Im nachfolgenden Text kommt Arthur Schopenhauers - hoffentlich leicht verständliche - geistige Verarbeitung des Sanskrit-Spruchs "tat twam asi" zum Vorschein:
Quelle: http://www.walterkirchgessner.de/04+Schopenhauers+Mitleidsethik.pdfSchopenhauers Mitleidsethik
In der Ethik vertritt Schopenhauer (1788-1860) im Unterschied zu Kant eine Mitleidsethik. Der einzige Grund, uneigennützig zu handeln, ist nach ihm die Erkenntnis des Eigenen im Anderen – das ist Mitleid. So bemerke der vom blinden Willen getriebene Mensch, dass in allen anderen Lebewesen derselbe blinde Wille haust und sie ebenso leiden lässt wie ihn. Durch das Mitleid wird der Egoismus überwunden, der Mensch identifiziert sich mit dem Anderen durch die Einsicht in das Leiden der Welt.
Es folgt hieraus ein im Vergleich zu Kant radikal anderer „Imperativ“. „Neminem laede, immo omnes, quantum potes, iuva. [Verletze niemanden, vielmehr hilf allen, soweit du kannst]“ - SCHOPENHAUER - DAS PRINZIP ALLER MORAL
Schopenhauer schließt in seine Ethik eindeutig den Schutz der Tiere ein. „Mitleid mit den Tieren hängt mit der Güte des Charakters so genau zusammen, daß man zuversichtlich behaupten darf, wer gegen Tiere grausam ist, könne kein guter Mensch sein.“ Wie kaum ein anderer Philosoph hat Arthur Schopenhauer das Mitleid in den Mittelpunkt seiner Ethik gestellt. Mitleid, so Schopenhauer in seinen Schriften zur Ethik, ist ein "alltägliches Phänomen", nämlich die ganz unmittelbare Teilnahme am Leiden eines anderen Wesens. Wir leiden mit ihm, also in ihm. Hierdurch wird die vorher unüberwindbare Mauer zwischen dem "Ich" und dem "Du" mehr und mehr abgebaut: "Wie ist es möglich", fragt Schopenhauer, "dass ein Leiden, welches nicht meines ist, nicht mich trifft, doch ebenso unmittelbar wie sonst nur mein eigenes, Motiv für mich werden, mich zum Handeln bewegen soll? Es ist möglich nur dadurch, dass ich es ...mitempfinde, es als meines fühle, und doch nicht in mir, sondern in einem andern ... Dies aber setzt voraus, dass ich mich mit dem andern gewissermaßen identifiziert habe, und folglich die Schranke zwischen dem Ich und Nicht-Ich für den Augenblick aufgehoben sei....Dieser Vorgang ist mysteriös; denn er ist etwas, wovon die Vernunft keine unmittelbare Rechenschaft geben kann..."
Das Mitleid - und hierbei unterscheidet sich Schopenhauer von fast allen anderen Philosophen seiner Zeit - bezieht sich auf alles, was Leben hat und damit auch auf Tiere. Es ist, was Schopenhauer immer wieder betonte, die wahre Grundlage der Moral. Das Mitleid "ist eine unleugbare Tatsache des menschlichen Bewusstseins, ist diesem wesentlich eigen, beruht nicht auf Voraussetzungen, Begriffen, Religionen, Dogmen, Mythen, Erziehung und Bildung". Schopenhauer hat in seiner "Preisschrift über die Grundlage der Moral" die zentrale Bedeutung des Mitleids für jedes ethische
Verhalten hervorgehoben, und zwar mit Worten, die nahegehen: "Denn grenzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig keinen verletzen, keinen beeinträchtigen, keinem wehe tun, vielmehr mit jedem Nachsicht haben, jedem verzeihen, jedem helfen, so viel er vermag, und alle Handlungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen."
Ethik, Mitleid, Askese
„Ganz er selbst sein darf jeder nur, solange er allein ist. Wer also nicht die Einsamkeit liebt, der liebt auch nicht die Freiheit; denn nur wenn man allein ist, ist man frei!“
„Bei gleicher Umgebung lebt doch jeder in einer anderen Welt.“ Dieser metaphysische Pessimismus liegt nun auch der Ethik Schopenhauers zugrunde. Diese ist Mittleidsmoral, erwachsend aus der Einsicht in die Wesensgleichheit, Identität aller Leidenden, aller Wesen, durch welche Einsicht der ursprüngliche Egoismus überwunden wird. Das Mitleid ist das Fundament der Moral, das einzige echt sittliche Motiv, die »echte, d.h. uneigennützige Tugend«, die Basis aller freien Gerechtigkeit und Menschenliebe. Moralischen Wert hat nur die aus Mitleid geborene Handlung. Mitleid ist Teilnahme am Leiden eines Anderen. Dieser aber ist an sich eins mit uns selbst (»tat twam asi« - dies alles bist du, wie die indische Lehre lautet). Im anderen leiden wir selbst. Hier ist die Scheidewand, welche die Wesen trennt, aufgehoben und das Nicht ich gewissermaßen zum Ich geworden. Aus der Durchschauung des Erscheinungscharakters der Individualität geht die Gerechtigkeit und die Güte der Gesinnung hervor, das Mitleid, die reine Liebe.
Indem nun aber der Mensch in allen Wesen sein eigenes Ich und in allein Leiden sein eigenes Leiden erkennt, schaudert ihm vor allem Leben und dessen Genüssen (vgl. Buddha). Der Wille wendet sich nun gegen sich selbst, bejaht das (individuellleibliche) Leben immer schwächer, er ist durch Erkenntnis hellsichtig geworden und verneint das Leben. Selbstmord nützt nichts, denn der Tod trifft dann nur die Erscheinung des Willens, nicht diesen selbst. Hingegen erlöst uns immer mehr vom Leben die Askese in allen ihren Arten (Armut, Kasteiung, Keuschheit usw.), die den Lebenswillen abschwächt, ertötet. Kommt dann der Tod, so trifft er auf einen schon fast ganz erloschenen Willen. »Für den, welcher so endet, hat zugleich die Welt geendet.« Für uns ist dieses Nirwana das Nichts, während es an sich das höchste, unsere Welt aber nichts ist. Die Verneinung des Willens zum Leben, diese »Selbstaufhebung des Willens«, diese jähe Wendung des Willens gegen sich selbst, ist ein Akt der (durch Erkenntnis geleiteten) Freiheit des Willens; hier ist der einzige Punkt, wo seine Freiheit unmittelbar in die
Erscheinung tritt.
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