Die prinzipielle ernährungsmäßige Vollversorgung ist längst Realität - jetzt macht man es sich zur Lebensaufgabe, seine eigene spezifische Ernährungsweise zu propagieren, dabei gibt es wohl kaum etwas "privateres" als das, was ich esse und trinke.
Es ist vielmehr so, dass echte oder vermeintliche gesellschaftliche Probleme über die Ernährung instrumentalisiert, kanalisiert und propagiert werdenen.
So neu ist das allerdings nicht, tatsächlich handelt es sich um ein kulturhistorisches Phänomen, das man durch alle Zeiten beobachten kann.
Im antiken Griechenland vertraten die Philosophen den Standpunkt, der nach Wahrheit strebende Mensch habe sich von wenigen, wenn nicht sogar nur von einer Speise zu ernähren (daher rührt oft auch manchmal die Aussage, die griechischen Philosophen seien Vegetarier oder gar Veganer gewesen). Fleisch führe die Menschen zu wildem, ja barbarischen Verhalten, und der wahre Asket ...
... nur ist es heute schwierig zu beurteilen, was daran Realität und was reine Theorie war.
Denn sich "nur von einer Speise" zu ernähren war damals wie heute unmöglich. Bereits in der Antike machten sich andere Zeitgenossen darüber lustig, persiflierten es und schrieben Kommentare auf wie: "Philosoph XY ernährt sich nur von ...", und es ist schwer heute zu entscheiden, was daran Persiflage ist und was Zeitbeschreibung.
Im Mittelalter glaubte man ganz unbedingt an die Humoralpathologie und das damit verbundene "Gleichgewicht der Säfte" aufgrund antiker und arabischer Vorlagen. Man stellte ganze Programme nach diesem System auf und glaubte an die unbedingte Heilwirkung von exotischen Gewürzen, die man natürlich für abenteuerliche Summen aus dem Orient kaufte - und verwendete sie, sofern man die Kohle hattte, im Übermaß. Und zwar so im Übermaß, dass wir das heute überhaupt nicht mehr essen könnten.
Im Kern ist das alles nichts anderes, als was manche Zeitgenossen auch heutzutage behaupten: Wenn du das und das so und so isst, dann lebst Du ewig. Oder länger.
Ich möchte meinen: Du lebst nicht länger, aber es kommt Dir länger vor.
Studiert man mal seriöse ernährungswissenschaftliche (-medizinische) Literatur - idealerweise eine, die auch erklärt, wie man zu solchen Aussagen überhaupt kommt - dann stellen sich die Aussagen über die Ernährung ganz anders dar. Es gibt gewisse Grundlagen, an denen nicht zu rütteln ist, die Hauptsäulen der Ernährung, aber vieles anderes ist nicht so in Stein gemeisselt.
Bei bestimmten Themen landet man bestenfalls bei Empfehlungen, hochgerechnet aus Tierversuchen mit der Ratte als dem am Besten erforschten ernährungswissenschaftlichen Tier.
Denn es ist einfach so, dass aus ethischen Gründen derartige Experimente am Menschen (heutzutage) weltweit verboten sind, Obduktionen an Leichen ein ggf. verfälschtes Bild liefern und Umfragen und Statistiken die Realität nicht unbedingt abbilden.
Was bleibt, das sind medizinische Annahmen - von ... bis - und eine seriöse ernährungswissenschaftliche Literatur gesteht dies auch ein. Dem stehen Aussagen verschiedener "Glaubensrichtungen" gegenüber, die - aus welcher Sichtweise auch immer - von sich behaupten, dies sei bewiesen und jenes, aber das ist keineswegs so. Was man stattdessen aber sagen kann, ist, dass an den Grundsäulen - Proteine, Fette, Kohlenhydrate, Vitamine, Mineralien, Ballaststoffe - und deren teils essenziellen Funktionen nichts zu deuteln ist: Und genau das ist es dann, was die jeweiligen Ernährungs-Exoten in Frage stellen.
Das ist wieder dieser moderne Missionierungsdrang, dabei ist das alles, wie du ja in deinem vorherigen ausführlichen Beitrag beschrieben hast, künstlich aufgebauscht und überdramatisiert - wir haben halt keine anderen Probleme mehr, so scheints.
Sicher, es handelt sich um eine Art Reichenproblem. Man sollte es aber auch nicht überbewerten. Ernährungsmoden und -trends hat es schon immer gegeben, sie ändern sich mit der Zeit und auch ich habe mehrer erlebt. Sie verschwinden auch wieder, auch wenn immer ein paar Fans übrig bleiben. Oft handelt es sich auch nur um eine Art Party-Smalltalk, wie auch über Astrologie, UFOs oder anderen Schmarren.
Ich bin, nebenbei bemerkt, Beinahe-Vegetarier. Das ist eine persönliche Vorliebe meinerseits, weil ich Fleisch in größeren Mengen schon immer abstoßend fand. Aber missioniere ich deshalb meinen Arbeitskollegen, der sich das Fleisch tellerweise reinhaut? Auf diese Idee käme ich nie. Aber bei mir ist der postmoderne, vormals religiöse Leerraum auch wesentlich kleiner, weil ich mich ja mit entsprechenden metaphysischen Themen befasse.
Bitte sehr, als Ovo-Lacto-Vegetarier bist Du ohnehin auf der (sehr) sicheren Seite, ernährungswissenschaftlich gesehen.
Ich persönlich bin, nach dem Studium der Literatur und auch praktischen Erwägungen bei einer Art Oma-Küche angekommen: 1 x die Woche Fleisch, 1 x die Woche (See-)Fisch - und den Rest der Woche mehr oder weniger vegetarisch, wobei da durchaus auch mal eine Ecke Wurscht oder Speck in den Gerichten erlaubt sein darf.
Dogamtismus, in welchem Zusammenhang auch immer, bringt einen sowieso nicht weiter. Er macht einen nur unglücklich.