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George Steiner

oktoberwind

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20. November 2007
Beiträge
1.025
...auch so ein Denker, den ich sehr schätze.

Ich möchte Auszüge aus ... und Anmerkungen zu... einer kleinen Schrift hierhin stellen; sie heißt "Warum Denken traurig macht".

In zehn kleinen Kapiteln geht Steiner dieser Frage nach, fußend auf Schellings Ausführungen "Über das Wesen der menschlichen Freiheit"

Die Schlussfolgerungen der Kapitel lauten:

I - Die Grenzen des Denkens
"An schlechthin entscheidenden Fronten gelangen wir nicht zu befriedigenden, geschweige den abschließenden Antworten, wie inspiriert, wie folgerichtig der individuelle oder kollektive, philosophische oder wissenschaftliche Denkprozess auch sein mag.
Dieser innere Widerspruch (aporia), diese schicksalhafte Ambiguität wohnt allen Denkakten...inne. Lauschen sie dem Strom der Gedanken, und sie werden, in seinem unversehrten Zentrum, Zweifel und Frustration vernehmen.
Dies ist der erste Grund für die Schwermut, für die Schwere des Herzens."

II - Die Banalität des Denkens
"In den allermeisten Fällen ist das gewöhnliche Denken ein ungeordnetes, dilettantisches Unterfangen.
Ein zweiter Grund für die 'unzerstörbare Melancholie'."

III - Die Banalität des Denkens II
"Das Denken ist in höchstem Maße unser Eigentum; verborgen im tiefsten Innern unseres Seins. Gleichzeitig ist es die gewöhnlichste, abgenutzteste, repetitivste aller Handlungen. Dieser Widerspruch lässt sich nicht auflösen.
Ein dritter Grund für die anklebende Traurigkeit."

IV - Das Gefängnis der Sprache
"Die fundamentale Antinomie zwischen dem Anspruch der Sprache auf Selbständigkeit, darauf, von der Herrschaft der Referenz und der Vernunft frei zu sein ... und dem interesselosen Streben nach Wahrheit ist ein weiteres Motiv für Kummer (unzerstörbare Melancholie)."

V - Die Fülle der Prozesse im Gehirn
"Es ist genau diese unendlich verschwenderische Erzeugung, für die wir bisher keine Erklärung haben. Der Verlust ist maßlos.
Eine fünfte Ursache für Frustration, für den 'dunklen Grund'."

VI - Der Widerspruch zwischen Gedanke und Tat
"Die misslingende Beziehung zwischen Denken und Verwirklichung, zwischen Vorstellung und tatsächlicher Erfahrung, ist so beschaffen, dass wir weder ohne Hoffnung leben können ... noch in der Lage sind, den herben Verlust, den Hohn zerschlagender Hoffnung zu verwinden. ...
Eine sechste Ursache und Quelle der tristitia."

VII - Denken und Tod
"Noch das inspirierteste Denken ist machtlos gegenüber dem Tod ... Das Denken verhüllt mehr, wahrscheinlich weitaus mehr, als es enthüllt.
Ein siebter Grund für jenen Schleier der Schwermut."

VIII - Denken und Liebe
"Im großen und ganzen bleibt der Skandal bestehen. Kein letztes Licht, keine einfühlende Liebe legt das Labyrinth der Innerlichkeit eines anderen frei. Letztlich kann Denken uns zu Fremden füreinander machen. Die intensivste Liebe - schwächer vielleicht als Hass - ist eine nie abgeschlossene Unterhaltung Einsamer.
Ein achter Grund für Betrübnis."

IX - Denken des Einzelnen gegen die anderen
"Das Genie kennt keine Demokratie, nur furchtbare Ungerechtigkeit und lebenbedrohende Last. Es gibt jene wenigen, wie Hölderlin sagte, die gezwungen sind, den Blitz mit bloßen Händen zu fangen.
Dieses Ungleichgewicht und seine Folgen, das Missverhältnis zwischen großem Denken, großer Schöpfungskraft und den Idealen sozialer Gerechtigkeit, bildet eine neunte Quelle der Melancholie."

X - Vereinsamung durch Denken
"Die Beherrschung des Denkens hebt den Menschen über alle anderen Lebewesen hinaus. Doch macht es ihn sich selbst und der Ungeheuerlichkeit der Welt gegenüber zum Fremden.
Eine dem Leben anklebende zehnfache Traurigkeit."
 
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AW: George Steiner

Hallo Oktoberwind,

freue mich sehr, dass du hier über George Steiner schreibst. Meiner Meinung nach ist er viel zu wenig bekannt hier in Deutschland.
Ich kenne nur Einiges von ihm, sehr beeidruckt hat mich "ERRATA - Bilanz eines Lebens".

Später oder erst morgen mehr darüber.

Gruß

Miriam

 
AW: George Steiner

...außer den schon genannten Werken schätze ich auch
"Von realer Gegenwart - Hat unser Sprechen Inhalt?"
"Unter Druck - Parabeln"
"Der Garten des Archimedes - Essays"

Aus "Errata" (1997) habe ich mir z.B. folgende Zitate herausgeschrieben:

"...alles Verstehen ist unzulänglich. Es ist, als ziehe das Gedicht, das Gemälde, die Sonate rings um sich einen letzten Kreis, einen Raum für unverletzte Autonomie."

"Wir sind alle Gäste des Lebens. Kein Mensch kennt den Sinn seiner Erschaffung, es sei denn im primitivsten, biologischen Sinn. Kein Mann, keine Frau kennt den Zweck, sofern es einen gibt, die mögliche Bedeutung seiner/ihrer >Geworfenheit< in das Mysterium der Existenz."

"Der Fundamentalismus, jener blinde Sprung in die Vereinfachung, in die infantile Tröstung auferlegter Disziplin, ist gewaltig auf dem Vormarsch. Gegenüber dem Islam stehen europäische Demokratien zunehmend verunsichert und verletzlich da."

"Ich bin in meinem allzu gesprächigen Leben ein Sammler von Stillen gewesen."

"Die Argumente, die für den Atheismus sprechen, sind zwingend. ... Der Atheismus kennt keine Ketzer, keine >heiligen Kriege< (ein obszöner Ausdruck). Nichts aus dem Innern seiner privaten, nichtinstitutionalisierten Struktur verlangt nach Haß. Von seinem Wesen her braucht er nicht auf Bekehrung aus zu sein."
 
AW: George Steiner

ich habe noch nie von George Steiner gehört, lieber oktoberwind ..
aber bereits Dein erstes Posting hat mich berührt und ich habe alles, was ich in Google fand, notiert einiges werde ich mir als Sommerlektüre kaufen ...
"Von realer Gegenwart - Hat unser Sprechen Inhalt?"
Das ist dabei ....

zum ersten Posting von Dir: Trauer - trauern zu können - nicht nur in kreatürlichem Aufschrei, der quellenden Träne, sondern in sublimierter, subimiertester Form in Metasprache und Kunst scheint mir ein Wesensmerkmal des Menschen zu sein....
eines, das ihn - individuell und als Gemeinschaft gesehen - weiter bringt --- und wenn nur zu neuer Trauer über Misslungenes ...


"...alles Verstehen ist unzulänglich. Es ist, als ziehe das Gedicht, das Gemälde, die Sonate rings um sich einen letzten Kreis, einen Raum für unverletzte Autonomie."

Dieser Aussage stimme ich aus Selbsterfahrung voll zu....
Verstehen wir uns selbst doch kaum, auch wenn wir schonungslos offen im Umgang mit uns selbst sind .... und sehen wir in anderen nicht immer auch uns selbst?
Erklären wir uns Zustände. Verhältnisse - kurz soziale Prozesse - nicht immer nach der eigenen Matrix???


Mir fällt zu diesem Zitat Rilke ein. -

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen

Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen,
die sich über die Dinge ziehn.
Ich werde den letzten vielleicht nicht vollbringen,
aber versuchen will ich ihn.

Ich kreise um Gott, um den uralten Turm,
und ich kreise jahrtausendelang;
und ich weiß noch nicht: bin ich ein Falke, ein Sturm
oder ein großer Gesang.


Er war wohl ein großer Gesang --- in seinen chiffrenhaftesten Texten.....
 
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AW: George Steiner

George Steiner: Errata – Bilanz eines LebensAnfang des 6. Kapitels

"Es gibt Sätze die den Geist aufhorchen lassen. Sie bilden Räume ab, die wir durchqueren und erneut durchqueren, die wir zu erschließen und zu bewohnen suchen. Nehmen wir den folgenden Satz von Hans Keller (einem scharfen Kritiker und Musikwissenschaftler): "Was Beethoven angeht, der möglicherweise der größte Geist der Menschheit überhaupt ist…" Stellen wir daneben die Notiz in Adornos unvollendetem, postum veröffentlichtem Text Beethoven: "Hitler und die IX. Symphonie: Seid umzingelt, Millionen."
Vervollständigen wir diese beiden Bemerkungen zu einem Dreieck mit dem Wort von Claude Lévi-Strauss: "Die Erfindung der Melodie höchstes Geheimnis in den sciences de l’homme" – in den Wissenschaften, in der Gesamtheit des rationalen Denkens und der Informationen, die sich auf den Menschen beziehen. Sätze, die für lebenslanges Erkunden und Fragen ein Terrain abstecken.

Sie beziehen sich auf Musik, sie fällen Urteile über Musik. Ganz gleich wie ihr musikwissenschaftliches Gewicht und der Eindruck, den sie vermitteln, beschaffen sein mögen, sie bleiben unheilbar sprachlich, dem Wort verhaftet."

Ende des Zitats - Fleißarbeit von mir - außer den ersten Satz ist der Text bei Google nicht zu finden.


Um nur einen Aspekt im Werk George Steiners hier zu erwähnen: es ist ein Immerwiederkehrendes Thema des Autors: die Sprache, was sie vermag und wo ihre Grenzen sind. In dem hier zitierten Text, ist es die Musik die nur schwerlich, andeutungsweise, bildhaft, in ihrer Wirkung auf uns durch die Sprache wiedergegeben werden kann. Letztendlich könnte man sagen, dass die Musik auch eine Sprache für sich ist – aber eine, die sich fast nicht übersetzen lässt. Doch unser Kommunikationsmittel, ist in erster Linie die Sprache. Hauptsächlich unsere Emotionen können aber stark von der Musik bestimmt sein, diese fast nicht zu übersetzende Sprache, die sich direkt an unsere Gefühle wendet.

George Steiner nennt noch andere zwei große Bereiche die nur schwer sprachlich zu erfassen sind: Gott und die Mathematik.

Was mich dazu bewogen hat das vorliegende Fragment aus Errata hier zu zitieren, ist hauptsächlich das Bild der drei Räume die wir durchqueren, die meiner Meinung nach uns auch andere, sehr persönliche Räume wieder durchqueren lassen können.
Für mich ist es die Wiederkehr in den Raum in dem ich mich immer wieder mit Beethovens Neunte auseinandersetze, besser gesagt: mit der "Ode an die Freude". Denn die erweckt alles andere als Freude bei mir. Ich verstehe auch nicht wieso dieser Text so unkritisch hingenommen wird, er strotzt vor Gemeinplätzen, vor unverzeihlich naiven Ausdrücken.
Und so habe ich mich sehr wohl aufgehoben gefühlt in einem der Räume die uns George Steiner hier durchqueren lässt, Adornos leider unvollendeten Text: Beethoven "Hitler und die IX. Symphonie: Seid umzingelt, Millionen".

Wie gesagt: es ist ein sehr persönlicher Raum und auch der Zusammenhang den ich herstelle zum Titel von Adorno, kann ein sehr subjektiver sein.

M.

 
AW: George Steiner

Gerade lese ich die kleine Schrift "Warum Denken traurig macht" erneut und finde sie noch tiefgehender als schon bei der ersten Lektüre.

Auch ein Grund, diesen Thread noch einmal auszugraben... :)
 
AW: George Steiner

Also, wenn ich beim Denken auf nichts Gescheiteres käme als Herr Steiner, dann wäre ich auch sehr traurig.

lg Frankie
 
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AW: George Steiner

Ich werde es nie verstehen, warum solchen Foren immer wieder ernsthafte Beiträge durch niveauloses Gefasel gestört werden...

Steiner verwechselt seine Depressionen, Hilflosigkeit und Traurigkeit, die er selbst durch das schärfste Denken nicht zu heilen vermag, mit der sehr positiven Wirkung, die das Denken auf einen gesunden Menschen hat.

Die Behauptungen Steiners funktionieren nur bei einem Menschen, der schon traurig ist, bevor er zum Denken kommt. Und der so wenig scharfsinnig denken kann, dass er das gar nicht bemerkt.

lg Frankie
 
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