AW: Persönliche Gedanken zu den Tageslosungen
Das Urteil des Beit Din
In einer kleinen Stadt nicht weit von Lublin in Polen lebte ein einfacher, aber reicher Jude. Er hatte ein gutes Herz und war immer bereit, anderen zu helfen und die Mizwot zu befolgen, so gut er konnte. Einmal im Jahr reiste Judel zum Zadik von Lublin. Dieser eine Besuch inspirierte ihn und trug ihn durch das ganze Jahr. Nie reiste er mit leeren Händen; er brachte immer eine große Spende mit, damit der Zadik sie unter bedürftigen Juden verteilte.
Einmal jedoch lief sein Geschäft schlecht. Er erlitt einen Verlust nach dem anderen und war bald arm. Da er sich schämte, andere um Hilfe zu bitten, übernahm er jede Arbeit, die er fand. Doch trotz seiner Mühe gelang es ihm kaum, seine Familie zu ernähren.
Eines Tages stand er auf dem Marktplatz und hoffte, Arbeit zu finden. Da kam ein Priester vorbei und sagte: „Es tut mir Leid, dich in einer so schlimmen Lage zu sehen. Vor kurzem warst du reich, und jetzt das ... Ich möchte dir helfen. Komm zu mir, und ich verspreche dir Arbeit.“
Zuerst wollte Judel nichts mit dem Priester zu tun haben. Doch als er stundenlang dagestanden und keine Arbeit bekommen hatte, beschloss er, das Angebot anzunehmen. Der Priester begrüßte ihn herzlich. „Schade, dass du Jude bist“, sagte er. „Was nützt dein Glaube, wenn dein G-tt dich verlassen hat? Tritt zu meiner Religion über, und ich verspreche dir ein gutes, leichtes Leben.“ Judel erklärte sich bereit, ein paar Tage darüber nachzudenken. Es war gewiss nicht schlimm, so zu tun, als wolle er Christ sein, und dennoch Jude zu bleiben. G-tt würde ihn bestimmt verstehen.
Als Judel seiner Frau von diesem Plan erzählte, war sie entsetzt und riet ihm, sich vom Zadik in Lublin beraten zu lassen. Der Zadik versicherte ihm, eine Konversion werde seine Lage nur verschlimmern. Doch als Judel darauf beharrte, G-tt habe ihn verlassen, riet ihm der Zadik, G-tt anzuhören. „Ich werde einen Beit Din (rabbinisches Gericht) einberufen, um deine Klage zu erörtern, und ich garantiere dir ein gerechtes Verfahren.“
Judel stimmte zu, und der Zadik ernannte drei ältere Juden als Richter. Nachdem sie Judels Klage gehört hatten, fragten sie ihn, ob er bereit sei, G-tt zu vergeben, wenn G-tt ihm vergebe. Judel erklärte, er werde G-tt mit Freude verzeihen, wenn er sein Vermögen zurückbekomme.
Daraufhin verkündeten die Richter das Urteil: G-tt müsse Judels Vermögen zurückgeben, sofern Judel seine Fehler bereue und jeden Tag und jeden Abend etwas Zeit für das Studium der Torah opfere. Das Urteil wurde niedergeschrieben, unterzeichnet und versiegelt. Den Parteien wurden 30 Tage eingeräumt, um die Anordnungen zu befolgen.
Judel ging wieder auf den Marktplatz, um nach Arbeit zu suchen. Da er nichts fand, ging er zum Bahnhof und arbeitet als Träger. Am 30. Tag sah er einen reichen Adligen, der einen riesigen Koffer aus dem Zug schob. „Hilf mir“, rief der Reiche ihm zu. Und Judel half dem Mann, der eine Verabredung hatte. „Warte hier und bewache meinen Koffer“, sagte der Adlige und ging.
Stunden vergingen. Judel beschloss, den Koffer mit nach Hause zu nehmen und den Eigentümer später zu suchen. Irgendwie schaffte er es, den schweren Koffer auf die Schulter zu heben und nach Hause zu gehen. Kaum war er im Hof, glitt der Koffer von seinen Schultern und öffnete sich. Zahlreiche Gold- und Silbermünzen fielen heraus! Judel lief zurück zum Bahnhof, wo er erfuhr, dass der mysteriöse Reisende nicht zurückgekehrt war. Niemand hatte etwas von ihm gehört oder gesehen. Jetzt dämmerte ihm, dass G-tt ihm diesen Schatz gesandt hatte, um seinen Teil des Urteils zu erfüllen. Sogleich eilte er zum Zadik von Lublin.
„War genug Gold im Koffer, um dich so reich wie früher zu machen?“, fragte der Zadik. „Mindestens so reich, wenn nicht noch reicher“, versicherte Judel. „Dann behalte es. Genieße es bei guter Gesundheit, und achte darauf, deine Verpflichtung gegenüber dem Beit Din einzuhalten“, empfahl ihm der Zadik. Judel wurde wieder ein reicher Mann und klagte nicht mehr über G-tt. Und er hoffte, dass G-tt sich über ihn ebenfalls nicht beklagen konnte.