Es war dies der erste Versuch der deutschen Regierung, aus Deutschland
geflohene Autoren massiv einzuschüchtern, ihre literarische wie journalisti—
25 Siehe insbcsondcrcjan Hans, „Lieber Gott, mach mich stumm, daß ich nicht nach
Wittrnoor komm?“ Heinz Liepmanns Doltumcntarromanc aus Nazi-Hamburg.
ln: Ingo Stephan, Hans-Gen Winter (Hg), „Liebe, die im Abgrund Anker wirft“.
Autoren und literarisches Feld in Hamburg des 20. jahrhundcrts. Hbg. 1989.
S. lßl - [74, sowie Michael Marshall, Nazi-Terror und Widerstand in Hamburg im
Zeitroman des frühen Exils: Wirklichlteitscrlahrung und Wirltungsstrategicn bei
Willi Bredcl und Heinz Liepmann. Hbg. 1987.
26 Nach der Beschlagnahme und dem Gerichtsverfahren erschien das Buch, über-
Sflzl von P. V00gd‚ unter dem Titel „Het Vaderland (Een Documcntatiertiman uir
het Duitschland van nu)“ 1934 im Amsterdamer Verlag „Arbeiderspers“.
27 „Heinz Liepmann verhaftet“. Pariser Tageblatt, Nr. 65, 15.2.1934.
28 „Sündenregister der Osthilfe“. Das Tagebuch l4._|g. Heft 5, 4.2.1933. - Siehe auch
Heinrich August Winkler, Der Weg in die Katastrophe. Arbeiter und Arbeiter-
bewegung in der Weimarer Republik 1930 bis 1933. Berlin und Bonn 1987. S. 843i.
Page 10
192 Wilfried Weinlte
sehe Aufklärungsarbeit zu be- und zu verhindern. Schon die Inhaftierung,
vor allem aber Prozeß, Urteil und angedrohte Abschiebung waren von der
deutschsprachigen Exilpresse in Paris und in Prag aufmerksam verfolgt wor-
den”. Der „Schutzverhand deutscher Schriftsteller“, mit Sitz in Paris, schick-
te ein Telegramm an den holländischen Justizminister, in dem gegen die
„willkürliche Inhaftierung des Kollegen Liepmann“ protestiert wurde.”
In der Haft erhielt Heinz Liepmann zahlreiche Solidaritätsadressen; so
schrieb ihm Albert Einstein: „Sehr geehrter Herr Lieprnnnn! Ich habe Ihr
Buch „Vaterland“ mit grofltem Interesse gelesen und glaube, daß es die
bedeutendste Publikation ist, die mir über Hitler-Dentschland zu Gesicht
gekommen ist. Die Verbindung der Tatsachen zu einer E rzäblung erzielt eine
Lebendigkeit des Eindrucks, wie sie durch eine Aneinanderreihung unznsam-
menbängender Tatsachen niemals erreicht werden kann. Ich wünsche nicht
nur Ihnen, sondern der ganzen wirklich zivilisierten Welt eine möglichst
weite Verbreitung des Bttches.“" Ähnlich äußerte sich Lion Feuchtwangen
Solchen Solidaritätsbelsundungen sowie den Protesten war es vermutlich zu
verdanken, daß Heinz Liepmann im März 1934 nach Belgien abgeschoben
wurde”. — Es sind diese Vorgänge, die den eingangs erwähnten „Fall
Liepmann“ ausmachen und in der Beschäftigung mit Heinz Liepman immer
wieder Erwähnung finden.
Am 28. September 1934 erschien in der Zeitung „Das deutsche Wort/Die
Literarische Welt“ eine Rezension zu Heinz Liepmanns „Das Vaterland“,
die seinen Roman von Verfolgung und Widerstand in Deutschland als
29 Vgl. die entsprechenden Berichte in den Zeitungen „Pariser Tageblatt“, „Deutsche
Freiheit“, „Der Gegen-Angriff“ u.a.
30 Zitiert nach der Meldung „Protest gegen Liepmanns Verhaftung". Deutsche Frei-
heit 2. ]g.‚ Nr. 50, 1.3.1934. - Siehe auch den Artikel „Holland liefert aus! Vier
Emigranten über die deutsche Grenze gebracht — Auflösung eines geheimen
jugendkongresses.“ zum Latten-Skandal auf der Frontseite der Zeitung.
31 Zitiert nach der Anzeige des Verlages P.N. van Kampen 3c Zoon, Amsterdam. In:
Almanach für das freie deutsche Buch. Hrg. v. Kacha-Verlag, Prag. Prag 1'335. S.
33.
„Herr Liepmann free. N0 Extradition.“ The Manchester Guardian, Nr. 27303,
20.3.1934, sowie im gleichen Tenor „Heinz Liepmann frei. Keine Auslieferung an
Deutschland.“ Deutsche Freiheit 2. Jg, Nr. 69, 23.3.1934. — Zu diesem Gerichts-
verfahren und seiner Bedeutung für exilierte deutsche Schriftsteller hielt ich im
März 1998 während der Jahrestagung der „Gesellschaft für Exilforschung“ in
Amsterdam einen Vortrag mit dem Titel „Ich erinnere an den Fall des Schrift‘
stellers Liepmann in Holland (Ernst Toller). Prozeß und Inhaftierung Heinz
[.icpmanns im Frühjahr 1934 in Holland als Beispiel der Verfolgung von Schrift-
stellern und der Unterdrückung ihrer Bücher“.
32
Page 11
„Ein deutscher Jude denkt über Deutschland nach“ 193
„hysterische Propaganda“ und als „Schandbacb“ diffarnierte. Die Zeitung
empfahl Heinz Liepmann der „Aufmerksamkeit nnseres Auswärtigen
drittes.“-Mr
ln der Ausbürgerungsakte Heinz Liepmanns findet sich ein vom Oktober
1934 datiertes Schreiben der Deutschen Gesandtschaft in Den Haag, in dem
es zum Schluß heißt, „daß im Falle Liepmann Voraussetzungen vorliegen,
die eine Aasbtirgerung TECbIf€TIigCH.“H Mehrseitige Berichte, Zeitungsaus-
schnitte, Briefe des Deutschen Generalkonsulats in Kanada bezeugen, daß
man Heinz Liepmanns Aktivitäten, seine Vortragsreise in den USA und
Kanada, seine Interviews mit dortigen Zeitungen genauestens beobachtete
und verfolgte. Am 8. ]uni 1935 gab der Reichsminister des Innern bekannt,
daß u.a. Bertolt Brecht, Nachum Goldrnann, Rudolf Hilferding, Kurt Hiller,
Max Hodann, Heinz L iep mann , Erika Mann, Walter Mehring, Kreszentia
Mühsam, Erich Üllenhauer, justin Steinfeld, Friedrich Wolf die deutsche
Staatsbürgerschaft aberkannt wurde, Bezogen auf Heinz Liepmann hieß es in
der Begründung dieser Entscheidung: „Heinz Liepmann, jüdischer Schrift-
steiler, treibt in aller Welt üble Greaelhetze durch seine Schriften und in
öffentlichen Vortragen. 1 n Holland wurde er wegen Beleidigung des verewig-
ten Reichsprasidenten mit Gefängnis bestraft und nach Belgien abge-
sc‚l':ri:i.f2enr.“"‘5
Noch im Jahr der Ausbürgerung erschien im Europa-Verlag in Zürich
Heinz Lieprnanns zweites, im Exil erschienenes Buch „... wird mit dem
Tode bestraft“ . Es spiegelt, wie auch der erste Roman, die Zeit unmittel-
bar nach der Machtübertragung an die Nationalsozialisten. Der etwas merk—
würdig klingende Titel des Buches ist ein Zitat des Deutschen Reichsgesetzes
vom 24. April 1934, in dem es hieß: „Mit dem Tode bestraft wird, wer sich
bemüht, einen organisatorischen Zusammenhang aufrecht zu erhalten Mit
dem Tode wird bestraft, rteer eine Beeinflussung der Massen durch Herstel—
lang oder Verbreitung ‘von Schriften etc. versucht?“ lrn Mittelpunkt dieses
33 „Greuelpropaganda“. „Das deutsche Wort/Die Literarische Welt — Neue Folge
1934“, 10. Jg. (Neue Folge, 2. Jahr), Nr. 40, 23.9.ra34.
34 Schreiben Deutsche Gesandtschaft Den Haag an Auswärtiges Amt Berlin,
4.10.1934, betr. Antrag auf Ausbürgerung des Alfred Kantorowicz und NLH.
Liepmann. (fitrchit.r des Auswärtigen Amts Bonn, Inland ll AfB—l28f2, Ausbürge-
rungsakte Max Heinz Liepmann).
35 Ebd. Zitiert nach der Niederschrift zur vierten Ausbürgerungsliste. Die am 8, Juni
1935 bekanntgemachte Aberkennung der deutschen Staatsangehörigkeit wurde
am 13. Juni 1935 im „Deutschen Reichsanzeiger und Preußischen Staatsanzeiger“
veröffentlicht.
36 Zitiert nach dem Reichsgesetz vom 24.4.1934; als Vorsatz abgedruckt in: Heinz
Liepmarln, wird mit dem Tode bestraft. Europa-Verlag. Zürich 1935.
Page 12
194 Wilfried Weinke
Buches, das ebenso wie der Roman „Das Vaterland“ ausschließlich in Ham-
burg spielt, steht der antifaschistische deutsche Widerstand und dessen illega-
le Arbeit. Heinz Liepmann versuchte auch mit diesem Buch an das andere,
das bessere Deutschland, das sich im Widerstand gegen die Nationalsozia-
listen befand, zu erinnern".
Heinz Liepmann lebte von 1935 bis 1937 in England“, ging von dort in die
USA. Für die „New York Times“ schrieb er Artikel über deutsche Exil-
autoren und -literatur3", veröffentlichte sporadisch in anderen amerikani-
schen Zeitungen.“ Nach eigenen Angaben arbeitete er seit 1943 für die ame-
rikanische Zeitschrift „Times“, die ihn zur Berichterstattung 1947 nach
Deutschland schickte.
Heinz Liepman blieb in Deutschland. Für die Herbst-Ausgabe des „Me-
norah Journal“, einer in New York erscheinenden Zeitschrift für jüdische
Kultur und Kunst, schrieb er 1947 den Artikel „Hamburg, Germany:
The Survivors“ *', in dem er die Situation von Überlebenden der deutschen
Judenverfolgung in seiner ehemaligen Heimatstadt schilderte. In der Folge-
zeit arbeitete Liepman für die unterschiedlichsten Zeitungen, die „Hambur-
ger Freie Presseml, erneut für das sozialdemokratische „Hamburger Echo“,
3? Vgl. u.a.: James T. Farrell, „Porträt of a Revolutionary. ‚Fires Underground‘, a
Tense und Tragic Account of What Happens to Hitlcr’s Encmies.“ New York
Herald Tribune Books, 30.8.1936; Boris Erich Nelson, Those Who fight for and
against Hitler. New York Times Book Review, 27.9.1936. — Siehe auch das
Nachwort von Hans Albert Walter in: Neudruck von „... wird mit dem Tode
bestraft“, der 1986, versehen mit Ruth Liepmans biographischem Abriß zu ihrem
verstorbenen Mann, im Gerstenberg-Verlag, Hildesheim, erschien.
38 Laut Auskunft des Home Office, Record Management Services, vom 24.3.1995. -
Tvgl. auch Wilfried Weinke, spent a very short timc in the United Kingdom‘:
Heinz Liepmann im englischen Exil. In: Charmian Brinson, Richard Dove u.a.,
Keine Klage über England? Deutsche und österreichische Exilerfahrungen in
Großbritannien 1933-1945. München 1998 (= Publications of the Institute of
Germanic Studies, University of London, Bd. 72). S. 302-316.
39 Heinz Liepmann, „German Literature Outside Germany.“ New York Times
Book Review, 13.10.1935; Heinz Liepmann, .‚The German Writers in Exile.“
New York Times Book Review, 23.1.1938.
40 Vgl. Anm. 10. Heinz Liepmann hat im amerikanischen Exil natürlich weit mehr
Zeitungsartikel und Kurzgeschichten veröffentlicht, als in dieser knappen Biblio-
graphie aufgelistet werden konnten. Diese publizistische Aktivität Liepmans
werde ich an anderer Stelle ausführlicher präsentieren.
41 The Menorah Journal, Vol. XXXV, N0. 3, October — December 1947.
«I2 U. a. Heinz Liepman, „Wiedersehen mit Hamburg." Hamburger Freie Presse 2.
Jg. Nr. 71. 6.9.1943’.
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„Ein deutscher jude denkt über Deutschland nach" 195
den ‚.Jülleser-Kurier“-1 in Bremen. Er veröffentlichte Artikel in der Zeitschrift
„Kristall““. Es entstanden eigene Radiobeiträge und Essays; 1956 sendete der
Süddeutsche Rundfunk in Stuttgart sein Radio-Feature „Die Früchte des
Kaktus. Eine Reise durch den Staat lsrael““5, für das Heinz Liep-
man wochenlang in Israel recherchiert hatte. Seit 1959 war er ständiger Mit-
arbeiter der Tageszeitung „Die Welt".
Nach der Rückkehr aus dem amerikanischen Exil hatte er die ebenfalls aus
Hamburg stammende Ruth Lilienstein kennengelernt. Sie heirateten 1949,
ein Jahr später gründeten sie eine für den deutschen Buchmarkt ungewöhn-
liche Einrichtung, eine Literaturagentur, sozusagen eine Schaltstelle
zwischen Autor und Verleger. Die „Liepman AG“ mit Sitz in Zürich ist
heute eine der angesehensten Agenturen der Welt.“
ln ihrer 1993 erschienenen Autobiographie „Vielleicht ist Glück
nicht nur Zufall“ schreibt Ruth Liepman über ihren Mann: „Als ich
ihn traf, rtear er schon seit einer ganzen Zeit aus dem amerikanischen Exil
zurück in Hamburg Er erzählte mir von seiner umfangreichen Korrespon-
denz mit alten Nazis, die auf seine scharfen Artikel über die Gefahren im
Nachkriegsdeutschland reagiert hatten. Zum Beispiel hatte er die ‚Wende-
hälse‘ ‘von damals angegriffen, die vorher Nazis waren und sich nun prohlerns
los als staatstragend in der Bundesrepublik sahen. Diese Korrespondenz, die
leider nicht mehr existiert, enthielt wüste Drohungen und ßeschimpfungeirm’
Die frühen Artikel, auf die Ruth Liepman hinweist, sind offenbar nicht
mehr erhalten. Dafür aber die Artikel: „Müssen wir wieder emigrieren ‚im‘.
43 Die erste Arbeit Heinz Liepmans für den „Weser-Kurier“, die Kurzgeschichte
„Mein erster amerikanischer Gangster.“. wurde am 21.2.1948 veröffentlicht.
44 Heinz Liepman, „Die Mörder G.m.b.H." Kristall 5. Jg, 1950, Nr. 13. S. 4-5, 21.
Bis weit in die fünfziger Jahre publiziert Heinz Liepman regelmäßig in „Kristall“,
vor allem Reportagen in mehreren Fortsetzungen.
45 Gesendet am 13.11.1956.
46 Ruth Bindel „Literarische Agenturen: 3 Dr. Ruth Liepman. Theater, Hotel,
Hühnerfarm, Agentur. Schwergewicht liegt bei den Angelsachsen, die Liebe gilt
den deutschen Autoren.“ Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 9.2.1975;
Heinrich Maria Ledig-Rowohlt: „Ehen stiften. bei denen es nicht zur Scheidung
kommt.“ Börsenblatt für den deutschen Buchhandel, 21.4.1989. Ledig-Rtiwohlt
schrieb diesen Artikel anläßlich des 30. Geburtstages von Ruth Liepman.
4? Ruth Liepman, Vielleicht ist Glück nicht nur Zufall. Erzählte Erinnerungen. Kiiln
1993. S. 162. — Siehe auch Matthias Wttgncr, „Rosen für die Dame. Die ‚erzählten
Erinnerungen‘ der Literaturagentin Ruth Liepman." Frankfurter Allgemeine Zei-
tung, Nr. 85, 13.4.1993, sowie Wilfried Weinke, „Jüdin, Antifaschistin, Literatur-
agentin. Die Erinnerungen der Ruth Liepman“. die tageszeitung, 7.5.1993.
43 Die Welt, Nr. 44, 21.2.1959.
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196 Wilfriecl Weinlse
„Aber er hat doch die Autobahnen gebaut ..."*", „Sollen wir un-
ser eigenes Nest beschmutzen?“5° und „Politik? Um Himmels
willen Selbstgespräch eines Zeitungslcsers.“5‘, die Heinz Liep-
man als Mitarbeiter der Tageszeitung „Die Welt" veröffentlichte und die
große Beachtung fanden.
Den am 21. Februar 1959 veröffentlichten Artikel „M üss en wir wieder
emigrieren P“ leitete die Redaktion der „Welt“ mit folgenden Sätzen ein:
„Hahenlereuze an Synagogentüren, Schändung jüdischer Friedhbfe, Lehrer,
die antisemitischer Äußerungen überführt sind, iible judenhetze in (wenn
auch verschrobenen) Broschuren: Solche Meldungen sind seit geraumer Zeit
häufiger geworden? Wie soll man sie deuten? Was ist überhaupt mit uns los?
Und wie denken diejenigen darüber, die einmal unter dem Ausnahme-
gesetz darteinistischen Mordes standensmsz Heinz Liepman begann seinen
Artikel mit der Bemerkung, daß „gerade 15 fahre ‘verstrichen sind seit der
Zeit, da einige zehntausend Deutsche emigrieren mußten, um ihr Leben zu
retten - oder ihre ‚S'elbstachtung.“ Er schlug einen Bogen zur aktuellen
Situation und wies darauf hin, daß schon wieder Menschen „nicht wegen
akuter Lebensgefahr, sondern wegen akuter Gefährdung ihrer Integrität“
vor demselben Problem stünden, „ob sie ihre zweite Emigration vorbereiten
sollen,“
Unter der Zwischenüberschrift „Beunruhigende Zeichen“ lieferte er eine
ironische Zustandsbeschreibung: „Uns alle stört der Antisemitismus, über
den die Zeitungen jetzt wieder so häufig berichten, hauptsächlich als ein
Symptom. Die einzelnen antisemitischen Aktionen beunruhigen uns natürlich
kaum, da uns Polizei und Staatsanwälte versichern, daß die Leute die
Grabsteine in jüdischen Friedhöfen umstiirzen und neue Synagogen mit alten
Hahenhreuzen bemalen, entweder Kommunisten sind oder spielende Kinder.
Und auf Lebenszeit festangestellte Richter bestätigen uns, daß die Leute, die
gelegentlich antisemitische Äußerungen ‘von sich geben, enrttieder betrunken
oder unzurechnungsfähig sind - und daß sie ihre Äußerungen sofort bitter
bereuen, wenn sie‘ zur Rechenschaft gezogen werden sollen.“
Liepman, der sich zu jenen zählte, die „an die sanfte Gewalt der Vernunft
glauben“, störte nicht „der mickrige Antisemitismus in diesem Land Was
uns beunruhigt, ist, daß so viele Übermenschen rvon Anno dazumal jetzt - 'tciie
49 Die Welt, Nr. 135, 13.6.1959.
50 Die Welt, Nr. l, 2.1.1960.
51 Die Welt, Nr. 152, 2.7.1960.
53 Siehe Anm. 48. Wenn nicht anders angegeben, folgen die Zitate dem Wortlaut die—
ses Artikels.
Page 15
„Ein deutscher-Jude denkt über Deutschland nach“ 197
auf ein Zeichen - plötzlich Morgenluft wittern, daß sie i'iberaii in diesem Land
plötzlich wieder au fta neben. “
Er kritisierte, wie er schrieb, die „Satrbeit und die Saturiertbeit“ im
„Wirtsebaftswunder-Paradies" Deutschland und beklagte die Einsamkeit des
diese Entwicklung kritisierenden Schriftstellers: „... ‘wenn man das Land, in
dem man geboren ist und in dem man lebt, genügend liebt, um es verbessern
zu ‘wollen, indem man unabbdngig bleibt und Kritik übt - dann werden ‘wir
im Osten Reaktionare oder Faschisten genannt, und bei uns im Westen
Vateriandstrerriiter oder Kommunisten.“ Sein Resümee lautete: „„. ich weiß:
auch wenn wir ernigrieren, finden ‘wir dieselben Gründe der Beunruhigung,
mehr oder weniger, in den anderen Ländern. Aber es ist dieses Land, zu dem
wir gehören, das wir lieben, in dem wir uns mitverantwortlich fühlen.“ Da
dieser Artikel ein ungeheures Echo hervorrief, die Briefe, die die „Welt“
erhielt, nach Angaben der Redaktion „ein Buch mittleren Umfangs füllen“
konnten, sah sich die Zeitung aufgefordert, am 7. März 1959 eine ganze Seite
für das Leserecho einzuräumen. Überschrift und Tenor der Leserbriefe: „Sie
sollen nicht auswandern" 53
Am 2. Januar 1960 veröffentlichte „Die Welt“ Heinz Liepmans Artikel
„Sollen wir unser eigenes Nest besehmutzen?“M Gleich mit den
ersten Sätzen beschrieb er das Problem, das er in diesem Artikel behandelt.
„Beschmatzen wir unser eigenes Nest, wenn wir noch beute, im Jahrs’ 1'960,
von unserer ,unbewditigten Vergangenheit‘ sprechen - wenn ‘wir einen Spaten
einen Spaten nennen, einen Nazi einen Nazi, einen Verbrecher einen Ver-
brecher? l n diesen letzten jabren sind wir- Publizisten und andere Mahner
— immer wieder beschuldigt werden, auf solrbe Art das eigene Nest zu
beschrnutzen. Von wem kommen diese Beschuldigungen? Kommen sie von
Leuten, die gar nicht merken, daß ibr Nest schmutzig ist, oder —— von Men-
scben, die sich in diesem Schmutz wobfiiibien .9“
Für Liepman stellte sich die Auseinandersetzung der Deutschen mit ihrer
Vergangenheit so dar: „Bei uns bat sich — das wissen wir aiie — in den jabren
des Dritten Reiches derart viel Unrat und Gift angesammelt, daß nicbt nur
unser Haus, sondern ein großer Teil der Weit davon infiziert wurde. Nun
müssen wir erkennen, daß ‘viele Leute sebr ‘viel von dem, was damals geschah,
verdrängt und ‘vergessen baben und daß außerdem viele Menschen rnancbes
wirklich nicht 'wußten oder wissen wollten.“
53 „Sie sollen nicht auswandern. Starkes Echo der Leser auf den Artikel <Müssen wir
wieder emigrieren?>“‚ bearbeitet von Güsta v. Uexltüil. Die Welt, Nr. 56,
7.3.1959.
54 Siehe Anm. 50. Die folgenden Zitate stammen aus diesem Artikel.
Page 16
198 Wilfried Weinl-te
Diese Menschen, die zudem offen dazu neigten, Gestapo- oder SS-Män-
nern zu bescheinigen, daß sie in ihren Anttszimmern, in Gefängnissen oder
Konzentrationslagern nur ‚ihre Pflicht erfüllten‘, diese Menschen nannte er
„denlefaule und scheuklapprtge Bagatellisierer“, die unter Verweis auf das „ Un-
recht, das den Deutschen tiiihrend des Krieges 'tttiderfirhren ist“, vergessen,
„daß lange hetior ein einziger Deutscher seine Heimat verlassen mnßte, Mil-
lionen von faden und ausländischen Zivilisten umgebracht oder 'vertrielaen
wurden.“ Liepman führte als Beispiele Rotterdam, Coventry und Lidice an.
Für den heutigen Leser und „Nachgeborenen“ scheint Liepman völlig
selbstverständliches auszusprechen, aber Ende der 50er, Anfang der 60er
jahre, als sich im Wirtschaftswunderland Deutschland der Wunsch nach
einem Schlußstrich unter die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit
immer häufiger und lauter artikulierte, mußten solche Sätze und Überlegun-
gen störend wirken. Heinz Liepman forderte, daß auch wir unser eigenes
Nest beschmutzen müssen: „Ein Volle kann nur dann seinen Kindern eine
gute Zukunft bieten, wenn es die Wahrheit über sich selbst kennt I n diesem
Sinne sollten wir niemals anfhören, unser ‚eigenes Nest zu heschmutzen‘ -
seihst auf die Gefahr hin, daß wir es dadn rch weniger gemiitiich machen.“
In der gleichen Ausgabe, in der Liepmans Artikel erschien, veröffentlichte
die „Welt“ auch ein Gespräch zwischen dem Kölner Rabbiner Asaria und
Heinrich Böll, Paul Schallück und Wilhelm Unger; ihre Unterhaltung kreiste
um die Frage „Können Juden nach Deutschland zurück ltehreniwß
Das Echo der Leser auf Artikel und Gespräch war immens. So schrieb die
Verlegerin Dr. Hilde Claassen aus Hamburg: „Ich möchte Ihnen sagen, wie
sehr ich es begrüße, daß Aufsätze wie ‚Sollen wir das eigene Nest heschmat-
Zen?‘ in ihrer Zeitung abgedruckt werden. Angesichts der erschreckenden
und heschämenden Vorkommnisse der letzten Zeit in Köln und anderswo
scheint es mir wichtig zu sein, daß Stimmen gehört werden, die mu tig und mit
einer gewissen Lautstärke, aher ohne jede Beirnischitng von Aggressivität die
Dinge heim Namen nennen und sie so zu klären ‘versuchen. “5°
Ernst Wiedemann, Schriftleiter beim Hamburger Elternblatt, schrieb: „Zu
Ihrem Artihei ‚Sollen wir unser eigenes Nest heschmutzen?‘ möchte ich Ihnen
meine uneingeschränkte Anerkennung aussprechen. Er war mir aus dem
Herzen geschrieben. l n mein er langen politischen Vergangenheit hin ich
S5 Die Welt, Nr. I, 2.1.1960. - Vgl. auch „Geduldet oder gleichberechtigt. Zwei Ge-
spräche zur gegenwärtigen Situation der Juden in Deutschland.“ Schriftenreihe
der Germania Judaica. Kölner Bibliothek zur Geschichte des deutschen Juden-
tums. Heft II. Köln. Oktober 196'111.
5h „Aus Briefen an die Redaktion der WELT“. Die 1liiütdt, Nr. I0, 13.1.1960.
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