AW: Das dickste Land Europas?
Wenn ich mir die Beiträge hier noch einmal durchlese, dann fallen mir vor allem die vielen Vor- und Ratschläge auf, die uns sofort als mögliche Maßnahmen einfallen, um gegen das Dicksein vorzugehen.
Das was ich sogar von den Ärzten bei meiner Kur gehört habe, ist die Warnung vor jeder Art von Diät. Denn Adipositas wird oft gerade durch den Druck, schlanker werden zu müssen, erzeugt. Jede Abmagerungsdiät basiert auf dem Prinzip des Mangels: Friss die Hälfte, fettarm, zuckerfrei,…. Man isst Diät, man verzichtet auf gute Sachen, um schlanker zu werden, damit legt man schon den Grundstein für eine neuerliche Gewichtszunahme.
Eine dauerhafte Gewichtsreduktion erreicht man nur, wenn man seine Essgewohnheiten gründlich und bewusst umstellt. Die Ernährung als etwas zu betrachten, das wir brauchen, um uns selbst etwas Gutes zu tun, das macht es möglich, sich nicht mit Ach und Krach ein paar Wochen zu kasteien um dann wieder zu schlemmen wie vorher. Dadurch schaukelt sich das Übergewicht nur auf.
Klar hilft es, die Kalorienzufuhr zu reduzieren, aber es muss vorsichtig herausgefunden werden, wie es einem gut tut. Ob auch radikal durchgestartet werden kann, weil jemand wild entschlossen ist, endlich aus der Lethargie rauszukommen, das sollte gemeinsam mit einem Arzt angeschaut werden. Da sind die Menschen sehr verschieden. Manche brauchen mehrere kleinere Mahlzeiten über den Tag verteilt, manche brauchen eher drei Mahlzeiten, bei denen sie richtig satt werden. Die ganz schweren, mit mehr als 150 kg kommen mit 1200 Kcal nicht aus, weil sie schon einen höheren Grundumsatz haben, weil sie ja auch ihr Gewicht herumschleppen müssen.
Die Ärzte bei der Kur haben mit den Diätologinnen gemeinsam für jeden einen individuellen Ernährungsplan ausgearbeitet, wo auch die persönlichen Vorlieben beim Essen berücksichtigt wurden. Anders hält niemand eine Umstellung durch.
Übrigens: Ohne Bewegung nimmt man nicht auf gesunde Weise ab. Célines Beschreibung, wie diese Bewegung aussehen sollte, trifft es genau. Denn die Fettreserven werden ja nur dann als Energiespender in den Muskelzellen verbrannt, wenn diese Zellen auch fleißig arbeiten. Wer auf der Couch liegt, verbraucht einfach nicht genug Energie. Wir haben als Faustregel gelernt: mindestens 3 Mal wöchentlich 50 Minuten Bewegung, so viel, dass man gerade noch nicht keucht. Das war – wohlgemerkt – der Hinweis für schwer adipöse Diabetiker. Gesunde Übergewichtige dürfen sich ohne weiteres auch öfter betätigen. Man spürt ja auch schnell die Lust an der Bewegung, wenn man einmal in Schwung gekommen ist.
All das gilt mMn allerdings nur für Menschen, die sich
freiwillig und
einsichtig entschließen, ihr Übergewicht loszuwerden.
Ich glaube nicht, dass die Dicken „selber schuld“ sind. Es gibt mMn viel mehr Zusammenhänge als nur das ungesunde Essen, warum jemand dick wird und ein anderer nicht.
Es mag natürlich auch dazu beitragen, dass viel zu fettes Essen oder überzuckerte Nahrungsmittel relativ billig sind und auch schnell hineingemampft werden können, aber nicht nur.
Angesichts der Fülle der angebotenen Nahrungsmittel stelle ich aber schon die Frage, ob nicht viele mit der Auswahl der richtigen Nahrung schlicht und einfach überfordert sind. Die Werbung streut sehr vielen Menschen Sand in die Augen, sie können durch die Überflutung mit Informationen, die mit Werbesprüchen durchzogen sind, nur noch abschalten und sich sagen: Ist ja eh wurscht, was ich esse. Ich weiß ja sowieso nicht, ob das jetzt noch gesund ist oder nicht.
(Werbesprüche sind immer öfter glatte Lügen! Abgedroschenes aber noch immer gültiges Beispiel: Die „gesunde“ Kinder-Milchschnitte.)
Diese resignative Haltung drückt sich auch im Rückzug in die Trägheit aus. Wenn eh alles wurscht ist, weil man ja von allen Seiten angelogen und falsch informiert wird, nur um an unser Geld zu kommen, dann ist das Leben eigentlich nur noch ein Jammertal. Wozu also anstrengen?
Das ist die Trotzfalle, in die die Dicken damit geraten. Sie stehen ihrer Einsicht selbst im Wege, weil sie auf keinen Fall jemandem auf den Leim gehen wollen. Weil sie aber nicht feststellen können, wem sie vertrauen können und wem nicht, machen sie dort weiter, wo es bequem und leicht geht.
Der Schlankheitswahn, der wirkt ja dann so ähnlich wie in der Fabel vom Fuchs und den Trauben: Schlankheit ist so unerreichbar weit weg, dass man sie als Blödsinn abstempelt und lieber fett wird bzw. bleibt.
Zuletzt möchte ich zur politischen Verantwortung etwas sagen. Die Lebensmittelgesetze sind mMn etwas sehr Wesentliches für die Ernährung der Bevölkerung eines Staates. Warum dürfen verfälschte Lebensmittel (die diesen Namen überhaupt nicht mehr verdienen) überhaupt erzeugt werden? Warum lässt der Gesetzgeber es zu, dass Menschen bewusst getäuscht werden, weil damit irgendwer ordentlich Kohle gemacht hat und noch immer macht? Betrügerische Fehlinformationen gibt es am laufenden Band in der Werbung, und den Leuten wird dann auch noch ein schlechtes Gewissen gemacht, weil sie selbst "zu bequem, zu faul, zu dumm zu arm" sind, um sich „richtig und gesund“ zu ernähren.
Wenn dann noch jemand ankommt und sagt, „Ja, es steht doch eh drauf, was in den Produkten drin ist“, dann kann ich nur lachen. Wenn man zum Einkaufen nicht ein Vergrößerungsglas mitnimmt, dann kann man gar nicht lesen, was drauf steht, und außerdem ist es nicht verständlich. E-Nummern, lateinische Bezeichnungen usw. verhindern, dass man schnell erfassen kann, was man hier zu sich nimmt.
Ich möchte also weder die Gesetzgeber noch die Werbewirtschaft aus der Verantwortung ausklammern. Die „Wiedergutmacher“ wie Ärzte und Ernährungsberater tun ihr bestes, um den Leuten, die schon in die Falle gegangen sind, einerseits ihre Schuldgefühle wieder zu nehmen und ihnen andererseits zu helfen, wieder gesund zu werden. Es wäre aber hilfreich, die Produktion dieser Fallen erst gar nicht zu gestatten.