Westberlin, 23. September 1998
Liebste Kerstin.
Es berührt mich, daß Du wieder Lust hattest, mir einen Brief zu schreiben. Und das an dem Tag, an dem sich Dein siebzehnter Jahresring schloß; wenigstens gratuliert man Dir noch, ich gab das schon vor Jahren auf; zu wenig wußte ich, zu was ich denn gratulieren sollte. Ein Jahr weniger, das man abzuleben hat?
Ich beneide Dich ein wenig um Deinen geringen Besitzstand. Aber glaubst Du, es ist üblich, daß 17jährige schon einen Kraftwagen, digitale Kameras, Schrankwände und Aktiendepots ihr Eigentum nennen? Es ist doch prima, einen Wohnungsschlüssel zu besitzen und gehen und besonders kommen zu können, wann man will. So gesehen hast Du mit 17 Jahren mehr als viele andere in Deinen frühen Jahren. Du schreibst, Du fühlst Dich nun wohl. Na also.
Was ist denn der Grund, das Du dauernd umzuziehen hast? Wenn es zu schwierig aufzuschreiben ist, bespreche doch eine Cassette und schicke mir diese. Ich würde mich mit dem Rest, den ich auftreiben kann, darüber freuen. Vielleicht schaffst Du es auch, wieder öfters zu schreiben.
Ich selbst schreibe kaum noch. Die letzten Monate, den ganzen verlorenen Sommer lang, fast gar nichts. Und wenn, war es wenig von mir, mehr Dahingerotztes.
Wie schon 34 Jahre, bin ich immer noch unverheiratet. Ich weiß nicht, schrieb ich Dir bereits, daß ich eine endgültig verloren geglaubte Frau wieder treffen durfte? Eine 36jährige, die ich meinte, heiraten zu sollen. Dabei meine ich nicht direkt heiraten, eher einen Menschen finden, mit dem ich zusammen verleben möchte. Es stellte sich jedoch innerhalb weniger Wochen und nach einigen Treffen heraus, daß ich wieder mal nur schön geträumt hatte. Das macht nichts, ich bin es gewohnt, illusionorisch zu lebensversuchen.
Ich hatte zwei oder drei Mal sexuellen Kontakt mit dieser Angebeteten, allerdings unbefriedigend, obwohl aufregend. Ich merke schon, daß ich mit 34 Jahren immer mehr Spannkräfte verliere und es fällt mir schwer, meinen nicht vorhandenen Hausarzt um ein Rezept für Viagra zu bitten. Vorgestern bekam ich einen Sexkatalog geschenkt. Ich sah mir nicht uninteressiert die angebotenen gummierten Püppchen an, bedauerte es jedoch, daß diese nicht abgebildet waren, sondern nur lebensechte Frauen, die sicher nicht in den Packungen zu finden gewesen wären. Ich bestellte nichts, hob mir den Prospekt aber auf.
Es geht mir weiterhin, und daran wird sich auch kaum mehr etwas ändern, sehr schlecht. Ich bin oft lebensmüde, wenn auch nicht todessehnsüchtig. Alles ist so langweilig, alles wiederholt sich. Du hast nicht Unrecht, wenn Du Deinen Geburtstag als kaum unterschiedlich zu anderen Tagen empfindest. So ist es eben und es wird mit jedem Jahr deutlicher. Ich versuche weiterhin, mir irgendwelche Freuden in meine täglichen Pläne zur Überwindung der Zeiten einzubauen, aber es wird beständig schwerer.
Und typisch Deutsch, eine dieser wenigen Freuden, vielleicht besser Vergnügen, hole ich mir aus einer Maschine. Im Juni kaufte ich mir einen alten Mercedes. Mit Schiebedach, blauen Sitzbezügen, Automatikgetriebe und 200.000 Kilometern Laufleistung, und gepflegt, wie man in der Branche sagt. Meinen Golf besitze ich nun nicht mehr, dafür kann ich aber mindestens das Anderthalbfache an Unterhalt fürs Auto zahlen. Aber es lohnt sich für mich. Jedesmal, wenn ich in der Limousine sitze und servounterstützt lenke, empfinde ich ein gutes Gefühl.
Sonst gibt es kaum gute Gefühle; nach der Sommersaison nun immer öfter. Der Winter steht wie eine riesige schwarze Wand aus Stahlbeton vor mir. Wie den nur überstehen? Ich muß mich dabei auf diesen Lebenswillen verlassen, den ein jeder Mensch in sich zu tragen hat, und der ihn hindert, sich einfach zu entleiben, wenn es günstig erscheint. Hoffnungen kann ich nicht auftreiben. Ich mache weiter wie immer und fühle mich zum Kotzen dabei. Weitermachen ist dabei schon zuviel ausgedrückt, eher ist es ein beständiges Verharren auf den Gipfeln der Verzweiflung, aus Blödheit heraus. Aber wenn die Zeitung heute schreibt, wieso denn Romy Schneider ein schlechtes Gewissen beim Trinken haben sollte, wenn sie doch aus Verzweiflung trank, wieso sollte ich daraunter leiden?
Inzwischen bin ich einige Tage in der Woche Ausführer eines Hundes. Eine Bekannte hat ihn aus Mallorca mitgebracht, vielleicht weil ihr Urlaub so scheiße war, vielleicht weil sie mit 35 Jahren kaum noch Aussicht auf eigene Leibesfrüchte hat. Da diese Frau, mit ich einmalig 1992 geschlechtlich verbunden war, tagsüber zu arbeiten hat, ließ ich mich überreden, ihr bei der Hundehaltung behilflich zu sein. Also verlaufe ich nun fast jeden Tag viel meiner Restzeit mit einem Tier in einem Wald oder Park. Hauptsache, den Tag rumkriegen. Am Abend holt dann die Bekannte ihren Hund ab und wir erzählen uns noch irgendwelchen Mist, und ich starre gelegentlich, wenn sie es nicht sieht, auf ihre Brüste. Naja, dazu kommt es halt, wenn man beständig alleine zu sein hat.
Ich weiß, ich muß mich in meinen Briefen enorm steigern.
Dein Svensgar.