eric_flausen
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Das formbare Gehirn
Daß Menschen freiwillig Chilies verzehren ist bemerkenswert. Kein Tier würde je eine Speise anrühren, die Schmerzen erzeugt. In Mexiko verhungern Ratten lieber, als sich scharfe Speisereste aus den Mülltonnen zu holen. Menschen und die Gefühle hingegen sind flexibel: Wir können lernen, uns an etwas zu erfreuen, was uns vorher zuwider war.
Chili ist „die einzige essbare Frucht, die zurückbeißt“, so drückte es ein indischer Schriftsteller aus. Die Pfefferschote reizt die Schleimhäute und greift die Nervenrezeptoren an, die sonst nur auf Hitze ansprechen. Darum der brennende Schmerz. Doch mehr als eine Milliarde Menschen genießt genau dieses Gefühl. Mexikaner, Inder und Thais geben gemahlene Pfefferschoten nicht messerspitzen-, sondern löffelweise ins Essen. Wer also Chilies mag, hat gelernt, diesen Schmerz zu lieben.
Kaum etwas ist so tief in unsere Gehirne einprogrammiert, wie Freude am Süßen und die Abneigung gegen Bitteres. Diese Vorlieben teilen wir mit Mäusen, Katzen und Affen, denn sie ist ein Erbe der Evolution. Alle Versuche, Tieren den Widerwillen gegen scharfes Futter abzudressieren scheiterten. Menschen sind flexibel, sie können lieben lernen, was ihnen vorher zuwider war. Dabei wird das Gehirn umprogrammiert, die Verdrahtung ändert sich. Daß dies so möglich ist, haben Wissenschaftler noch vor Kurzem nicht geglaubt.
Die Welt entsteht im Kopf
Man hat geglaubt, dass die komplizierte Gehirnstruktur bei der Geburt festgelegt wird und sich im Laufe des Lebens kaum mehr ändert. Aber das ist falsch. In Wahrheit ist unser Gehirn so wandlungsfähig wie kein anderes System, das die Natur hervorgebracht hat.
Wer nicht unter dem Schmerz von Chilies im Mund leiden will, kann entweder allzu scharfe Speisen meiden oder das Brennen auf der Zunge geniessen lernen. Wir können also nicht nur die Reize ändern (z.B. unsere Lebensbedingungen), sondern auch die Art, wie unser Gehirn darauf reagiert. Unser Hirn ist ein Organ, das sich zum größten Teil mit sich selbst beschäftigt; Empfindungen sind zum größten Teil hausgemacht. Auf dieser Erkenntnis beruhen die bewährtesten Verfahren der Psychotherapie.
Besonders die Verhaltenstherapie setzt darauf, Patienten durch Übungen beizubringen, auf eine Situation mit anderen Emotionen zu antworten. Ziel ist meistens negative Emotionen zu bändigen, wie die Angst vor Spinnen. Ähnliche Methoden lassen sich aber auch nutzen, um die guten Gefühle zu stärken. Schaltungen im Kopf sind so eng miteinander verknüpft, daß Ereignisse wieder auf sich selbst zurückwirken können. Es kommt eine Aufwärtsspirale in Gang, die das Gehirn zunehmend verändert: Wir lernen gute Gefühle.
Mir ging es z.B. so, dass ich Hummer nicht essen konnte. Mir wurde alleine vom Geruch übel. Ich habe angefangen, mal einen Löffel Hummersuppe runterzuwürgen. Ich war glücklich, als ich drei Löffel Hummersuppe schaffte, ohne dass mir davon übel wurde. Nachdem ich dann mal einen ganzen Teller schaffte, begann ich den Geruch und den intensiven Geschmack zu mögen. Heute läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an Hummer denke.
Die Welt, wie wir sie wahrnehmen entsteht in unserm Kopf: Wenn wir einen Apfel essen, spüren wir sein köstliches Aroma auf der Zunge. Tatsächlich können wir aber mit zugehaltener Nase und verbundenen Augen beim Hineinbeißen eine rohe Kartoffel kaum von einem Apfel unterschieden.
Das Gehirn neu verdrahten
Im Gehirn fügt sich zusammen was zusammengehört. Damit man sich nicht mehr an einer heißen Herdplatte verbrennt, ist eine Verbindung zwischen „Herd“ und „heiß“ entstanden. Pawlow hat 1904 den Nobelpreis dafür erhalten, weil er ein Metronom ticken ließ, wenn Hunde ihr Fressen bekamen. Nach einer Weile lief den Hunden der Speichel aus dem Mund und der Magen begann zu arbeiten, wenn die Hunde nur ein Metronom hörten und es gar kein Fressen gab. Es ist die Verbindung „Metronom“ und „Fleisch“ entstanden. Dieser Aufbau von Verknüpfungen heißt Lernen, Hunderte von Verknüpfungen verändern sich ständig. Wenn Du diesen Artikel gelesen hast, sieht Dein Gehirn anders aus als vorher. Innerhalb kürzester Zeit wachsen an den Nervenzellen Knubbel und neue Synapsen entstehen. Je nachdem, um was es sich dreht, geschieht dies automatisch oder durch Wiederholungen (durch Lernen).
Auch Gefühle hinterlassen ihre Spuren im Gehirn. So wie ein Tropfen Wasser keine große Bedeutung hat, aber ein stetiges Tropfen einen Stein aushöhlen kann, so graben sich mit der Zeit Strukturen in das Hirn: Fröhlichkeit kann zur Gewohnheit werden, Missmut ebenso. Wer Wut seinen freien Lauf lässt, wird nächstes Mal noch wütender reagieren. Wer sich in Selbstbeherrschung übt, reagiert zukünftig gelassener und negative Emotionen entstehen dann erst gar nicht. Solch ein Training verändert das Gehirn und der Umgang mit den eigenen Gefühlen fällt allmählich leichter.
Alles im Fluß
Die antiken Philosophen betrieben regelrechte Glücksschulen: Unglück kontrollieren und Glück lernen. „Askesis“ nannten die Philosophen des antiken Griechenlands dies. Auf Altgriechisch heißt „akesis“ einfach nur „Übung“. „Alles ist Übung“ soll schon Periandros gesagt haben, der im siebenten Jahrhundert vor Christus zu den ersten bekannten Philosophen überhaupt zählte. Heute denken wir bei Askese meist an Abtötung der eigenen Person und haben Bilder von Fastenden im Auge. Doch diese Bedeutung dieses Wortes ist erst im Mittelalter entstanden. Askesis, Training, Wiederholungen, das ist eines der Geheimnisse: Üben, gute Gefühle zu erleben und schlechte zu vermeiden.
Wie schnell Gewohnheiten ganze Bereiche des Gehirns verändern können, zeigt das Beispiel von Blinden: Weil Blinde mit dem Zeigefinger die Blindenschrift lesen, ist im Gehirn deutlich mehr Platz für den Tastsinn des Zeigefingers, als bei Sehenden. Man hat beobachtet, dass diese Veränderung innerhalb weniger Stunden geschieht. Haben die Blinden ein paar Tage nicht mehr gelesen, schrumpfen diese Bereiche für den Zeigefinger wieder.
Daß sich ganze Hirnreale so rasch umformen ist ein ganz alltäglicher Affekt. Allerdings sind nicht alle Systeme im Gehirn so flexibel wie der Bereich für den Tastsinn. Manche brauchen Wochen oder gar Jahre und manche Hirnbereiche sind unveränderbar, die nur in bestimmten Lebensbereichen wie in der Kindheit festgelegt werden.
Der Jungbrunnen im Kopf
Der Umbau im Gehirn erfolgt in mehreren Schritten. Für eine Langzeitverknüpfung ist es notwendig, dass gleiche Reize öfters auftreten. Mithilfe der Botenstoffe Serotonin und Dopamin (Hormone) wird eine feste langandauernde Verknüpfung erzeugt. Interessant dabei ist, dass es die gleichen Botenstoffe sind, die wesentlich für die guten Gefühle verantwortlich sind. Dieselben Substanzen, die also eine Schlüsselrolle beim Umbau des Gehirns haben, lassen uns auch Lust, Genuss und Sympathie erleben. Regelmäßig etwas tun, bewegen und lernen verändert unser Gehirn und erzeugt dazu Substanzen, um sich gut zu fühlen.
Aber noch etwas kommt hinzu: Diese Botenstoffe sind auch Nahrung, ohne sie sterben die Hirnzellen ab. Sind wir niedergeschlagen, sinkt der Serotoninspiegel; bei Depressionen sterben Hirnzellen. Umgekehrt halten positive Emotionen das Gehirn lebendig, weil damit reichlich der Botenstoffe Serotonin und Dopamin im Kopf zirkulieren und sich damit leichter neue Verknüpfungen aufbauen. Glück ist folglich ein Jungbrunnen für das Gehirn.
Verknüpfungen, die wenig aktiv sind, bekommen auch wenig Nahrung. Die untätigen Leitungen im Gehirn verschwinden allmählich. Talente, die wir nicht fordern, verkümmern. Das gilt für alle Leistungen des Gehirns: Gelernte Fremdsprachen oder unsere Wahrnehmung, so wie die Fähigkeit glücklich zu sein. Also kann und muß Glück ständig trainiert werden. Es gibt nur wenige Funktionen, die im Erwachsenenalter nicht mehr zu beeinflussen sind. Also können auch Erwachsene noch sehr gut den Umgang mit ihren Gefühlen lernen.
Man nimmt an, dass auch das Bewusstsein einen großen Einfluß darauf hat, wie Emotionen das Gehirn formen. Auch gute Gefühle entfalten wahrscheinlich eine umso stärkere Wirkung, je mehr wir uns bewusst mit den Emotionen befassen. Im Ergebnis stimmen die Philosophie des Ostens und die moderne Neurowissenschaft überein, dass unbewusste Emotionen eine große Bedeutung haben und der Geist durch bewusste Erfahrung geformt wird: Emotionen sind unbewusste Zustände des Organismus, Gefühle deren bewusste Wahrnehmung.
Der Wille zum Glück
Zu einer klugen Lebensführung ist nur fähig, wer seine Emotionen wahrnehmen, steuern und voraussehen kann. Glücksgefühle sind kein Zufälle, sondern die Folge der richtigen Gedanken und Handlungen. Das ist die Auffassung sowohl der antike Philosophie, als auch der modernen Neurowissenschaft, die beide an ein strenges Prinzip von Ursache und Wirkung glauben.
Unser gewohntes westliches Denken betont oft den Wert der richtigen Entscheidung: Wenn wir uns an den Scheidewegen unseres Daseins richtig handelten (z.B. einen neuen Lebenspartner haben), dann würde sich vieles zum Besseren wenden. Das ist falsch. Es kommt mehr darauf an, dass wir gute Gewohnheiten in uns verankern, weil diese die Seele formen.
Unser Augenmerk sollte also nicht in erster Linie darauf liegen, die Umstände zu ändern, sondern uns selbst. Alles weitere ergibt sich dann daraus, weil wir mit einer zum Glück bereiten Seele auch die äußeren Umstände besser im Griff haben oder besser verändern können.
Unsere Wahrnehmung vom Glück hängt weitaus mehr von der Weise ab, wie unser Gehirn empfindet, als von den äußeren Umständen. Aber, einmalige Anstrengungen genügen nicht, um diese Empfindungsweise zu ändern. Ist es nicht erstaunlich, dass wir bereit sind, viel für äußeren Umstände zu tun (Status, Karriere, Kinder etc.)? Doch wenn es darum geht, unsere Tage glücklicher zu erleben, sind wir mit unserer Energie seltsam knauserig.
Fußnote
Mit diesem Kapitel 4 ist der erste Teil „Was ist Glück“ abgeschlossen. Mit Kapitel 5 beginnt der Teil 2 „Die Leidenschaften“. Literatur: „Die Glücksformel“ von Stefan Klein mit den aktuellen Erkenntnissen aus den Wissenschaftslabors dieser Welt. Stefan Klein studierte Physik und Philosophie und promovierte über Biophysik. 1998 erhielt er den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus
Daß Menschen freiwillig Chilies verzehren ist bemerkenswert. Kein Tier würde je eine Speise anrühren, die Schmerzen erzeugt. In Mexiko verhungern Ratten lieber, als sich scharfe Speisereste aus den Mülltonnen zu holen. Menschen und die Gefühle hingegen sind flexibel: Wir können lernen, uns an etwas zu erfreuen, was uns vorher zuwider war.
Chili ist „die einzige essbare Frucht, die zurückbeißt“, so drückte es ein indischer Schriftsteller aus. Die Pfefferschote reizt die Schleimhäute und greift die Nervenrezeptoren an, die sonst nur auf Hitze ansprechen. Darum der brennende Schmerz. Doch mehr als eine Milliarde Menschen genießt genau dieses Gefühl. Mexikaner, Inder und Thais geben gemahlene Pfefferschoten nicht messerspitzen-, sondern löffelweise ins Essen. Wer also Chilies mag, hat gelernt, diesen Schmerz zu lieben.
Kaum etwas ist so tief in unsere Gehirne einprogrammiert, wie Freude am Süßen und die Abneigung gegen Bitteres. Diese Vorlieben teilen wir mit Mäusen, Katzen und Affen, denn sie ist ein Erbe der Evolution. Alle Versuche, Tieren den Widerwillen gegen scharfes Futter abzudressieren scheiterten. Menschen sind flexibel, sie können lieben lernen, was ihnen vorher zuwider war. Dabei wird das Gehirn umprogrammiert, die Verdrahtung ändert sich. Daß dies so möglich ist, haben Wissenschaftler noch vor Kurzem nicht geglaubt.
Die Welt entsteht im Kopf
Man hat geglaubt, dass die komplizierte Gehirnstruktur bei der Geburt festgelegt wird und sich im Laufe des Lebens kaum mehr ändert. Aber das ist falsch. In Wahrheit ist unser Gehirn so wandlungsfähig wie kein anderes System, das die Natur hervorgebracht hat.
Wer nicht unter dem Schmerz von Chilies im Mund leiden will, kann entweder allzu scharfe Speisen meiden oder das Brennen auf der Zunge geniessen lernen. Wir können also nicht nur die Reize ändern (z.B. unsere Lebensbedingungen), sondern auch die Art, wie unser Gehirn darauf reagiert. Unser Hirn ist ein Organ, das sich zum größten Teil mit sich selbst beschäftigt; Empfindungen sind zum größten Teil hausgemacht. Auf dieser Erkenntnis beruhen die bewährtesten Verfahren der Psychotherapie.
Besonders die Verhaltenstherapie setzt darauf, Patienten durch Übungen beizubringen, auf eine Situation mit anderen Emotionen zu antworten. Ziel ist meistens negative Emotionen zu bändigen, wie die Angst vor Spinnen. Ähnliche Methoden lassen sich aber auch nutzen, um die guten Gefühle zu stärken. Schaltungen im Kopf sind so eng miteinander verknüpft, daß Ereignisse wieder auf sich selbst zurückwirken können. Es kommt eine Aufwärtsspirale in Gang, die das Gehirn zunehmend verändert: Wir lernen gute Gefühle.
Mir ging es z.B. so, dass ich Hummer nicht essen konnte. Mir wurde alleine vom Geruch übel. Ich habe angefangen, mal einen Löffel Hummersuppe runterzuwürgen. Ich war glücklich, als ich drei Löffel Hummersuppe schaffte, ohne dass mir davon übel wurde. Nachdem ich dann mal einen ganzen Teller schaffte, begann ich den Geruch und den intensiven Geschmack zu mögen. Heute läuft mir das Wasser im Mund zusammen, wenn ich an Hummer denke.
Die Welt, wie wir sie wahrnehmen entsteht in unserm Kopf: Wenn wir einen Apfel essen, spüren wir sein köstliches Aroma auf der Zunge. Tatsächlich können wir aber mit zugehaltener Nase und verbundenen Augen beim Hineinbeißen eine rohe Kartoffel kaum von einem Apfel unterschieden.
Das Gehirn neu verdrahten
Im Gehirn fügt sich zusammen was zusammengehört. Damit man sich nicht mehr an einer heißen Herdplatte verbrennt, ist eine Verbindung zwischen „Herd“ und „heiß“ entstanden. Pawlow hat 1904 den Nobelpreis dafür erhalten, weil er ein Metronom ticken ließ, wenn Hunde ihr Fressen bekamen. Nach einer Weile lief den Hunden der Speichel aus dem Mund und der Magen begann zu arbeiten, wenn die Hunde nur ein Metronom hörten und es gar kein Fressen gab. Es ist die Verbindung „Metronom“ und „Fleisch“ entstanden. Dieser Aufbau von Verknüpfungen heißt Lernen, Hunderte von Verknüpfungen verändern sich ständig. Wenn Du diesen Artikel gelesen hast, sieht Dein Gehirn anders aus als vorher. Innerhalb kürzester Zeit wachsen an den Nervenzellen Knubbel und neue Synapsen entstehen. Je nachdem, um was es sich dreht, geschieht dies automatisch oder durch Wiederholungen (durch Lernen).
Auch Gefühle hinterlassen ihre Spuren im Gehirn. So wie ein Tropfen Wasser keine große Bedeutung hat, aber ein stetiges Tropfen einen Stein aushöhlen kann, so graben sich mit der Zeit Strukturen in das Hirn: Fröhlichkeit kann zur Gewohnheit werden, Missmut ebenso. Wer Wut seinen freien Lauf lässt, wird nächstes Mal noch wütender reagieren. Wer sich in Selbstbeherrschung übt, reagiert zukünftig gelassener und negative Emotionen entstehen dann erst gar nicht. Solch ein Training verändert das Gehirn und der Umgang mit den eigenen Gefühlen fällt allmählich leichter.
Alles im Fluß
Die antiken Philosophen betrieben regelrechte Glücksschulen: Unglück kontrollieren und Glück lernen. „Askesis“ nannten die Philosophen des antiken Griechenlands dies. Auf Altgriechisch heißt „akesis“ einfach nur „Übung“. „Alles ist Übung“ soll schon Periandros gesagt haben, der im siebenten Jahrhundert vor Christus zu den ersten bekannten Philosophen überhaupt zählte. Heute denken wir bei Askese meist an Abtötung der eigenen Person und haben Bilder von Fastenden im Auge. Doch diese Bedeutung dieses Wortes ist erst im Mittelalter entstanden. Askesis, Training, Wiederholungen, das ist eines der Geheimnisse: Üben, gute Gefühle zu erleben und schlechte zu vermeiden.
Wie schnell Gewohnheiten ganze Bereiche des Gehirns verändern können, zeigt das Beispiel von Blinden: Weil Blinde mit dem Zeigefinger die Blindenschrift lesen, ist im Gehirn deutlich mehr Platz für den Tastsinn des Zeigefingers, als bei Sehenden. Man hat beobachtet, dass diese Veränderung innerhalb weniger Stunden geschieht. Haben die Blinden ein paar Tage nicht mehr gelesen, schrumpfen diese Bereiche für den Zeigefinger wieder.
Daß sich ganze Hirnreale so rasch umformen ist ein ganz alltäglicher Affekt. Allerdings sind nicht alle Systeme im Gehirn so flexibel wie der Bereich für den Tastsinn. Manche brauchen Wochen oder gar Jahre und manche Hirnbereiche sind unveränderbar, die nur in bestimmten Lebensbereichen wie in der Kindheit festgelegt werden.
Der Jungbrunnen im Kopf
Der Umbau im Gehirn erfolgt in mehreren Schritten. Für eine Langzeitverknüpfung ist es notwendig, dass gleiche Reize öfters auftreten. Mithilfe der Botenstoffe Serotonin und Dopamin (Hormone) wird eine feste langandauernde Verknüpfung erzeugt. Interessant dabei ist, dass es die gleichen Botenstoffe sind, die wesentlich für die guten Gefühle verantwortlich sind. Dieselben Substanzen, die also eine Schlüsselrolle beim Umbau des Gehirns haben, lassen uns auch Lust, Genuss und Sympathie erleben. Regelmäßig etwas tun, bewegen und lernen verändert unser Gehirn und erzeugt dazu Substanzen, um sich gut zu fühlen.
Aber noch etwas kommt hinzu: Diese Botenstoffe sind auch Nahrung, ohne sie sterben die Hirnzellen ab. Sind wir niedergeschlagen, sinkt der Serotoninspiegel; bei Depressionen sterben Hirnzellen. Umgekehrt halten positive Emotionen das Gehirn lebendig, weil damit reichlich der Botenstoffe Serotonin und Dopamin im Kopf zirkulieren und sich damit leichter neue Verknüpfungen aufbauen. Glück ist folglich ein Jungbrunnen für das Gehirn.
Verknüpfungen, die wenig aktiv sind, bekommen auch wenig Nahrung. Die untätigen Leitungen im Gehirn verschwinden allmählich. Talente, die wir nicht fordern, verkümmern. Das gilt für alle Leistungen des Gehirns: Gelernte Fremdsprachen oder unsere Wahrnehmung, so wie die Fähigkeit glücklich zu sein. Also kann und muß Glück ständig trainiert werden. Es gibt nur wenige Funktionen, die im Erwachsenenalter nicht mehr zu beeinflussen sind. Also können auch Erwachsene noch sehr gut den Umgang mit ihren Gefühlen lernen.
Man nimmt an, dass auch das Bewusstsein einen großen Einfluß darauf hat, wie Emotionen das Gehirn formen. Auch gute Gefühle entfalten wahrscheinlich eine umso stärkere Wirkung, je mehr wir uns bewusst mit den Emotionen befassen. Im Ergebnis stimmen die Philosophie des Ostens und die moderne Neurowissenschaft überein, dass unbewusste Emotionen eine große Bedeutung haben und der Geist durch bewusste Erfahrung geformt wird: Emotionen sind unbewusste Zustände des Organismus, Gefühle deren bewusste Wahrnehmung.
Der Wille zum Glück
Zu einer klugen Lebensführung ist nur fähig, wer seine Emotionen wahrnehmen, steuern und voraussehen kann. Glücksgefühle sind kein Zufälle, sondern die Folge der richtigen Gedanken und Handlungen. Das ist die Auffassung sowohl der antike Philosophie, als auch der modernen Neurowissenschaft, die beide an ein strenges Prinzip von Ursache und Wirkung glauben.
Unser gewohntes westliches Denken betont oft den Wert der richtigen Entscheidung: Wenn wir uns an den Scheidewegen unseres Daseins richtig handelten (z.B. einen neuen Lebenspartner haben), dann würde sich vieles zum Besseren wenden. Das ist falsch. Es kommt mehr darauf an, dass wir gute Gewohnheiten in uns verankern, weil diese die Seele formen.
Unser Augenmerk sollte also nicht in erster Linie darauf liegen, die Umstände zu ändern, sondern uns selbst. Alles weitere ergibt sich dann daraus, weil wir mit einer zum Glück bereiten Seele auch die äußeren Umstände besser im Griff haben oder besser verändern können.
Unsere Wahrnehmung vom Glück hängt weitaus mehr von der Weise ab, wie unser Gehirn empfindet, als von den äußeren Umständen. Aber, einmalige Anstrengungen genügen nicht, um diese Empfindungsweise zu ändern. Ist es nicht erstaunlich, dass wir bereit sind, viel für äußeren Umstände zu tun (Status, Karriere, Kinder etc.)? Doch wenn es darum geht, unsere Tage glücklicher zu erleben, sind wir mit unserer Energie seltsam knauserig.
Fußnote
Mit diesem Kapitel 4 ist der erste Teil „Was ist Glück“ abgeschlossen. Mit Kapitel 5 beginnt der Teil 2 „Die Leidenschaften“. Literatur: „Die Glücksformel“ von Stefan Klein mit den aktuellen Erkenntnissen aus den Wissenschaftslabors dieser Welt. Stefan Klein studierte Physik und Philosophie und promovierte über Biophysik. 1998 erhielt er den Holtzbrinck-Preis für Wissenschaftsjournalismus