Ich möchte nun am Beispiel der Einführung der sog. „Schuldenbremse“ versuchen, die Thesen einer postdemokratischen Entwicklung bzw. einer Selbstverbarrikadierung der Politik zu überprüfen. Das älteste und grundlegendste Recht des Parlaments, nämlich das Budgetrecht, haben die Parlamente selbst, wenn nicht ausgehebelt, so doch zumindest halbiert, nämlich durch die Verankerung der sog. „Schuldenbremse“ im Grundgesetz und teileweise auch in den Landesverfassungen.
Die Schuldenbremse heißt ganz praktisch, ein weitgehendes Verbot der Kreditfinanzierung von öffentlichen Staatsaufgaben.
Ich will nicht missverstanden werden, ich verteidige keineswegs hohe öffentliche Schulden, aber mit der „Schuldenbremse“ wurde ja kein Konzept zum Schuldenabbau vorgelegt, sondern eine bestimmte ökonomische Lehre, nämlich die „angebotsorientierte“ Wirtschaftstheorie quasi mit Verfassungsrang ausgestattet und eine verfassungsrechtliche Barrikade gegen eine alternative nachfrageorientierte Wirtschaftspolitik errichtet. Das Parlament, der Souverän beschnitt sich seiner finanzpolitischen Souveränität selbst. Von da an, wurde die „Alternativlosigkeit“ zum unüberwindbaren politischen Argument.
Konjunktursteuerende finanzpolitische Maßnahmen wurden damit weitgehend unmöglich gemacht. D.h. eine keynesianische Wirtschaftspolitik (antizyklische Fiskalpolitik), also eine Erhöhung des realen Sozialprodukts durch Staatsausgabensteigerungen in einer Rezessionsphase wurde auf ein Minimum begrenzt.
An der Einführung und Verankerung der „Schuldenbremse“ in der Verfassung lassen sich die allgemeinen Beschreibungen von Colin Crouch wie durch ein Brennglas betrachten. Nämlichwie nationalstaatliche Gesellschaften unter den Einfluss der global agierenden Konzerne geraten, wie mächtige wirtschaftliche Akteure und ihre Lobbyisten die wichtigsten politischen Entscheidungen monopolisieren, es zu einer asymmetrischen Begünstigung der Interessen der Kapitalanleger kommt, wie demokratische Institutionen einen Deckmantel für eine undemokratische Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung abgeben und vor allem wie mächtige Interessengruppen, das politische System für die eigenen Ziele einspannen in dem sie die das Denken der Menschen lenken und manipulieren. (Crouch, a.a.O.,S.30)
Ein Grund dafür, dass das gelingen kann, ist, dass die politisch relevanten Themen in den Medien von einer sehr „kleine(n) Zahl außerordentlich reicher Individuen“ (Crouch, a.a.O., S.68) kontrolliert wird, schreibt Crouch.
Doch der Reihe nach:
Die Hypothese einer postdemokratischen Entwicklung kann nur verstanden werden, wenn die wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Veränderungen der letzten Jahrzehnte in den Denk-Kontext genommen werden. Deswegen erlauben Sie mir einen knappen und zugespitzten Rückblick:
Mit den beiden Ölpreis-Krisen 1973 und 1979 ging in Kontinentaleuropa und vor allem in Deutschland ein Leitbildwechsel der Wirtschafts- und Finanzpolitik einher.
Der Keynesianismus, eine in der Nachkriegsphase herrschende und auch praktizierte ökonomische Lehre, wonach – verkürzt gesagt – die Nachfrage der entscheidende Einflussfaktor für die Produktion und die Beschäftigung ist und – unter der Annahme eines grundsätzlich instabilen Marktes – dem Staat bei der Steuerung der Nachfrage eine aktive Rolle in der Konjunkturpolitik zukommt, verlor seine Strahlkraft und seine wirtschaftspolitische Dominanz in Kontinental-Europa.
Mit dem Schlagwort „Globalisierung“ als politischem Hebel setzte sich eine „angebotsorientierte“ ökonomische Lehre durch, wonach im internationalen „Standortwettbewerb“ vor allem die Kosten der Angebotsseite der Wirtschaft über Wachstum und Beschäftigung entscheiden. Crouch nennt den Begriff Globalisierung ein „weitgehend unhinterfragtes Klischee“ (a.a.O., S.46) und sieht darin eher eine Verschleierung der Tatsache, dass die globalen Unternehmen und Finanzstrukturen den nationalstaatlich organisierten Demokratien ihre Interessen aufzwingen wollen.
Hinter der „Globalisierung“ steckte etwa konkret die Drohung mit Kapitalflucht und Standortverlagerung von Unternehmen ins Ausland, sofern nicht die Lohnkosten, die Steuern und die Abgaben im Inland gesenkt würden. Wie sagte doch der Chef von Volvo in den 80-er Jahre: Schweden braucht Volvo, aber Volvo braucht Schweden nicht. Jetzt wo Deutschland mit seinen riesigen Exportüberschüssen in der Kritik steht, hört man von der Verlagerung von Arbeitsplätzen nicht mehr so viel. Im Gegenteil, wir haben vor allem unseren europäischen Nachbarn durch deren Leistungsbilanzdefizite Arbeitsplätze genommen.
Auf finanzpolitische staatliche Interventionen in den Wirtschaftsprozess soll nach dieser Auffassung weitestgehend verzichtet werden. „Starve the Beast“ oder „hungert den Staat aus“ war der Schlachtruf des Thatcherismus und der Reaganomics. Bei uns plädierte etwa der „Vater der Wirtschaftsweisen“ Herbert Giersch für eine bewusste Schaffung von Sachzwängen durch das „Abmagern des Staates“. Der Bertelsmann-Patriarch Reinhard Mohn jubelte 1996 in einem Stern-Interview: “Es ist ein Segen, dass uns das Geld ausgeht. Anders kriegen wir das notwendige Umdenken nicht in Gang.”
Mit dem sog. Lambsdorff-Papier, dem „Scheidebrief“ für die sozial-liberale Koalition im Jahre 1982 wurde der Grundkonsens einer Sozialen Marktwirtschaft als Errungenschaft eines europäischen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells – in Deutschland auch „rheinischer Kapitalismus“ genannt – aufgekündigt. An dessen Stelle trat das Credo: Der Markt kann alles besser als der Staat, der freie, möglichst unregulierte Wettbewerb ist das beste und effizienteste Steuerinstrument auf allen Politikfeldern, Privatisierung, Deregulierung, Flexibilisierung wurden zu leitenden politischen Parolen. Um die Angebotsseite, also die Unternehmensseite zu stärken, sollen die Löhne, die Sozialabgaben und die Unternehmenssteuern gesenkt werden.
Darunter muss notwendiger Weise auch der Sozialstaat, der den größten Anteil im öffentlichen Haushalt ausmacht, leiden.
Natürlich gibt es wissenschaftliche Differenzierungen innerhalb dieser Glaubenslehre, in ihrer Grundrichtung wird sie auch unter dem Begriff „Neoliberalismus“ zusammengefasst.
Der einzelwirtschaftlich Betrachtungshorizont drang auf alle Politikfelder vor, in die Sozialpolitik (z.B. die Abgaben für die sozialen Sicherungssysteme wurden zu sog. Lohnnebenkosten), in die Wissenschaftspolitik (Stichwort: „unternehmerische Hochschule“), das New Public Management hielt auch in der Kulturpolitik, ja sogar in die Kirchen Einzug.
Mit der „Ökumenische Sozialinitiative“ unter dem Titel „Gemeinsame Verantwortung für eine gerechte Gesellschaft“ vom Frühjahr dieses Jahres haben auch die beiden Kirchenleitungen ihren Frieden mit den neoliberalen Reformen geschlossen. Wirtschaftliches Handeln und soziales Leben würden von den „Triebkräften der Globalisierung“ bestimmt (S. 7). Ein „dramatischer demografischer Wandel“ stelle „unsere sozialen Sicherungssysteme auf eine große Belastungsprobe“ (S. 9). Die „Generationengerechtigkeit“ würde in Zukunft eine wichtige Dringlichkeit bekommen (S. 21). Es wird die Standortdebatte und die Wettbewerbsideologie nachgebetet, wonach „die Nationalstaaten im internationalen Wettbewerb“ stünden (S. 7). Usw. usf.
Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung nannte diesen Prozess in seinem Büchlein „Kein schöner Land“ eine „Verbetriebswirtschaftlichung“ der Gesellschaft.
Es ist nur logisch, dass eine Lehre, die den Staat als aktiven Akteur in der Wirtschaft zurückdrängen will, nicht nur auf Steuersenkungen – natürlich vor allem für die Unternehmen – drängt, sondern darüberhinaus dem Staat finanzpolitische Fesseln anlegen will. Eine „Schuldenbremse“ ist dabei ein effektives Mittel. Die Eindimensionalität der ökonomischen Denkwelt der sprichwörtlichen „schwäbischen Hausfrau“ ist zum herrschenden Weltbild der gesellschaftlichen Eliten geworden.
Die Ergebnisse dieses Leitbildwechsels im Verlauf der letzten drei Dekaden kennen Sie alle: Shareholder Value, der Finanzmarkt als Casino, Schwächung der Gewerkschaften, Stagnation der Reallöhne seit den 90-iger Jahren, Teilprivatisierung der Altersvorsorge, Selbstbeteiligung an den Gesundheitskosten, Zerstörung der Arbeitslosenversicherung durch den Absturz in die Sozialfürsorge von Hartz IV in der Regel nach einem Jahr Arbeitslosigkeit , 43 Prozent atypische Beschäftigung mit Teilzeit, Leiharbeit und Minijobs, Ausbreitung des Niedriglohnsektors, zunehmende Spaltung der Gesellschaft in arm und reich.
Wer einer großen Zahl, ja sogar der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger solche Opfer abverlangt, muss, um Loyalität zu gewährleisten, die öffentliche Meinung in seinem Sinne prägen.
Wie diese Demokratie „von oben“ funktioniert lässt sich gleichfalls an der Einführung der Schuldenbremse gut demonstrieren.
Die „Schuldenbremse“ wurde 2009 sowohl im Bundesrat als auch im Bundestag mit der verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit beschlossen. Art. 109 und Art. 115 GG wurden geändert und traten mit dem Haushaltsjahr 2011 in Kraft. Durch Neuregelung wird das Ziel angestrebt, die Nettokreditaufnahme des Bundes auf maximal 0,35% des BIP zu begrenzen und ab dem Jahr 2016 einen ausgeglichenen Haushalt vorzulegen. (Länder 2020)
Das Vorhaben war zu Beginn der Debatte heftig umstritten, doch dann kam die Finanzkrise. Die staatliche Verschuldung stieg 2009 auf 74,5% gemessen am Bruttoinlandprodukt.
Damit wurde die politische Barriere von 60%, die schon der Vertrag von Maastricht aufstellte, klar gerissen. In ihrer Neujahrsansprache für das Jaher 2009 mahnte die Kanzlerin, dass „wir über unsere Verhältnisse“ lebten. Die Arbeitgeberlobby, die schon immer den Staat zurückschneiden wollte, startete eine regelrechte Kampagne für eine „Schuldenbremse“. „Wer Staatsausgaben kürzt, wird mit Wachstum und Arbeitsplätzen belohnt“. Angeblich würden die Finanzierungskosten für die Unternehmen steigen, weil sich der Staat immer mehr Geld auf dem Kapitalmarkt leihe. Staatsschulden führten zu einem Vertrauensverlust der Anleger. So oder so ähnlich lauteten die Parolen.
Einer der lautstarksten Protagonisten für die „Schuldenbremse“ war die vom Arbeitgeberverband der Metall- und Elektroindustrie mit jährlich mit bis zu 10 Millionen Euro ausgestattete PR-Agentur „Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft“ (INSM). In kaum einer Talk-Show fehlte einer ihrer Botschafter oder Kuratoren[1], die dort natürlich nicht als Lobbyisten, sondern als „Experten“ vorgestellt wurden. Von der Bild-Zeitung, über die marktliberalen Wirtschaftsredaktionen von FAZ, Süddeutsche Zeitung und schon gar von den konservativen Blättern des Springer-Konzerns haben schließlich nahezu alle Leitmedien für die „Schuldenbremse“ Stimmung gemacht.
Kritische Stimmen, wie etwa das Mitglied des Sachverständigenrats Peter Bofinger wurden in den Medien allenfalls am Rande erwähnt. Bofingers Warnung, „Die Schuldenbremse gefährdet die gesamtwirtschaftliche Stabilität und die Zukunft unserer Kinder“, wurde nicht mehr gehört. Man kann so weit gehen und sagen, dass im gesamten politischen Entscheidungsprozess keine Auseinandersetzung oder keine Debatte über Positionen stattfand, die dem neoliberalen Standpunkt widersprachen. Crouch spricht von einem „Verfall der Kommunikationsmöglichkeiten“.
Kaum jemand fragte noch danach, wie es zu diesem Schuldenanstieg tatsächlich gekommen ist. Nach Angaben der Deutschen Bundesbank vom April 2010 waren bis Ende 2009 für die Rettung der Banken (IKB, Commerzbank, HRE, etc.) in den Jahren 2008 und 2009 schon Stützungskosten in Höhe von 98 Milliarden Euro angefallen. Die Ausgaben des Bundes für die im Kampf gegen die Finanzkrise geschnürten Konjunkturpakete hatten ein Volumen von 62 Milliarden Euro.
Es ist ein schlagendes Beispiel für eine gelungene Gehirnwäsche, dass nahezu in der gesamten veröffentlichten Meinung, die „Finanzkrise“ und deren Belastungen für die öffentlichen Haushalte in eine „Staatsschuldenkrise“ umgedeutet werden konnte.
Das ist geradezu absurd.
Der Kapitalismus wäre doch vor die Wand gefahren – wenn ihn die Staaten nicht gerettet hätten. Als wäre ein kompletter Gedächtnisverlust eingetreten, waren plötzlich nicht mehr die Banker oder das Finanzkasino in der Kritik, sondern der Staat und die Politik wurden als die Bösen abgestempelt und nicht zuletzt „Wir“, weil „wir“ angeblich „über unsere Verhältnisse gelebt“ hätten. Statt dass die Politik die Spekulanten abstrafte, straften die Finanzmärkte die Regierungen ab, weil sie „schlecht gewirtschaftet“ hätten.
Aus einer Bankenkrise wurde eine Staatsschuldenkrise. Weil die Staaten den Banken ihre Schulden abgenommen haben. Weil der konjunkturelle Einbruch Milliarden an Steuerausfällen nach sich zog. Und weil die Rezession mit milliardenschweren Konjunkturprogrammen bekämpft werden musste.
Die Umdeutung der Finanzkrise in eine Staatsschuldenkrise, war einer der wichtigsten Hebel, die Schuldenbremse in den Verfassungsrang zu heben.
Mit der Schuldenbremse zahlen letztlich die Steuerzahler die staatliche Verschuldung durch die Finanzkrise ab, sei es durch ihre Steuern, sei es durch Einsparungen bei den Sozialleistungen.
Nebenbei bemerkt, der Umgang mit der Finanzkrise zeigt, wie unerschütterlich der Glaube an die heilbringende Funktion der Märkte ist:
Da hat die Finanzkrise ein eklatantes Versagen „der Märkte“ mit katastrophalen Folgen erwiesen, aber der Politik ging es bei der Krisenbewältigung nur um ein Ziel, nämlich das „Vertrauen der Märkte“ zurückzugewinnen.
Die anonymen, angeblich objektiven, effizienten oder alternativlosen „Märkte“ wurden sofort wieder zur höchsten Instanz erhoben worden: Was kein Parlament schafft, die „Märkte“ schafften es: Sie trieben Regierungschefs aus ihren Ämtern, und setzen ihnen genehme Regierungen ein, sie zwingen Parlamenten drastische Sparbeschlüsse auf, die nicht nur die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verarmen, sondern – noch viel schlimmer – ganze Volkswirtschaften gegen die Wand fahren lassen.
Angela Merkel spricht ganz offen von „marktkonformer Demokratie“ und meint damit nichts anderes, als dass die Politik das zu exekutieren hat, was die „Finanzmärkte“ angeblich verlangen.
Die politische Durchsetzung der „Schuldengrenze“ ist ein Paradebeispiel, wie mächtige wirtschaftliche Interessengruppen, die Politik für ihre instrumentalisieren und die Bürgerinnen und Bürger beeinflussen, ja man muss es sogar manipulieren nennen. Die Logik dieser Politik beruht auf Lobbyarbeit, die nötigen Ressourcen und Macht und nicht auf der klügeren Argumentation (so Crouch in der taz – Nur die Reichen können es sich leisten, Politik auf diese Weise zu „kaufen“ meint Colin Crouch)
Der Neoliberalismus setzt bei weitem nicht so sehr auf freie Marktwirtschaft setzt, wie es seine Theorie behauptet. Stattdessen beruht er auf dem politischen Einfluss von Großkonzernen und Banken (Colin Crouch in Blätter für deutsche und internationale Politik).
„Der Neoliberalismus ist ein Phänomen der großen internationalen Konzerne. Die List ist, dass sie den freien Markt propagieren, aber gleichzeitig diesen Markt beherrschen, so dass es keinen freien Markt gibt. Die großen Konzerne haben eine starke Verbindung zu der Politik, was ja ganz marktwidrig ist. Das ist die Lüge.“)