Leute Spiegel.
Seinem Fotoalbum sagen die Leute Wecker.
Seiner Zeitung sagen die Leute Schrank.
Seinem Schrank sagen die Leute Teppich.
Seinem Tisch sagen die Leute Bild.
Seinem Spiegel sagen die Leute Fotoalbum.
Und es kam so weit, daß der Mann lachen mußte, wenn er die Leute reden hörte.
Er mußte lachen, wenn er hörte, wie jemand sagte: «Gehen Sie morgen auch zum Fußballspiel?» Oder wenn jemand sagte: «Jetzt regnet es schon zwei Monate lang.» Oder wenn jemand sagte: «Ich habe einen Onkel in Amerika.»
Er mußte lachen, weil er all das nicht verstand. Aber eine lustige Geschichte ist das nicht. Sie hat traurig angefangen und hört traurig auf. Der alte Mann im grauen Mantel konnte die Leute nicht mehr verstehen, das war nicht so schlimm. Viel schlimmer war, sie konnten ihn nicht mehr verstehen.
Und deshalb sagte er nichts mehr.
Er schwieg.
Und dann noch:
Peter Bichsel, Jodok läßt grüßen
Von Onkel Jodok weiß ich gar nichts, außer daß er der Onkel des Großvaters war. Ich weiß nicht, wie er aussah, ich weiß nicht, wo er wohnte und was er arbeitete. Ich kenne nur seinen Namen: Jodok. Und ich kenne sonst niemanden, der so heißt. Der Großvater begann seine Geschichten mit: »Als Onkel Jodok noch lebte« oder mit »Als ich den Onkel Jodok besuchte« oder »Als mir Onkel Jodok eine Maulgeige schenkte«.
Aber er erzählte nie von Onkel Jodok, sondern nur von der Zeit, in der Jodok noch lebte, von der Reise zu Jodok und von der Maulgeige von Jodok. Und wenn man ihn fragte: »Wer war Onkel Jodok?«, dann sagte er: »Ein gescheiter Mann.«
Die Großmutter jedenfalls kannte keinen solchen Onkel, und mein Vater mußte lachen, wenn er den Namen hörte. Und der Großvater wurde böse, wenn der Vater lachte, und dann sagte die Großmutter: »Ja, ja, der Jodok«, und der Großvater war zufrieden.
Lange Zeit glaubte ich, Onkel Jodok sei Förster gewesen, denn als ich einmal zum Großvater sagte: »Ich will Förster werden«, sagte er, »das würde den Onkel Jodok freuen«.
Aber als ich Lokomotivführer werden wollte, sagte er das auch, und auch als ich nichts werden wollte. Der Großvater sagte immer: »Das würde den Onkel Jodok freuen.«
Aber der Großvater war ein Lügner.
Ich hatte ihn zwar gern, aber er war in seinem langen Leben zum Lügner geworden.
Oft ging er zum Telefon, nahm den Höher, stellte eine Nummer ein und sagte ins Telefon: »Tag, Onkel Jodok, wie gehts denn, Onkel Jodok, nein, Onkel Jodok, ja doch, bestimmt, Onkel Jodok«, und wir wußten alle, daß er beim Sprechen die Gabel runterdrückte und nur so tat.
Und die Großmutter wußte es auch, aber sie rief trotzdem: »Laß jetzt das Telefonieren, das kommt zu teuer.« Und der Großvater sagte: »Ich muß jetzt Schluß machen, Onkel Jodok« und kam zurück und sagte: »Jodok läßt grüßen.«
ebte«, und jetzt sagte er schon: »Wir müssen Onkel Jodok mal besuchen.« Oder er sagte: »Onkel Jodok besucht uns bestimmt«, und er schlug sich dabei aufs Knie, aber das sah nicht überzeugend aus, und er merkte es und wurde still und ließ dann seinen Jodok für kurze Zeit sein.
Und wir atmeten auf.
Aber dann begann es wieder:
Jodok hat angerufen,
Jodok hat immer gesagt.
Jodok ist derselben Meinung.
Der trägt einen Hut wie Onkel Jodok.
Onkel Jodok geht gern spazieren.
Onkel Jodok erträgt jede Kälte.
Onkel Jodok liebt die Tiere liebt Onkel Jodok geht mit ihnen spazieren bei jeder Kälte geht Onkel Jodok mit den Tieren geht Onkel Jodok verträgt jede Kälte verträgt der Onkel Jodok d-e-r O-n-k-e-l J-o-d-o-k.
Und wenn wir, seine Enkel, zu ihm kamen, fragte er nicht: »Wieviel gibt zwei mal sieben«, oder: »Wie heißt die Hauptstadt von Island«, sondern: »Wie schreibt man Jodok?«
Jodok schreibt man mit einem langen J und ohne CK, und das Schlimme an Jodok waren die beiden O. Man konnte sie nicht mehr hören, den ganzen Tag in der Stube des Großvaters die O von Joodook.
Und der Großvater liebte die O von Jooodoook und sagte:
Onkel Jodok kocht große Bohnen.
Onkel Jodok lobt den Nordpol.
Onkel Jodok tobt froh.
Dann wurde es bald so schlimm, daß er alles mit 0 sagte: Onkel Jodok word ons bosochon, or ost on goschotor Monn, wor roson morgon zom Onkol.
Oder so:
Onkoljodok word
onsbosochon orost
ongoschotor mon
woroson mor
gonzomonkol.
Und die Leute füchteten sich mehr und mehr vor dem Großvater, und er begann jetzt sogar zu behaupten, er kenne keinen Jodok, habe nie einen gekannt. Wir hätten gefragt: »Wer war Onkel Jodok?«
Es hatte keinen Sinn, mit ihm zu streiten.
Es gab für ihn nichts anderes mehr als Jodok.
Bereits sagte er zum Briefträger: »Guten Tag, Herr Jodok«, dann nannte er mich Jodok und bald alle Leute.
Jodok war sein Kosename: »Mein lieber Jodok«, sein Schimpfwort: »Vermaledeiter Jodok«, und sein Fluch: »Zum Jodok noch mal.« Er sagte nicht mehr: »Ich habe Hunger«, er sagte: Ich habe Jodok«. Später sagte er auch nicht mehr »Ich«, dann hieß es »Jodok hat Jodok«.
Er nahm die Zeitung, schlug die Seite »Jodok und Jodok« – nämlich Unglück und Verbrechen – auf und begann vorzulesen: »Am Jodok ereignete sich auf der Jodok bei Jodok ein Jodok, der zwei Jodok forderte. Ein Jodok fuhr auf der Jodok von Jodok nach Jodok. Kurze Jodok später ereignete sich auf der Jodok von Jodok der Jodok mit einem Jodok. Der Jodok des Jodoks, Jodok Jodok, und sein Jodok, Jodok Jodok, waren auf dem Jodok tot.« Die Großmutter stopfte sich die Finger in die Ohren und rief: »Ich kann’s nicht mehr hören, ich ertrag es nicht.« Aber mein Großvater hörte nicht auf. Er hörte sein ganzes Leben nicht auf, und mein Großvater ist sehr alt geworden, und ich habe ihn sehr gern gehabt. Und wenn er zum Schluß auch nichts anderes mehr als Jodok sagte, haben wir zwei uns doch immer sehr gut verstanden. Ich war sehr jung und der Großvater sehr alt, er nahm mich auf die Knie und jodokte Jodok die Jodok vom Jodok Jodok – das heißt: »Er erzählte mir die Geschichte von Onkel Jodok«, und ich freute mich sehr über die Geschichte, und alle, die älter waren als ich, aber jünger als mein Großvater, verstanden nichts und wollten nicht, daß er mich auf die Knie nahm und als er starb, weinte ich sehr. Und ich habe allen Verwandten gesagt, daß man auf seinen Grabstein nicht Friedrich Glauser, sondern Jodok Jodok schreiben müsse, mein Großvater habe es so sehr gewünscht. Man hörte nicht auf mich, so sehr ich auch weinte.
Aber leider, leider ist diese Geschichte nicht wahr, und leider war mein Großvater kein Lügner, und er ist leider auch nicht alt geworden.
Ich war noch sehr klein, als er starb, und ich erinnere mich nur noch daran, wie er einmal sagte: »Als Onkel Jodok noch lebte«, und meine Großmutter, die ich nicht gern gehabt habe, schrie ihn schroff an: »Hör auf mit deinem Jodok«, und der Großvater wurde ganz still und traurig und entschuldigte sich dann.
Da bekam ich eine große Wut – es war die erste, an die ich mich noch erinnere – und ich rief: »Wenn ich einen Onkel Jodok hätte, ich würde von nichts anderem mehr sprechen!«
Und wenn das mein Großvater getan hätte, wäre er vielleicht älter geworden, und ich hätte heute noch einen Großvater, und wir würden uns gut verstehen.