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Nicht verschickte Briefe.

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AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 6. September 1998
Liebe Tatjana.

Gestern erhielt ich eine formelle Einladung zur Taufe meines 14jährigen Neffen , obwohl ich vor ungefähr zwölf Jahren aus der evangelikalen Kirche ausgetreten bin. Ich werde mich bemühen, diesem dünnen Ruf nach Meisendorf zu folgen.
Heute las ich in einer großbuchstabigen Zeitung von 12 bis 15jährigen gutaussehenden Mädchen, die routiniert ihre zwei Gramm Heroin in ihre Körperchen stecken. Ich bin nun 34 Jahre lebensversucht und weiß einfach nicht, wie ich es ihnen nachmachen könnte; ich möchte mich nicht länger mit Alkohol und Zigaretten langweilen. Eines der Mädchen sagte, Hasch sei Kinderkram.
Vorhin war ich bei meinen Eltern zu Kurzbesuch. Ein wichtiger und einnehmender Gesprächsstoff war die Frage, was der Neffe zur Taufe bekommen soll. Ich schlug vor, dem musikliebenden Knaben gemeinsam eine Musikanlage zu schenken. Meine Eltern protestierten energisch, das sei zu teuer, meinen finanzschwächelnden Schwestern nicht zuzumuten. Ich bin da anderer Meinung. Die Elternalternative, einen Werkzeugkasten oder Kleidung zu schenken, gefällt mir nicht. (Was hat sich überhaupt der Täufling in spe selbst gewünscht?)
Nebenbei wurde erwähnt, daß jemand gestorben sei. Ich wußte, es konnte nur Tante Gesine gewesen sein. Mein Vater zeigte keine Regung. Ich stellte mir vor, wie Du später Deinen Kindern mein Verleben bekannt gibst - und nichts passiert.
Meine Mutter versuchte später noch einen Trost und bot mir zwei Valium und eine Rohypnol an; ich lehnte ab, man schenkt auch keinem Verhungernden drei Reiskörner.

Ich habe nichts mehr zu schreiben. Ersatzweise höre ich mein Diktiergerät ab und schreibe Dir auf, was ich in den letzten Tagen mir selbst diktierte:

Ich bin selbstvernichtend.
Für Katzen gibt es ein Extra-Futter zu Weihnachten, ein Festtagsmenü.
Es fällt mir immer schwerer, noch ein bißchen Lust zu haben.
Vollgasathlet.
Heute fragte mich meine Mutter, ob ich auch bunte Unterwäsche tragen würde.
Ein schwarzes Mädchen, vielleicht zehn Jahre alt, hat sich auf einem Flug sehr schwer verletzt. Sie ist auf die Bordtoilette gegangen, zog sich ihr Zeugs herunter und setzte sich aufs Klo. Auf einmal wurde sie praktisch in das Klo hineingezogen. Durch einen Defekt am Außensystem herrschte Unterdruck im Klo, das Mädchen wurde mit ihrem Arsch voran wie in den Abort gesaugt. Sie konnte erst mit der Hilfe von mehreren Besatzungsmitgliedern und der Hinzunahme von Öl (ich gehe von Speiseöl aus) da wieder herausgezogen werden, allerdings schwer verletzt; durch den starken Unterdruck wurde ihr Darm nach außen gestülpt. Es war nach Angaben eines Arztes der ungewöhnlichste Unfall, den er je erlebt hatte. Sie hatte anscheinend noch Glück gehabt; wäre das Kloloch größer gewesen, genügend groß, hätte sie tatsächlich aus der Bordtoilette gezogen werden können, mit Haut und allen Haaren. Unglaublich.
Die Sendung mit dem Flugzeugunglück hieß "Kinder dieser Welt". Es wurde auch über die Geburt eines Mädchens ohne Arme und Beine berichtet, das es ähnlich nur fünfmal auf der Erde gibt. Der Vater hatte ihr versprochen, daß sie irgendwann fliegen würde.
Angeblich spürt man den wahren Biergeschmack erst ab dem dritten Schluck.
Eben kam ein Deutscher Schlager im Fernsehen, aus den frühen 70er Jahren. Ein Interpret namens Herbert Jung, mit vorbildlichem Schlagersängeraussehen, hat einen Song gesungen von Elend und Verzweiflung, er reimte Kot auf Not. Die alten Damen im Publikum sahen sich verstört an. Er sang von Frauen, die sich bezahlen lassen, und von Kindern in Gossen. Perfekt und doch ernst gemeint. Es war unglaublich.
Es wirkt manchmal grotesk, Helmut Schmidt in einer Talkshow. Er raucht ununterbrochen, hat ständig eine glimmende Fluppe in seiner linken Hand stecken, auch beim Gestikulieren, immer. Und ein Glas Coca-Cola steht vor ihm auf dem Tisch, die anderen Leute trinken Wasser. Und natürlich gibt es einen riesigen gläsernen Aschenbecher, alleine für den Schlot Schmidt.
Wahrscheinlich bin ich nicht zur Selbsterkenntnis fähig.
Ein Thema in der Sprechstunde (Bayern 3): Der erschlaffte Mensch.
Kehlkopfverstärker kosten mindestens 1000 Deutsche Mark.

Dein Svensgar.


 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 21. September 1998
Mein Lieber.

Vom Regen in die Taufe.

Um 7.30 Uhr lud ich eine Gitarre, meinen Fotokoffer, zwei Geschenke, diverse Ersatzkleidungsstücke (falls mir Stuhl oder Schweiß durchbrechen sollte) und schließlich meinen Körper selbst in meinen schönen 123er. Ich startete, lenkte und bediente verschiedene Hebel und Pedale, kam so gut voran.
Es war der Beginn des endgültigen Endes des diesjährigen Sommers. Kaum Wind, kühler Morgen, der Himmel sterbendblau. Vor Tagen bot mir Marianne in ihrer Hilflosigkeit ein oder zwei 10er Tabletten Valium an, die ich mangels geregelten Nachschubes ablehnte. Heute hätte ich gerne eine als Sicherheit in meinen Taschen gewußt, doch ich trug nur meinen Standard von einer Zigarette und zwei Kügelchen mit mir herum; die Flasche Coca Cola für die Fahrt nach Meisendorf hatte ich im Eisschrank vergessen. Trotzdem fühlte ich mich nicht bedrohlich unkomplett, die stählerne Hülle meines Eineinhalbtonners gab mir gekaufte Sicherheit.
Ich hielt nach einigen Minuten und lud zwei Schwestern mit zwei Hunden ein, wies ihnen Plätze im Wagen zu. Zur Sicherheit stellte ich beiden Hundeführern je ein Handtuch zur Verfügung, mit denen sie eventuell austretendes Hundefutter auffangen sollten. Vor Wochen hatte ja Katjas Hündin eine komplette Mahlzeit auf die Rückbank gelegt; ich konnte mit Wasser und Abflußreiniger zwar fast jede Spur dieses Brechens beseitigen, aber der Wagen hatte seine Unschuld und ich zählbare Nerven verloren.
Nachdem ich wieder gestartet war, mußte ich meine Mitfahrer auf die Gurtpflicht hinweisen. Ich gebe dabei stets vor, bei einem Unfall und einem damit verbundenen Körperschaden mithaften zu müssen, was ich tunlichst zu vermeiden suche; in Wahrheit möchte ich nicht von meinen herumfliegenden Schwestern erschlagen werden - das besorgt schon das Leben oder der Lebensversuch an sich und hat dabei keine Unterstützung nötig. Es gab keinen Ärger, die Schwestern streiften sich die Gurte über und klinkten sie ein. Über den Wert, mit dem man das Gewicht der ungesicherten Hunde multiplizieren mußte, um auf deren Crashgewicht bei einem Frontalzusammenstoß bei Tempo 50 zu kommen, machte ich mir keine Gedanken.
Die Straßen waren frei von Stau, bald befuhren wir den Berliner Ring, und kamen zeitplangerecht zur Taufe des Täuflings in Meisendorf an.
Wir erreichten das Pfarrwesen gegen 9.30 Uhr und waren die Ersten. Mein 14jähriger zu taufender Neffe war sichtbar aufgeregt, trug dabei normale Beinkleider und Turnschuhe; letztere anscheinend neu, denn ihnen entströmte kein Kinderfußschweißgeruch.
Kurz vor Zehn Uhr kamen meine Eltern an. Meine Mutter begrüßte ich vor dem Hause Gottes, mein Vater saß bereits auf einer hölzernen Bank im Mittelschiff. Als ich auf ihn zuging und ihn auf seine Wange küssen wollte, machte er abwehrende Gesten und stieß hervor, daß man sich hier, an diesem Ort, nicht so begrüße. Ich war beeindruckt, blieb jedoch bei meinem Vorhaben und zwang meinen Vater, sich der Wangenkußvollstreckung auszusetzen. Daraufhin entfernte ich mich weit von ihm, setzte mich in die erste Reihe.
Es war erwartet kühl in der Kirche. Ich beneidete eine Schwester, die eine Volldaunenjacke trug.
Außer den Gästen des Taufkindes waren höchstens zehn Dörfler anwesend. Ich begann, die eine Stunde Gottesdienst über mich ergehen zu lassen. Dabei fühlte ich, ohne Recht an diesem Ort zu sein. Ich faltete zwar bei den Gebeten, und auch sonst, meine Hände, aber ohne dadurch beten zu wollen, eher trachtete ich danach, mich zu wärmen.
Die Kirche ist in einem schlechten Zustand. Fast schon schäbig. Die Holzbänke sind holzwurmdurchtunnelt und dreckig, von dünnem weißen Lack notdürftig zusammengehalten.
Der Pfarrer startete den Gottesdienst. Mit jeder Minute wurden die Kleinkinder unruhiger. Der Pfarrer versuchte einen Spaß, indem er in das Schreien eines Säuglinges hinein fragte, ob da jemand etwas sagen wollte.
Der Täufling, den ich dauernd beobachtete, blieb nervös und zappelte ständig herum. Manchmal machte er Faxen, nur für sich selbst. Schließlich wurde er vom Pfarrer aufgerufen und getauft, die Kinder durften daraufhin hinten im Kirchenschiff malen.
Als die Kollekte angemahnt wurde, zückte ich meiner lederne Börse und sortierte alle 1 und 2-Pfennigstücke heraus. Auch eine 5-Mark-Münze, die ich einem nahen Neffen mit großer Geste in dessen Brusttasche fallen ließ. Lieber ein Onkel, der etwas mitbringt, als eine Tante, die Klavier spielt.
Es wurde immer kälter. Ich versuchte, es auszuhalten.
Irgendwann war es Zeit, die Bude Gottes zu verlassen und nach Hause zu fahren.

Dein Svensgar.

 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Lieber ein Onkel, der etwas mitbringt, als eine Tante, die Klavier spielt.



Ich freue mich über jeden aufmerksamen und literaturfesten Leser.
Ich bin schon etwas älter und diesen Satz verwende ich seit fast 30 Jahren; ich freue mich, daß ich nun wieder (zumindest vorrübergehend) weiß, wer ihn einmal schrieb. Danke.
 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 23. September 1998
Liebste Kerstin.

Es berührt mich, daß Du wieder Lust hattest, mir einen Brief zu schreiben. Und das an dem Tag, an dem sich Dein siebzehnter Jahresring schloß; wenigstens gratuliert man Dir noch, ich gab das schon vor Jahren auf; zu wenig wußte ich, zu was ich denn gratulieren sollte. Ein Jahr weniger, das man abzuleben hat?
Ich beneide Dich ein wenig um Deinen geringen Besitzstand. Aber glaubst Du, es ist üblich, daß 17jährige schon einen Kraftwagen, digitale Kameras, Schrankwände und Aktiendepots ihr Eigentum nennen? Es ist doch prima, einen Wohnungsschlüssel zu besitzen und gehen und besonders kommen zu können, wann man will. So gesehen hast Du mit 17 Jahren mehr als viele andere in Deinen frühen Jahren. Du schreibst, Du fühlst Dich nun wohl. Na also.
Was ist denn der Grund, das Du dauernd umzuziehen hast? Wenn es zu schwierig aufzuschreiben ist, bespreche doch eine Cassette und schicke mir diese. Ich würde mich mit dem Rest, den ich auftreiben kann, darüber freuen. Vielleicht schaffst Du es auch, wieder öfters zu schreiben.
Ich selbst schreibe kaum noch. Die letzten Monate, den ganzen verlorenen Sommer lang, fast gar nichts. Und wenn, war es wenig von mir, mehr Dahingerotztes.
Wie schon 34 Jahre, bin ich immer noch unverheiratet. Ich weiß nicht, schrieb ich Dir bereits, daß ich eine endgültig verloren geglaubte Frau wieder treffen durfte? Eine 36jährige, die ich meinte, heiraten zu sollen. Dabei meine ich nicht direkt heiraten, eher einen Menschen finden, mit dem ich zusammen verleben möchte. Es stellte sich jedoch innerhalb weniger Wochen und nach einigen Treffen heraus, daß ich wieder mal nur schön geträumt hatte. Das macht nichts, ich bin es gewohnt, illusionorisch zu lebensversuchen.
Ich hatte zwei oder drei Mal sexuellen Kontakt mit dieser Angebeteten, allerdings unbefriedigend, obwohl aufregend. Ich merke schon, daß ich mit 34 Jahren immer mehr Spannkräfte verliere und es fällt mir schwer, meinen nicht vorhandenen Hausarzt um ein Rezept für Viagra zu bitten. Vorgestern bekam ich einen Sexkatalog geschenkt. Ich sah mir nicht uninteressiert die angebotenen gummierten Püppchen an, bedauerte es jedoch, daß diese nicht abgebildet waren, sondern nur lebensechte Frauen, die sicher nicht in den Packungen zu finden gewesen wären. Ich bestellte nichts, hob mir den Prospekt aber auf.
Es geht mir weiterhin, und daran wird sich auch kaum mehr etwas ändern, sehr schlecht. Ich bin oft lebensmüde, wenn auch nicht todessehnsüchtig. Alles ist so langweilig, alles wiederholt sich. Du hast nicht Unrecht, wenn Du Deinen Geburtstag als kaum unterschiedlich zu anderen Tagen empfindest. So ist es eben und es wird mit jedem Jahr deutlicher. Ich versuche weiterhin, mir irgendwelche Freuden in meine täglichen Pläne zur Überwindung der Zeiten einzubauen, aber es wird beständig schwerer.
Und typisch Deutsch, eine dieser wenigen Freuden, vielleicht besser Vergnügen, hole ich mir aus einer Maschine. Im Juni kaufte ich mir einen alten Mercedes. Mit Schiebedach, blauen Sitzbezügen, Automatikgetriebe und 200.000 Kilometern Laufleistung, und gepflegt, wie man in der Branche sagt. Meinen Golf besitze ich nun nicht mehr, dafür kann ich aber mindestens das Anderthalbfache an Unterhalt fürs Auto zahlen. Aber es lohnt sich für mich. Jedesmal, wenn ich in der Limousine sitze und servounterstützt lenke, empfinde ich ein gutes Gefühl.
Sonst gibt es kaum gute Gefühle; nach der Sommersaison nun immer öfter. Der Winter steht wie eine riesige schwarze Wand aus Stahlbeton vor mir. Wie den nur überstehen? Ich muß mich dabei auf diesen Lebenswillen verlassen, den ein jeder Mensch in sich zu tragen hat, und der ihn hindert, sich einfach zu entleiben, wenn es günstig erscheint. Hoffnungen kann ich nicht auftreiben. Ich mache weiter wie immer und fühle mich zum Kotzen dabei. Weitermachen ist dabei schon zuviel ausgedrückt, eher ist es ein beständiges Verharren auf den Gipfeln der Verzweiflung, aus Blödheit heraus. Aber wenn die Zeitung heute schreibt, wieso denn Romy Schneider ein schlechtes Gewissen beim Trinken haben sollte, wenn sie doch aus Verzweiflung trank, wieso sollte ich daraunter leiden?
Inzwischen bin ich einige Tage in der Woche Ausführer eines Hundes. Eine Bekannte hat ihn aus Mallorca mitgebracht, vielleicht weil ihr Urlaub so scheiße war, vielleicht weil sie mit 35 Jahren kaum noch Aussicht auf eigene Leibesfrüchte hat. Da diese Frau, mit ich einmalig 1992 geschlechtlich verbunden war, tagsüber zu arbeiten hat, ließ ich mich überreden, ihr bei der Hundehaltung behilflich zu sein. Also verlaufe ich nun fast jeden Tag viel meiner Restzeit mit einem Tier in einem Wald oder Park. Hauptsache, den Tag rumkriegen. Am Abend holt dann die Bekannte ihren Hund ab und wir erzählen uns noch irgendwelchen Mist, und ich starre gelegentlich, wenn sie es nicht sieht, auf ihre Brüste. Naja, dazu kommt es halt, wenn man beständig alleine zu sein hat.

Ich weiß, ich muß mich in meinen Briefen enorm steigern.

Dein Svensgar.

 
AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 24. September 1998
Liebste Ruth.

Es ist kurz nach zwei Uhr. Draußen scheint endlich mal wieder die Sonne. Bald fahre ich mit einer zu betreuenden Hündin in ein Hundeauslaufgebiet. Dort halten sich vermehrt Bullen und Parkwächter auf, die darauf aus sind, unangeleinte gekaufte Freunde zu erwischen. Man muß zwar nie zahlen, aber es nervt. Und bei meinem brüchigen Nervenkarnevalskostüm möchte ich nichts riskieren; ich bin mir bewußt, daß es irgendeiner Kleinigkeit genügt, um mich zusammenbrechen zu lassen.
Ich muß wegen nächtlicher Hilfsarbeiten am Vormittag zu schlafen versuchen. Das geschieht ständig nüchtern, weshalb ich dabei größte Probleme aushalten muß, wenigstens in Fetzen von Schlaf fallen zu können. Außerdem sind wieder verhaßte Handwerker im Block unterwegs, die ständig rumhämmern, bohren, schlagbohren und polternd die Treppenanlagen benutzen. Ich höre einfach alles, obwohl ich es nicht will; jeden Schritt, den meine scheußlichen Nachbarn über mir setzen, und jede Portion Wasser oder Körperausscheidung, die das Rohr neben meiner Schlafstube herunterscheppern.

26. September 1998

Vorgestern sollten die paar geleisteten Zeilen nicht die Einzigen sein, aber ein Stromausfall in meinem Straßenzug nahm meinem Rechner alles Leben. Wenigstens waren nicht die wenigen Worte verschwunden, die ich geschafft hatte; unabhängig von ihrer Qualität, für mich zählt nur die Masse.
Heute ist ein Samstag. Die Zeit zeigt kurz nach 18 Uhr an. Feierabend. Ich trinke einen Magen- und Darmtee, nicht weil ich Koliken aushalten muß, eher weil ich die zwei Buttercroissants nicht trocken herunterbringen möchte.
Mein Tag war wenig aufregend und langweilig wie immer. Aber ich litt nicht unter ihm, es war gut auszuhalten. Ich war viel mit der Leihhündin unterwegs, nicht weil ich das so unterhaltend finde, sondern weil ich mich beständig fürchte, daß sich die Hündin in meiner Wohnung lösen könnte. Das macht sie zwar nicht mehr, aber eine Urangst vor fremden Kot auf meiner billigen Auslegware bleibt mir und ist nicht zu beseitigen.
Am Mittag rang ich mir eine dreiviertel Stunde ab, in der ich in dem Häuserblock, den ich hygienisch zu betreuen habe, drei Flure wischte.
Mitte kommender Woche sind 12 Grad Höchsttemperatur angedroht, schrecklich.
Nun versuche ich, diese Seite vollzukriegen, damit Dich der Brief spätestens am Dienstag erreicht. Den Rest des Abends fülle ich mit Fußball, Boxen, Bier, Frühlingsrolle unhd Stumpfsinn. Aus mir selbst kommt nichts mehr. Ohne Fernseher wäre ich total aufgeschmissen und könnte mich vom Hochhaus runterschmeißen. (Heute las ich von einer versuchten Entleibung eines Jugendlichen. Er stürzte sich vom fünfstöckigen Haus auf das Dach eines haltenden Busses. Von dort fiel er auf die Straße und wurde von einem Kraftwagen zusätzlich verformt. Nun liegt er gemeinsam mit einer 17jährigen Schülerin im Spital; Letztere saß im Bus und erlitt einen Schock.)
Leider ist mein Leben so karg und meine Angst, wieder als perverser Briefeschreiber entlarvt zu werden, so groß, daß mir nichts mehr einfallen möchte, diese läppische Seite vollzumachen.
Die Croissants sind in mir, ich putze mir erst einmal die verbliebenen Zähne.

Morgen ist Wahl. Ich schwanke noch zwischen den Grünen, die ich schon immer gewählt habe, und dem Scheitern als Chance, der Chance 2000. Im Interesse meiner ständigen Langeweile erhoffe ich mir einen spannenden Wahlabend mit vielen Pannen und Peinlichkeiten.
Davor gibt es den vorletzten Lauf zur Formel 1-WM zu betrachten. Da ich selbst mal Mopedweltmeister werden wollte, interessieren mich diese modernen Wagenrennen ganz besonders. Ganz im Geheimen wünsche ich mir, daß Schumi spektakulär verunglückt; von mir aus könnte er dabei auch sterben. Das würde seinen Marktwert nur weiter in Milliardennähe treiben, seine dicke Frau hätte ausgesorgt. Ab und an muß einfach jemand auf den Rennstrecken sein Leben liegen lassen, das macht doch erst die volle Dramatik aus und erhält bei weiteren Rennen die Spannung, wann denn wieder etwas passiert.
Kommende Woche werde ich weiter die Hündin ausführen, meinen Altkörper am Existieren halten, und Fußball glotzen. Viel mehr gibt es nicht zu tun.

Meine Liebste, ein paar Zeilen vor Seitenende winde ich mich aus diesem Brief. Ich hoffe, in den kommenden Monaten ab und an etwas von Dir zu lesen. Du mußt keine Hemmungen haben, schreibe, was Dir einfällt, und schicke es ab, selbst wenn es noch so blöde erscheint.

Dein Svensgar, selbst nicht besser.

 
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AW: Nicht verschickte Briefe.

Westberlin, 11. Oktober 1998,
18.ster Sonntag nach Trinitatis,
8.15 Uhr
Meine liebste Schwester.

Es ist nun bereits 8.18 Uhr. Auf dem Tisch zieht eine Tasse mit zwei Beuteln eines Schlaf- und Nerventees. Ich muß noch ein bißchen aufs Papier bringen, um Dein geburtstägliches Paket nicht seelenleer wirken zu lassen. Schon am gestrigen verstorbenen Tag arbeitete ich mehr als eine Seite aus, die mir schon beim Konstruieren als unabschickbar erschien. Das tut mir immer wieder leid, aber ich traue mich einfach nicht.
Ich muß mich zwingen, vorm Niederschreiben nicht zuviel versuchszudenken. Es soll doch ein Zettel in einem Brief in einem Paket, genauer Päckchen, werden, der eine - zum letzten Mal - Endzwanzigerin erheitern oder zumindest vergnügen soll. Von mir aus darfst Du gerne über mich und meine Starre, Verlorenheit, Leidenshaft, Realitätsverlust, Entleibungsgedanken oder Perversionen lachen, was bleibt denn sonst?
Nachdem Du mir am Telefon von der Operation in Schambeinnähe berichtetest, würde ich an dieser Stelle gerne einen Spaß über Krebskranke machen. Mir fällt keiner ein. Nur so viel: auch ich trage seit Jahren viele Knötchen in Armen und Beinen. Ich vermeide, sie zu berühren. Ich glaube, es sind ekelige Fettkügelchen und keine Tumore, deshalb lasse ich sie in Ruhe und sie mich. Sie sehen natürlich nicht gut aus, aber seitdem ich keinen Sex mehr mit lebenden erwachsenen Menschen habe (seit ca. 1993), fallen sie auch niemanden mehr auf. Manchmal stoße ich beim seltenen (medizinisch notwendigen) Onanieren an ihnen, aber daraus mache ich mir nichts mehr.
Der Tee ist fast alle und macht mich kaum müde. Trotzdem lege ich mich gleich in mein völlig zu großes Bett und versuche, einige Stunden rumzukriegen. Es ist immer Rumkriegen, ich habe in meinem Bett keinerlei Spaß mehr. Von Freude ganz zu schweigen. Ich schreibe damit nichts Neues und das macht es mir immer wieder schwer, von meinem Elend zu berichten. Man glaubt mir nicht mehr. Es ist langsam an der Zeit, mir mal wenigstens einen Finger abzuschießen oder einen Zeh zu erdrosseln. Ich muß doch meine Glaubwürdigkeit bewahren. Oder wieder erlangen.
Ich schlafe also schlecht bis miserabel. Meine Schlafversuche unterscheiden sich damit nicht von anderen Lebensversuchen. Ich wälze mich ständig im Bett oder im Leben umher und finde keine Ruhe. Stets bin ich von Gedanken gequält, die ich gar nicht aufgefordert habe, mich zu besetzen. Es sind keine besonderen Gedanken, eher Grübeleien und Erinnerungswälzungen, die mich unablässig rastlos halten. Oft sage ich nur innerlich vor mir hin, wie total scheiße ich doch bin. Ich wundere mich manchmal selbst, als wie ernst und selbstverständlich ich das verinnerlicht habe. Ich bin es auch wohl oder übel.
8.53 Uhr, ich versuche mich am Bruder des Todes.

Es ist 13.12 Uhr. Bis vor wenigen Minuten schlief ich mehr schlecht als recht, obwohl doch rechtens, in meinem Bette. Der Tee konnte mir keine befriedigende Einschlafhilfe sein. Bevor ich abkippte, formulierte ich diesen Brief weiter und überlegte mir, weitere Hörspiele zu produzieren. Das Thema wird Dich kaum wundern machen, denn es geht um Kot. Ich schlief mit meiner eigenen Scheiße, so der vorläufige Arbeitstitel. Es geht um die Gefühle, die ich erleben darf, wenn ich solch eine Abartigkeit schreibe, aus mir selbst hervorziehe.
Was muß sonst noch mitgeteilt werden?
Es ist leicht festzustellen, daß man so schlecht wie tot ist, und den Rest nur noch absitzt und ableidet; aber das auch noch jahrelang auszuhalten, ist wirbelsäulenbrecherisch; man wird wie von selbst zum Kopfbuckeligen.
Ich träumte vorhin von einer Verfolgungsjagd, der ich ausgesetzt war. Nicht eine Jagd auf den Kleinmenschen Svensgar, es ist eher das Gefühl, daß da etwas ist, was auf mich wartet. Aus Erfahrung vermute ich, es ist schlecht und will mir an hochgeschlagenen Kragen. Entweder drehe ich mich so schnell auf der Stelle, daß ich es selbst bin, der mich nicht in Ruhe läßt, oder es ist der Tod meines Leibes und damit vielleicht der Tod von mir als gebrochene Einheit. Das ist Unsinn, wie alles.
13.28 Uhr. Ich werde erst einmal Asche aus dem Ofen räumen, dann einen Grünen Tee brühen und Wasser für den täglichen Reis aufsetzen.

Dein Svensgar, äußerlich völlig normal.
 
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