AW: Darwin und Maeterlinck
aus: Das Leben der Bienen von Maurice Maeterlink
Über Entwicklung und Evolution
Soviel können wir mit unseren Augen sehen. Wie man zugeben wird, sind dies ein paar ausschlaggebende Tatsachen und ein gutes Argument gegen die Ansicht derer, die da meinen, daß aller Verstand unbeweglich und in eherne Formen gegossen ist, ausgenommen der menschliche.
Wenn wir die Hypothese der Entwicklung aber einen Augenblick zugeben, so wird das Schauspiel größer , und sein unbestimmter, gewaltiger Schein reicht bis an unser eigenen Geschicke. Es ist nicht augenscheinlich, aber wer sich ernstlich damit beschäftigt, für den ist es nicht mehr zweifelhaft, daß in der Natur ein Wille herrscht, der danach trachtet, einen Teil der Materie auf eine höhere, vielleicht auch bessere Stufe zu erheben und ihre Oberfläche allmählich mit jenem geheimnisvollen Fluidum zu überziehen, das wir zuerst das Leben, dann den Instinkt und kurz danach den Verstand nennen, ein Wille, der die Existenz alles dessen, was einem unbekannten Ziele zustrebt, zu sichern, zu organisieren und zu erleichtern trachtet. Es steht nicht fest, aber viele Beispiele, die wir um uns haben, laden zu der Annahme ein, daß die Materie, die sich von Urbeginn an dergestalt erhoben hat, gesetzt, daß man sie wägen und zählen könnte, nicht aufgehört hat, zuzunehmen. Im wiederhole es: die Annahme steht auf schwachen Füßen, aber sie ist die einzige " über die verborgene Kraft, welche uns lenkt, zu der wir ein Recht haben, und das ist viel in einer Welt, in der unsere erste Pflicht die Zuversicht zum Leben ist, selbst dann, wenn man keine ermutigende Gewissheit darin entdecken würde, und solange es keine gegenteilige Gewissheit gibt.
Ich weiß, was man gegen die Entwicklungslehre alles einwenden kann. Sie hat zahlreiche Beweise und starke Gründe für sich, aber sie sind nicht notwendig überzeugend. Man darf sich den Wahrheiten eines Zeitalters nie rückhaltlos anvertrauen. In hundert Jahren werden vielleicht viele Kapitel in unseren Büchern, die von ihr durchtränkt sind, deswegen veraltet sein, wie heute die Werke der Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts, die von einer zu vollkommenen Menschheit ausgehen, die es nicht gibt, oder so viele Werke des siebzehnten Jahrhunderts, die befleckt werden durch den Gedanken des kleinlichen und strengen Gottes der von so vielen Lügen und Eitelkeiten entstellten katholischen Tradition.
Trotzdem ist es gut, wenn man die Wahrheit über eine Sache nicht wissen kann, die Hypothese anzunehmen, die sich in dem Augenblick, wo der Zufall uns ins Leben gerufen hat, dem Verstande am unabweislichsten aufdrängt. Man kann wetten, daß sie falsch ist, aber solange man sie für wahr hält, ist sie nützlich, belebt sie die Gemüter und gibt unserer Wissbegier eine neue Richtung. Es mag auf den ersten Blick weiser erscheinen, diese feinsinnigen Hypothesen durch die einfache, tiefere Wahrheit zu ersetzen, daß wir nichts wissen.
Aber diese Wahrheit wäre nur dem ersprießlich, wenn es bewiesen wäre, daß wir nie etwas wissen werden. Inzwischen würde sie uns in einer Unbeweglichkeit erhalten, die verderblicher ist, als die törichtesten Illusionen. Wir sind so geschaffen, daß uns nichts höher und weiter trägt, als die Sprünge unserer Irrtümer. Im Grunde danken wir das Wenige, was wir wissen, den gewagtesten, oft geradezu absurden Hypothesen, die zumeist weit unkluger sind, als die heutige. Sie waren vielleicht sinnlos, aber sie haben die Glut der Erkenntnis in uns geschürt. Mag der, welcher am Herde der Herberge der Menschheit wacht, blind oder im höchsten Alter sein: was tut das dem Wanderer, der friert und sich an seine Seite setzt? Wenn das Feuer unter seiner Obhut nicht erloschen ist, so hat er getan, was der Beste nicht besser machen könnte. Übertragen wir diese Glut, und zwar nicht wie sie ist, sondern gesteigert; und nichts kann sie so mehren, wie diese Entwicklungshypothese, die uns zwingt, alles, was auf und unter dieser Erde, in den Tiefen des Meeres und an der Feste des Himmels ist, fortan nach strengeren Methoden und mit anhaltenderer Leidenschaft zu befragen. Was gibt es zum Ersatz für sie, und was sollen wir an ihre Stelle setzen, wenn wir sie verwerfen? Etwa das große Geständnis der gelehrten Unwissenheit, die sich selbst erkennt, ein Geständnis, das gewöhnlich so tatlos und für die Wissbegier, die dem Menschen nötiger ist, als selbst die Weisheit, so entmutigend ist, oder die Hypothese von dem Beharren der Arten und der göttlichen Schöpfung, - die noch unbewiesener ist, als die unsere, und die den lebendigsten Teil des Problems für immer von sich abschiebt, indem sie das Unerklärliche zu befragen vermeidet?
Gruß Fritz