AW: Vor 75 Jahren ...
@Raphael und Maria56
Hallo Raphael!
Von deiner "persönlichen Wahrheit" bin ich ziemlich beeindruckt, denn sie ist ehrlich und vor Allem realistisch! Ich bin ebenfalls 1951 geboren, habe den Krieg (Gott sei Dank) auch nicht persönlich miterleben müssen, jedoch darüber von meinen Eltern und Geschwistern, welche zwangsläufig daran aktiv "beteiligt" waren, Einiges darüber erfahren.
Jedenfalls habe ich daraus die Erkenntnis gewonnen, das man das keinesfalls das gesamte Volk des "ditten Reiches" pauschal verurteilen darf, für etwas das sie getan bzw. unterlassen haben! Denn alle Menschen hatten Angst ist und die ist immer ein schlechter Ratgeber!
LG
Maria56
Auch ich bin ein Kind der (erweiterten) Nachkriegszeit (Jahrgang 1955) und kenne den Krieg nur aus Erzählungen meiner Eltern und späterhin Schulunterricht sowie eigener Lektüre zum Thema.
Und obwohl ich mein ganzes bisheriges Leben lang immer recht kämpferisch mit gewerkschaftlichem und politischem Engagement befasst war, bin ich mir ganz und gar nicht sicher, ob ich dies auch während der Tyrannei der Nazis gewesen wäre.
Denn es macht einen gewaltigen Unterschied, ob die schlimmste Sanktion, die einem widerfahren kann, der Verlust des Arbeitsplatzes ist oder ob man durch staatlichen Terror schon bei leisester kritischer Äußerung über die herrschenden Zustände an Leib und Leben bedroht ist.
Warum also kann ich einem solchen Satz:
Jedenfalls habe ich daraus die Erkenntnis gewonnen, das man das keinesfalls das gesamte Volk des "ditten Reiches" pauschal verurteilen darf, für etwas das sie getan bzw. unterlassen haben! Denn alle Menschen hatten Angst ist und die ist immer ein schlechter Ratgeber!
nur schwer und dann nur in wohlerwogenen Grenzen zustimmen?
Vielleicht deshalb, weil eine Zustimmung zu dieser Aussage ebenso pauschal wäre, wie die darin verworfenen Verurteilung des "gesamten Volkes des dritten Reiches".
Und Pauschalaussagen lehne ich grundsätzlich ab, denn sie verzerren vorhandene Tatsachen.
Eine pauschale Verurteilung der gesamten Bevölkerung verbietet sich schon aus dem Grunde, weil darunter dann ja auch jene (beklagenswert) wenigen fielen, welche aktiven Widerstand geleistet haben.
Dennoch sehe ich Aussagen wie die obige mit Unbehagen, den ich hörte ähnliche oft genug mit dem Subtext:
"Man darf nicht pauschal verurteilen, also sprechen wir bequemerweise pauschal frei."
Und das, so denke ich, wäre der falsche Umgang mit der deutschen Vergangenheit. Denn diese Anhäufung monströsester Verbrechen von Staats wegen kann nicht einfach mit Stillschweigen und Vergessen quittiert werden, auch nicht ein Dreivierteljahrhundert danach; zumal ja die offiziellen Versuche der verschiedenen Nachkriegsregierungen, mit der Nazi-Vergangenheit korrekt umzugehen, durchweg sehr kläglich ausgefallen sind bis auf den heutigen Tag.
Und nun zum Thema im engeren Sinne:
"Oral history", d. h. die Aneignung der Geschichte auf der Grundlage mündlicher Berichte und Erzählungen von Zeitzeugen, gilt in Historikerkreisen, seriösen jedenfalls, als eine der unzuverlässigsten Methoden, ein zutreffende Bild der Vergangenheit zu erhalten, wenn die geschilderten Ereignisse nicht durch Dokumentenstudium gegengecheckt und damit bestätigt werden oder aber (andere Möglichkeit) durch eine große Menge an solcher Überlieferung sich ein statistisch verwertbarer Durchschnitt ergibt.
Denn die persönliche Erinnerung ist, wie mir mal ein kluger Mann sagte, "kein Archiv, sondern ein Filter" und, wie ich aus eigene Erfahrung zusätzlich erkennen musste, sogar eine Anlage zum Erzeugen von Geschichten.
Daher weiß man bei mündlicher Widergabe von geschichtsrelevanten Erlebnissen eben nie, was Dichtung und was Wahrheit ist, wenn man nicht anhand vorhandener Dokumente nachprüft.
Und daher stand und stehe ich jenen Erzählungen, welche von meinen Eltern, Verwandten und Bekannten überliefert wurden, nicht gerade mit Skepsis, aber doch mit einer gewissen Wachsamkeit für falsche Untertöne gegenüber und versuche, anhand von mir zugänglichem dokumentarischen Material Spreu von Weizen zu trennen.
Gerade nun beim Thema "...das sie getan bzw. unterlassen haben..." neige ich zu einer differenzierten Sichtweise.
Soweit es ums Unterlassen geht, will ich gerne glauben, dass Angst vom aktiven Handeln abhalten kann, wie aber steht es mit dem Tun?
Kann einer (und das waren nicht wenige), der den Nachbarn / die Nachbarin bei den Behörden denunziert hat, weil dieser / diese im Luftschutzkeller am Endsieg zweifelte, sich darauf berufen, er habe aus Angst gehandelt, aus Angst womöglich, wenn er nicht denunziert, denunziert vice versa ihn ein anderer wegen Unterlassung einer Denunziation?
Ich bezweifle das.
Oder wäre so einem nicht doch eher ein wenn nicht gänzliches, so doch im Grundsatz vorhandenes Einverständnis mit dem Regime und seinen Methoden zuzutrauen?
Mir erscheint dies nicht unplausibel.
Wie und wodurch aber könnte man denn nun von derartigen Vorgängen erfahren?
Kaum durch Erzählungen, denn ein seinerzeitiger Denunziant wird sich hüten, im Nachhinein von seinem ethisch doch sehr anfechtbarem Tun zu berichten.
Will man ein halbwegs zutreffendes Bild der Nazi-Diktatur erhalten, kommt man um die Auswertung von Dokumenten nicht herum.
Und dabei drängt sich der Verdacht auf, dass es eben nicht nur und gar nicht einmal hauptsächlich Angst war, was die Mehrzahl zum Mitmachen verleitete, sondern Einverständnis, Bequemlichkeit, Gleichgültigkeit, Untertanengeist.
(Die Italiener beispielsweise haben sich aus eigener Kraft der Diktatur des Duce, die nicht weniger brutal war als die des Schicklgruber, entledigt).
Sei dies nun aber, wie ihm wolle, selbst dann, wenn tatsächlich nur Furcht das Motiv der Bevölkerung gewesen wäre, so bleibt dennoch der Vorwurf bestehen, dass man in der Nachkriegszeit, als eben kein Grund zur Angst mehr bestand, nicht entschlossen genug mit dem Ungeist der Vergangenheit gebrochen hat, sondern im Gegenteil Kontinuitäten in personeller wie auch weltanschaulicher Hinsicht zugelassen, ja teilweise begrüßt und gefördert hat, jedenfalls im westlichen Teil Deutschlands.
Man muss sich doch wirklich fragen, was denn wohl in den Köpfen der "Väter des Grundgesetzes" vorgegangen ist, dass sie nach all dem Unheil, das die mörderische Blut-und-Boden-Ideologie der Nazis mitverursacht hat, es tatsächlich fertigbrachen, als Definition der Zugehörigkeit zur deutschen Bevölkerung ins Grundgesetz hineinschreiben zu lassen:
"Deutscher ist, wer deutschen Blutes ist."
Mir ist unbegreiflich, wie einer klaren Sinnes solch einen Satz formulieren kann, wenn gerade 12 Jahre Tyrannis, in der Rassismus eine wesentliche Rolle spielte, vorbei sind.
Und mir ist unvorstellbar, dass jene, die diese Formulierung wählten, nicht gewusst haben sollten, was sie da ausdrücken und in welchen Traditionen sie sich dabei bewegen.
Nein, auch wenn wir größte Nachsicht walten lassen wollten mit allen, welche während der Nazi-Herrschaft moralisch versagten, das moralische Versagen danach ist nicht so einfach zu entschuldigen, zumal dies bis auf den heutigen Tag anhält.
Man betrachte sich doch nur mal aus jüngster Zeit das würdelose Gefeilsche und Geschacher betreffs der Entschädigung für solche, die während der Nazi-Zeit als Zwangsarbeiter verschleppt worden waren. Was da letztendlich beschlossen wurde, ist eine Schande für unser Land.
Hätte in den Jahrzehnten direkt nach der Befreiung von der Nazi-Diktatur eine Auseinandersetzung mit der Vergangenheit stattgefunden, die dieser Bezeichnung wert gewesen wäre, hätte in obiger Angelegenheit wohl ein anderes, angemesseneres Resultat stattgefunden.
Vor dem Hintergrund einer Nachkriegszeit allerdings, die zum Bersten angefüllt war (und ist) mit Exkulpationen, aktivem Vergessen, beharrlichem Verleugnen und alles in allem konsequenter Flucht vor jeglicher Art von Verantwortung (Fensterreden an Gedenktagen zählen nicht) ist eine derartige Blamage jedoch nur allzu begreiflich.
Nein, allzu viel Nachsicht vermag ich nicht aufzubringen, auch wenn ich konzediere, dass ich, hätte ich zu jener Zeit gelebt, vielleicht auch nicht allzu couragiert gewesen wäre.
Eines weiß ich aber gewiss:
Hinterher hätte ich mich meiner Verantwortung gestellt und nicht, wie es mir nur allzu viele vorführten, mich davor gedrückt.
Jabberwock