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Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

AW: Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

Guten Morgen!

unverständlich ist mir, was Du mit dem Zugang demokratischer Erteilung gemeint hast, was vulgo heißt: Mehrheitsentscheidung.
War vielleicht missverständlich ausgedrückt: ich meinte nur den allgemeinen Zugang zu einer Wahrheit, nicht politisch, sondern "unbesehen der individuellen Ausgangslage" sozusagen



Aber mir leuchtet nicht ein, warum die Verantwortungsethik – wenn ich Dich richtig verstanden habe – das Phänomen der Funktionalität eines Handelns (i.w.S ist es auch Kommunikation als Hineinwirken auf etwas) unterschätzt haben sollte. Sie beruht ja gerade darauf, die Prinzip der Verantwortlichkeit selbst auf ferne Generationen zu übertragen (vgl. Jonas). So, um es zu demonstrieren, was gemeint ist (auch auf die Gefahr hin, wg. dieses Beispiels verbal gelyncht zu werden), behaupte ich, daß gewollte und bewußte Kinderlosigkeit ein Verstoß gegen die Norm des Kantianischen Imperativs ist.
Mein Standpunkt ist, dass moralische Entscheidungen immer nur individuelle Entscheidungen sind und niemals gesellschaftliche. Eine Gesellschaft kann nicht moralisch entscheiden, weil sie überhaupt nicht entscheiden kann, sondern nur selektieren. EIne Gesellschaft kann höchsten demokratisch entscheiden, welche Partei führen soll.
Insofern sind Formulierungen wie "Deutschland muss sich entscheiden" oder "wir Deutschen müssen entscheiden" usw. z.B. in Bezug aufs Kinderkriegen paradox. Wenn eine Mehrheit nicht genug Kinder bekommt, ist dies keine Mehrheitsentscheidung sondern eine Selektion. Das muss man genau unterscheiden. Man kann eine individuelle Entscheidung moralisch beurteilen, tut man dies aber bei gesellschaftlichen Selektionen, führt das in die Irre.
Natürlich gibt es Kommunikation, die moralisch gefärbt ist. Die hat aber nichts mit den individuellen Entscheidungen der Individuen zu tunm, die dahinter stehen. Bestes Beispiel sind die moralisch codierten Schlagzeilen der BILD-Zeitung, die den Verlust von Werten anprangern, die dann im nächsten Artikel konterkariert werden. Man sagt dann: BILD lügt, aber streng genommen kann eine Zeitung nicht lügen, sondern nur ein Redakteur...
Eine Verantwortungsethik über Generationen hinweg ist m.E. deswegen fraglich:
- Weil sie ja nur aufgrund von Appellen durchgesetzt werden kann und dann sind wir bei Sätzen wie "Wir Deutschen müssen..." usw. Appellen setzen sich dann aber gesellschaftlicher Selektion aus und was dann daraus gemacht hat, entzieht sich der Kontrolle eben des ethischen Grundgedankens. Eine Ethik, die sich vor der Frage drückt, wie sie durchgesetzt werden kann, kann keine verantwortungsvolle Ethik sein ...
- Selbst wenn dann z.B. Gesetze rauskommen, die den Grundgedanken der Ethik unterstützen, ist der Erfolg fraglich, weil sich daran wieder kommunikative Selektion anschließt, die die Sache unberechenbar macht. Es gibt viele gut gemeinte Gesetze, die sich dann pervertieren, nicht aus Unmoral, sondern wegen der "Entropie" der Kommunikationn
- Bisher gab es nur Wenige Geister, die zuverlässige Vorausssagen machen konnten, was nachfolgende Generationen brauchen. IN den 80er Jahren lag der Schwerpunkt eben auf Atomkraft und Krieg, aber nicht auf Kinderkriegen. Das war die Realität der moralisch codierten Selektion.


Inwieweit ist die Lüge ein Kommunikationsmittel, das nicht nur nützlich sondern zum friktionsfreien bzw. –armen Funktionieren des gesellschaftlichen Lebens geradezu erforderlich ist.
Gruß - Ziesemann
Sagen wir so: Die Lüge entsteht als Form ganz automatisch aus alltäglicher Kommunikation. Sie ist eine Form, die schon allein aus der Ungenauigkeit, der Unbestimmbarkeit der Kommunikation entsteht. Die Lüge ist der Versuch, das Unbestimmbare zu bestimmen, indem man es moralisch als negativ festlegt...
Marianne:
Da hat son oller Philosoph mal als Kind sich mitte Frare rumjequelt, warum man denn die Wahheit saren soll, wenn de mitte de Lüje weita kommst.
Schlauet Kerlchen !
Aba: der Kleene hat noch jeglaubt, dattet so wat wie Wahheit und Lüje jibt. Und ooch, dett man im Leben weita kommt.
Na, icke bin jedenfalls nur bis hier anne Ecke jekommen --- und warte, bis mir eena engaschiert, damit icke zu meene Molle mitn Korn komme
Die Gesellschaft leistet sich intellektuelle Aushängeschilder (in D z.B. Grass, Giordano, Jens, Habermas), die medial zu moralischen Instanzen aufgebaut werden. Der "einfache Mann" der Straße hat aber allen Grund ihnen zu misstrauen. Denn es ist ihm offensichtlich, dass die moralischen Instanzen aus einer extrem proviligierten Postition urteilen. Zum Beispiel gehen sie so gut wie kein Risiko ein, wenn sie ihre angeblich "unbequemen Wahrheiten" verbreiten. Der "einfache Mann" weiß vielleicht instinktiv, dass es auf diese "Wahrheiten" sowieos nicht ankommt. Dass diese Personen, wie Grass, Jens usw. dann auch moralisch scheitern und zwar an Kinkerlitzchen, ist da nur eine zusätzliche Pointe...
suche:
Ist überhaupt ein Mensch in der Lage, eine plötzliche Situation in bezug auf die Folgen zu durchschauen? Wird da nicht die Entscheidung "WAHRHEIT ODER LÜGE?" ad absurdum geführt?

Welche Möglichkeiten gibt es dann noch richtig zu handeln? Der weise Mensch wird sich eine Denkpause verschaffen, indem er einer Antwort vorerst ausweicht. Aber er wird sich einer Entscheidung früher oder später nicht entziehen können.

Wäre es da nicht einfacher und moralischer die Wahrheit zu sagen?

Du stellst heraus, dass es auch einen Zeitaspekt gibt. Das ist wichtig.
Man könnte dann natürlich nach deiner Prämisse handeln, aber es stellt sich, glaube ich, heraus, dass es auch Zeit kostet, die Wahrheit zu sagen. Sagen ist ja "Formulieren" ubnd man kann eine Wahrheit auch "falsch" sagen oder eine Lüge "richtig" formulieren.
Nur mal so paradox ausgedrückt...
 
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AW: Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

Zitat von Robin

Du stellst heraus, dass es auch einen Zeitaspekt gibt. Das ist wichtig.
Man könnte dann natürlich nach deiner Prämisse handeln, aber es stellt sich, glaube ich, heraus, dass es auch Zeit kostet, die Wahrheit zu sagen. Sagen ist ja "Formulieren" ubnd man kann eine Wahrheit auch "falsch" sagen oder eine Lüge "richtig" formulieren.
Nur mal so paradox ausgedrückt...

Das ist es. Besonders heikle Themen sollten in bezug auf Wahrheit Zeit in Anspruch nehmen dürfen. Nicht umsonst meint Schiller: Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort, das schwer sich handhabt wie des Messers Schneide."

So gibt es auch eine sogenannte frisierte Wahrheit. Jeder glaubt auf Anhieb, es sei die Wahrheit, in Wirklichkeit ist es meistens nur eine Teilwahrheit, die man dann schon wieder zumindest als Unwahrheit bezeichnen müsste. Auf diese Weise kommt es zu Irreführungen, die entweder gar nicht oder erst sehr spät erkannt werden.

suche
 
AW: Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

kann- nein
soll- kommt drauf an
darf- kommt drauf an
muß- nein

zu muß:
Beispiel: jemand kommt rein und fragt wo der Chef ist. Man hat selber gesehen daß er gerade vorher auf Toilette gegangen ist. Da sagt man nicht er ist auf Toilette, sondern denkt sich schnell etwas aus um ihn nicht zu blamieren.

zu darf:
kommt drauf an zu wem. Wenn man sich selber oder jemand anderen schadet sollte man es nicht tun aus meiner Sicht.

zu soll:
ja, man soll es eigentlich. Nur wie weit kommt man damit?
was ich allerdings nicht gut finde ist wenn man zu Unrecht über unschuldige Menschen herzieht, über sie lästert, sie schlecht macht in ihrer Abwesenheit. Über sie etwas erzählt was nicht stimmt.

zu kann:
ist unter vertrauten Menschen ein Muß!
 
@ Robin

Stichwort1: ethisches Dilemma
Stichwort2: Alltagsphilosophie


Du hast in Deiner umfassenden Antwort, dem Teil, der meinen Worten gewidmet war, sehr richtig die Intention meines kleinen Textes erkannt.
Da Du - noch aus früheren Diskussionen mit Jeròme und Jaques weißt, dass mir die Bedeutung philosophischer Denkprozesse und nach ihnen ausgerichteten Handlungsmustern im Alltag sehr wichtig sind: noch ein paar Bemerkungen.


Auch mein Eckensteher Nante ( Symbol des Mannes aus dem Volke ) ist kein platter Utilitarist, der Wahrheit und Lüge ( seine Wahrheiten und seine Lügen ) rein zur Erreichung seines Handlungszieles " benutzt". Klar will er " essen und trinken" - vorwiegend letzteres, aber es kommt ihm gar nicht in den Sinn, diese Alltagshandlungen an irgendwelchen Ideologien abzuklopfen.

Und da bin ich - nicht nur ich, wie wir hier im Thread lesen ( metuzalem) - der Meinung, dass es uns im Alltag öfter vorkommt, dass wir über Lügenhaftes nachsinnen - ( Politikverdossenheit an der Minusseite , Hanswurstiaden an der Plusseite) - uns diesem - wie auch immer zu stellen.

Wahrheit ? Wahrheit ? Ich lasse mir dieses Wort als Wirklichkeit gefallen - doch flugs befallen einen dann sofort sprachphilosophische Zweifel. Ist nur das außersprachlich Vorfindbare wahr/ wirklich ? Kann Sprache überhaupt Wirklichkeit / Wahrheit vermitteln? ( Du weißt, dass ich glaube, dass sie das nicht kann und nur die Summe aller sprachlich vermittelten Attribute so etwas Ähnliches wie eine kulturelle Übereinstimmung ergibt.)


Wahrheit als moralische Verpflichtung?
Nun ja - diese wird uns ja schon als Kind eingetrichtert: Wer einmal lügt, dem glaubt man nicht,wenn er auch die Wahrheit spricht.

Da sträuben sich mir die Haare. Ganz genau dasselbe kann - situationsbedingt formuliert - für den Sprecher einmal wahr und einmal gelogen sein.


Und jetzt komme ich auf den Alltagsaspekt:

Wir erkennen in der Regel unsere verbale Strategie zu " lügen" oder zu " wahrheiten".
Und im Alltag wägen wir ab: was bringt mir mehr ?


Ich beobachte diesen Vorgang schon jahrelang an mir und Menschen, die ich gut kenne. Und das sind nicht nur finstere Gesell/Innen.



Das, was ich jetzt geschrieben habe, ist wahr ( für mich) ---- so lange, bis ich vielleicht neue Erkenntnisse habe, die es mir nötig machen, mein Urteil zu ändern.



NACHTRAG:

Ich wäge natürlich auch ab, was bringt meinem Gegenüber mehr. Stichwort: Lüge aus Barmherzigkeit,Lüge als Hetz ( Jägerlatein).
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
Antwort an Robin

Guten Morgen Robin,
(falls ich in nächster Zeit nicht mehr antworten sollte, ist dies nicht gegen Dich gerichtet)
Richtig, eine Gesellschaft als Kollektiv kann nicht (un-)moralisch entscheiden; sehr wohl aber kann eine Mehrheit Entscheidungen treffen, die dann dieser Gesellschaft sind. Dein Kinderbeispiel – sehr gut übrigens für meine Interpretation – ist eben eine klare Mehrheitsentscheidung. Eine große Mehrheit von potentiellen Elternteilen entscheidet sich gegen Kinder. Das ist jeweils individuell ein Verstoß gegen den kategorischen Imperativ Kants, kann doch niemals diese prinzipielle Entscheidung zur „Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden“.
Verzeih’ Robin, aber Deine Einführung des Begriffs „Selektion“ erscheint mir Wortklauberei. Was die Gesellschaft selektiert, ist nichts anderes als eine mehrheitliche Selektion, also eine Entscheidung Pro oder Contra von X.
Das Prinzip Verantwortungsethik ist ebenso wenig wie Gesinnungsethik fragwürdig, weil es nur mit Appellen durchgesetzt werden könnte – ganz abgesehen davon, daß mit Appellen allein noch nie eine bestimmte Moral „durchgesetzt“ werden konnte. Man muß hier zwischen der Norm als positiven Rechtssatz und der moralischen Norm unterscheiden. Ein Gesetz freilich, das nicht überwiegend (100%ig kann das nur eine brutale Diktatur) durchgesetzt werden kann – und wir haben viele, zu viele von solchen Gesetzen – untergräbt dien Respekt vor ihnen und die Autorität des Staates.
Was eine „moralisch codierte Selektion“ ist habe ich, lieber Robin, schon rein begrifflich nicht verstanden. Aber vehement widerspreche ich Deiner Behauptung, daß in den 80er Jahren der Schwerpunkt auf „Atomkraft und Krieg, aber nicht auf Kinderkriegen“ lag. Wer hat denn in den 80er Jahren D in einem Krieg geführt? Und waren das nicht die Jahre, in denen – was vermutlich noch bereut werden wird – der Ausstieg aus der Atomkraft begann?! Gerade weil die 80er so erfolgreich in diesen ihren politischen Zielen – „make love no war“ – waren, hätten sie doch massenhaft Kinder in die friedliche und gefahrenfreie Welt setzen können?°
„Automatisch“ entsteht in der menschlichen Kommunikation gar nichts, dahinter stecken immer Menschen, wie der Redakteur, was Du zurecht bemerkst, eben seine Meinung hat und nicht die von BILD kundtut, was mindestens sprachlich unsauber ist. Aber wieso die Lüge „allein“ (?) schon aus der Ungenauigkeit, der Unbestimmtheit entstehen und eine Versuch sein soll, das „Unbestimmbare zu bestimmen“, das alles vermag ich wieder nicht zu verstehen. Wenn ich z.B. lügen würde: „Hindenburg war im WK II ein Generalfeldmarschall unter Hitler“, dann ist das eine höchst genaue, eine sehr präzise Aussage – aber eben eine Lüge, denn ich weiß und kann beweisen, daß Hindenburg im Juli 1934 gestorben ist.
Freundlichen Gruß - Ziesemann
 
an alle, die hier im Thread posten

Mein verehrter Herr Vorredner macht einen entscheidenden Denkfehler. Er hat nirgends genau definiert, was er unter Wahrheit versteht.Er unterteilt - klassifiziert unsw - aber - für mich nicht eindeutig, gibt er die allgemeine Definition dieses Begriffes. Wobei ich es mir da leichter mache, indem ich das, was wir Wahrheit nennen, so und aus relativiere - als subjektgebundene Wahrnehmung und Prämisse zum Handeln gemäß der Zweckmäßigkeiten im Faktischen. Wahrheitsstreben ist für mich Kontrolle zur Stimmigkeit von Streben und Tun in der Welt der Realien.

Wenn ich aber den Kern von Ziesemanns wortreichen Beiträgen durchforste, scheint es zu sein, dass er unter Wahrheit historische Faktengenauigkeit zu verstehen scheint.


Darüber ist hier in der Tat schon zu Genüge diskutiert worden.


Natürlich, Robin, hast DU meiner Meinung nach natürlich - Recht, wenn Du auf die Selektion der Wahrheit hinweist. Erinnert Euch an das Experiment, das ich Euch einstens vorstellte. Stichworte; Klasse- provoziert durch Außenreize, wurde angehalten, den provozierten Vorfall zu Protokoll zu geben. Der Vorfall wurde von älteren Schülern gespielt und lag wortgenau vor - auch die Handlungsabläufe waren genau fixiert.

Es war sehr interessant, wie unterschiedlich die Beschreibungen der Schüler war - aber das Grundgerüst der faktischen Handlung war gleich: war das die selektierte Gesamtwahrheit ... selektiert aus vielen Einzelwahrnehmungen ?

Dass "im außermoralischen - faktischen Sinne " ja viel Einzelwahrnehmungen zusammenkommen, ist Binsenweisheit. Ich glaube, bei Frege mal darüber gelesen zu haben - kann mich aber im Autor irren.

Na - und codiert sind alle unsere Wahrnehmungen ( Wahr = wahr - Wahrheit).

Linguistisch durch die jeweilige Sprache der Wahrnehmenden.
Soziologisch durch die Schicht, in die die Sprecher/Innen einordenbar sind.

Und - hier sehe ich das wie Ziesemann: durch die " erworbene" Moral. Auch sie ist eine Codierung unseres Handelns.


Nun ja ....


Marianne
 
Wortklauberei oder nicht, das ist die Frage...

Ich freue mich sehr, wenn man sich intensiv mit meinen Thesen auseinandersetzt. Nur so kann eine Annäherung über Begriffe erfolgen, was ja erst der erste Schritt ist, um zu Ergebnissen zu kommen. Aber wie schwer ist das...!
Zunächst aber etwas eher Leichtes:


Was eine „moralisch codierte Selektion“ ist habe ich, lieber Robin, schon rein begrifflich nicht verstanden. Aber vehement widerspreche ich Deiner Behauptung, daß in den 80er Jahren der Schwerpunkt auf „Atomkraft und Krieg, aber nicht auf Kinderkriegen“ lag.
Ein Missverständnis, geschuldet meines teilweise etwas spezialisertem Vokabular.
Selektion ist ein Begriff aus der Evolutionstheorie und bildet mit den Begriffen Variation und Reproduktion deren Grundlage.
Was hier variiert wird, sind Themen. Moralisch codiert sind sie, wenn sie die Unterscheidung gut/böse im weitesten Sinn betreffen, als z.B. AKWs sind gut. Oder Aufrüstung ist böse.
Wir müssen uns vorstellen, dass es auf der Themenagenda immer viele Themen gibt, die vor allem dann konkurrieren, wenn sie den selben Code betreffen. Moralische THemen haben generell eine gute Chance, sich durchzusetzen, da sie Emotionen schüren. Kinderkriegen war auch eine Frage für Jedermann in den Achtzigern. Aber es wurde nicht zum Thema, schon gar nicht zu einem moralischen. (und wenn, wie ich an anderer Stelle schon sagte, dann oft im Sinne der Frage, ob man "in so eine Welt" denn noch Kinder setzen dürfe.)
Mit Realität moralisch codierter Selektion meine ich, dass Individuen ja nur an Kommunikation teilnehmen können, wenn sie vorbereitet ist, in Massenmedien reflektiert werden usw. Ein Einzelner kann ein Thema aufbringen, wenn es sich aber nicht (evolutionär!) durchsetzt, wird es sich nicht verbreiten. Die Realität aus kommunikativer Sicht war also, dass das Kinderkriegen kein Problem ist, zumindest kein moralisches. Die Renten galten ja auch als "sicher" (N. Blühm).
Stellt sich dann die Frage: Wie sehr kann ein Individuum im Nachhinein dann dafür (moralisch) verantwortlich gemacht werden?

Das ist jeweils individuell ein Verstoß gegen den kategorischen Imperativ Kants, kann doch niemals diese prinzipielle Entscheidung zur „Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden“.

Widerspruch, weil: Man kann auch nicht das Kinderkriegen zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung machen. Kinderkriegen kann niemals gesetzlich geregelt werden und daher auch nicht Grundlage eines moralischen Imperativs werden.

So jetzt wirds komplizierter:
Verzeih’ Robin, aber Deine Einführung des Begriffs „Selektion“ erscheint mir Wortklauberei. Was die Gesellschaft selektiert, ist nichts anderes als eine mehrheitliche Selektion, also eine Entscheidung Pro oder Contra von X.
Also wie schon gesagt, die Selektion bezog sich auf Themen, also auf Kommunikation, nicht aufs Kinderkriegen. Dennoch, zur Unterscheidung Mehrheitsentscheidung/Individualentscheidung:
Wenn du sagst, eine Gesellschaft entscheidet sich gegen Kinder; dann mus trotzdem konstatiert werden, dass ja Kinder gezeugt werden, dieses Jahr 700 000. Eine interpretationsbedürftige Zahl, bzw. eine Tahl, die dann als nichtig erklärt werden muss.
Wenn du dagegen sagst, ein Individuum entscheidet sich gegen Kinder, ist das klar zu definieren: 0 Kinder ist: dagegen entschieden. Wenn aber eine Frau nicht zeugungsfähig ist oder der Mann, dann müssen wiederum diese Tatsachen als nichtig erklärt werden, in einer moralischen Verurteilung der angeblichen Entscheidung der Gesellschaft gegen das Kinderkriegen. Wenn du solche Unterschiede für unwichtig erklärst, haben wir wahrscheinlich verschiedene Ziele bei der Erkenntnisgewinnung.

Generell ist aber zu sagen: Wenn wir eine Entscheidung fällen, müssen wir vor eine Wahl gestellt werden. Es müsste ein Votum abgegeben werden, dass dann bindend wäre: Z.B. 65% entscheiden sich für Kinder, dann müsste entsprechend dem Ergebnis die Aufgaben verteilt werden. SO etwas ist aber undenkbar, daher führt die ganze "Entscheidungssemantik" auf die Gesellschaft bezogen in die Irre, schon gar wenn man sie moralisch beurteilen will.


„Automatisch“ entsteht in der menschlichen Kommunikation gar nichts, dahinter stecken immer Menschen, wie der Redakteur, was Du zurecht bemerkst, eben seine Meinung hat und nicht die von BILD kundtut, was mindestens sprachlich unsauber ist. Aber wieso die Lüge „allein“ (?) schon aus der Ungenauigkeit, der Unbestimmtheit entstehen und eine Versuch sein soll, das „Unbestimmbare zu bestimmen“, das alles vermag ich wieder nicht zu verstehen. Wenn ich z.B. lügen würde: „Hindenburg war im WK II ein Generalfeldmarschall unter Hitler“, dann ist das eine höchst genaue, eine sehr präzise Aussage – aber eben eine Lüge, denn ich weiß und kann beweisen, daß Hindenburg im Juli 1934 gestorben ist.
Schön, dass du das beweisen kannst, ich kann das nicht. Ich stimme hier mit Marianne überein, dass wir Wahrheit grundsätzlich als soziales Konstrukt sehen müssen, die der Evolution, also auch der Selektion unterliegt. Bei einem Thema wie Hindenburg zu streiten, wäre abwegig, aber gerade bei Themen, die sich um Moral und andere relative Wahrheiten drehen, ist es sehr einleuchtend, auch zu untersuchen, warum bestimmte Themen mal so und mal so gesehen werden und welche Wertigkeit sie in abhängigkeit von äußeren Ereignissen bekommen.
Meine Formulierung war zugegebenermaßen etwas provokativ und wollte sagen: Eben weil Wahrheit und Moral so unsichere Kandidaten sind, neigt der Mensch dazu, diese Unsicherheit durch moralisch eindeutige Statements zu kaschieren. Wenn man z.B. nicht genau weiß, wie krank man ist, sagt man schnell: "Die Ärzte sind alle Verbrecher" Und weniger drastisch gibt es diese Tendenz überall, denke ich.
 
AW: Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

Von einem Mitglied des DF wurde ich gebeten, einen Thread dieses Themas zu eröffnen.

Was sollen eigentlich diese Stellvertreterthreads? Warum eröffnet derjenige den Thread nicht selber? Und warum wird dieses Faktum extra erwähnt? Oder aber ist das eine Art Sicherheitsnetz, quasi ein doppelter Boden?

Fragen über Fragen ...

Genauso wie ich immer stutze, wenn - in welchem Zusammenhang auch immer von (der) Wahrheit ausgegangen wird. Sollte es sich tatsächlich noch nicht herumgesprochen haben, dass es die Wahrheit nicht gibt, höchstens Wahrheiten (wobei dies demnach auch keine absolute Wahrheit darstellt ...)

Wenn sich der angesprochene Zusammenhang dann noch aus (ethischen) Normen generiert (indiziert durch die Wörtchen "soll", "muss"), die relativ sind, und die sich im wechselseitigen Spannungsverhältnis des betreffenden Individums und dem ihn umgebenden Kulturkreis generieren und die mitnichten nach einem (empirisch-analytischen) Wissenschaftkonzept (derzeit) allgemein begründbar gemacht werden könnten (das hatte ich irgendwo vor einiger Zeit schon einmal angeschnitten), tja dann sehe ich wenig Sinn in dieser Frage und der sich daran anschließenden Diskussion ...


P.S.: Weil das Gleiche, nämlich die Frage, warum 1+1=2 sei, küzlich schon mal auftauchte: Das ist mitnichten eine begründbare Tatsache oder gar eine Wahrheit, sondern ein Axiom, gweissermaßen eine Operationalisierung mit der man zweckmäßig arbeiten kann. Und bislang hat sich doch das Subsystem "Mathematik", deren sich auch viele empirische Wissenschaften bedienen, als sehr zweckmäßg herausgestellt.
 
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AW: Wahrheit - kann, soll, darf muß man sie immer sagen?

Zurecht moniert Marianne (es wäre schön, wenn sie auch fürderhin auf persönliche Invektiven verzichten würde), daß ich Wahrheit undefinierbar ließ.
Ich versuche es:
Wahr ist eine Aussage, bei der das Gegenteil objektiv unmöglich gleichzeitig Gültigkeit haben kann. Das Ergebnis „X“ kann nicht gleichzeitig 1 oder 2 sein.
Völlig daneben ist die Annahme, ich würde unter Wahrheit nur „historische Faktengenauigkeit“ verstehen, die zwar auch, aber nicht nur die. Im gesamten Bereich der sog. exakten Wissenschaften – zu denen die Philosophie nicht zählt – haben wir allgemein anerkannte Wahrheiten, die freilich wie alle immer nur vorläufige sein können. – Beispiel: Nicht zuletzt in diesem DF habe ich gelernt: Wenn etwas geradezu tausendfach bewiesen ist, dann ist es die Evolutionstheorie, gegen die nicht einmal ansatzweise ein Gegenbeweis angetreten werden konnte und Glaubensthesen sind keine Beweise.
Eine Aussage gilt als wahr, wenn sie verifiziert werden kann, d.h. jeder Verständige kommt zum selben Ergebnis, wenn er mit denselben nachprüfbaren Methoden zum selben Ergebnis kommt. Doch der Verifikation bedarf es nach Popper nicht einmal, für ihn gilt die Falsifizierbarkeit. Sie, die Aussage, gilt so lange als wahr, wie sie nicht falsifiziert worden ist. Zum Beispiel für Robin: Niemand hat bis jetzt falsifiziert, daß Generalfeldmarschall Paul von Hindenburg am 2. August 1934 gestorben ist; dazu gibt es Sterbeurkunde und Zeugenaussagen (Verifikation).
Im Bereich der Ethik und Moral (beide Begriffe sind schwer zu unterscheiden und deshalb taten wir es bisher wohl nicht) existieren moralische Werte, die sich dieser Falsifizierbarkeit entziehen. Nehmen wir als Beispiel die Menschenwürde. Sie ist nach Art. 1 der deutschen Verfassung „unantastbar“. Sie ist der absolut oberste Wert schlechthin und gilt für jeden Menschen ab Geburt. Doch selbstverständlich kann niemand „beweisen“, daß ein neugeborenes, hilflos schreiendes Bündel Mensch bereits Würde besitzt. Es handelt sich bei diesem Begriff um eine wertsetzende Grundentscheidung, die für die meisten vorpositiver Art ist, also im Naturrecht wurzelt. „Würde ist eine nicht interpretierte These“ (Th. Heuß). Das Gerüst ethischer Wertsetzungen, warum ist es z.B. – außer in Notwehrsituationen - moralischer, einen Menschen leben zu lassen statt ihn zu töten. Das ist – sofern man nicht an einen lohnenden/strafenden Gott glaubt - nicht mehr begründbar. Das ist eine voraussetzungslose These.
Wenn ich nicht wieder des zu großen Wortreichtums geziehen würde, hätte ich gern zu Mariannes Schulklassenbeispiel etwas gesagt. Das Experiment habe ich als blutjunger Lehrer vor einem halben Jahrhundert mit selbiger Erkenntnis gemacht, und sie ist – pardon verehrte Marianne – ein alter, um nicht zu sagen uralter Schlapphut schon aus fernen Jahrtausenden.
Lieber Robin, wenn Du gleich gesagt hättest, daß Du den Selektionsbegriff der Evolutionstheorie entnimmst, hätte ich Dich sofort verstanden. Aber Deiner Schlußfolgerung widerspreche ich gerade deswegen: Die Entscheidung, keine Kinder kriegen zu wollen, führt evolutorisch in eine baldige Sackgasse, ist also eine gegen das Naturgesetz des Lebens und Überlebens (der Genen). Und insofern – wie ich an anderer Stelle mehrfach dargelegt habe – als alle egal ob mit oder ohne Kinder, im Alter von den heutigen Kindern leben, ist ihre bewußte und gewollte Entscheidung zur Kinderlosigkeit eine negativ moralische, nämlich eine Unmoral. (Bitte beachte Robin, daß ich nur von den Menschen mit Entscheidungsfreiheit spreche, natürlich nicht von Zeugungs- und Gebärunfähigen.)
Natürlich kann man Kinderkriegen nicht zum Gesetz erheben; aber die Gesellschaft kann mit ihrem Handlungsorgan Staat das Kinderkriegen fördern: Kindergeld, Elterngeld, Kitas, drastische Steuervorteile (alles nur zu Lasten der Kinderlosen, versteht sich) Anhebung des sozialen Status der „Nur-Mutter“ etwa durch hohe Rentenansprüche usw. usf.
Abschließend: Mir scheint Robin, daß wir vor allem terminologisch auseinander lagen (und noch liegen?). Was Du das Konstrukt der Wahrheit durch evolutorische Selektion nennst, bezeichne ich schlichter als zeitgeistbedingt und stets nur als vorläufig. Aber ist es nicht so, daß wir eine zunehmende Kongruenz – wenngleich diese niemals deckungsgleich sein wird, das wäre göttlich - der Erkenntnis und des objektiven Seins erreichen? Denn immerhin sind wir nicht mehr wie die Germanen der Überzeugung, daß es der hammerschwingende, durch die Wolken reitende Thor ist, der die Blitze erzeugt.
Grüß Dich - Ziesemann
 
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