Die Unblutige
Es war einmal eine süße, schnuckelige, unblutige Revolution mit tiefgrünen Augen und langem rostroten Haar.
Sie mußte oft weinen und war sehr traurig, denn niemand hatte sie lieb.
Ja, ihre großen Schwestern, die blutigen, grausamen Revolutionen mit Tausenden und Millionen von Toten, werden von den Menschen geliebt und verehrt. Man errichtet Tempel und Haine für sie, man widmet ihnen Lieder und benennt nach ihnen Plätze und Bauwerke, aber - seltsam - keine Friedhöfe, obwohl ihre Schwestern sich um diese Einrichtungen sehr verdient machen.
Da sie nun bei den Menschen kein Glück hatte, suchte sie nach einem anderen Ziel.
Diesmal fiel ihre Wahl auf ein niederes Tier, von dem sie glaubte, daß ihm eine unblutige Revolution viele Verbesserungen bringen könnte.
Zu diesem Zwecke versammelte sie an einem nassen Sommerabend in einer Berliner Laubenkolonie Tausende von wohnungs- und kleidungslosen Nacktschnecken und hielt eine feurige Rede über Hausbesitzer, Unterprivilegierte und den großen Nutzen von Kleidung.
Die anwesenden Nacktschnecken blinkten sich belustigt mit ihren Fühlern geheime Zeichen zu. Gerade ihre Unbehaustheit und ihre Nacktheit hatten sich als wahre Wohltat erwiesen. Endlich von den Pflichten des Hausbaus befreit, konnten sie sich völlig den Freuden ihres schleimigen Liebeslebens hingeben, ohne von lästigen Kleidungsstücken behindert zu werden. Ihre explosionsartige Verbreitung sprach für den Erfolg ihrer Strategie.
Die Nacktschnecken waren zufrieden, sie wollten überhaupt keine Revolution, auch keine Unblutige. Aber da sie nun einmal versammelt waren, liebten und umschlangen sie sich bis in den Morgentau.