Am Tisch im Pflegeheim, wo die Frau beim Essen saß, die mich an meine Mutter erinnerte, saß auch eine Frau H. Sie sagte nie etwas, sang nur gelegentlich Lieder, aber eher leise und sanft. Sie wirkte im hohen Alter noch sehr anmutig, hatte eine sanfte Ausstrahlung. Man konnte sich gut vorstellen, dass sie in ihrer Jugend eine sehr schöne Frau war. Sie hatte etwas Aristokratisches, im positiven Sinne. Der Zimmerbewohner meines Vaters saß mit ihm am Essenstisch. Jeder und jede hatten seinen/ ihren festen Platz, worüber die Pflegerinnen entschieden. Welche Kriterien von den Pflegerinnen für die Platzzuordnung angelegt wurden, war für mich schwer zu erkennen. Gegenseitige Sympathie von Bewohnern konnte es nicht gewesen sein. Denn das wussten die Pflegerinnen nicht. Wenn sie ihre formellen Pflichten erfüllt und ein wenig Zeit hatten, dann gingen sie entweder rauchen oder sie setzten sich zum Solitär Spiel in das Pflegerzimmer. Für die soziale Betreuung kamen zweimal die Woche extra ausgebildete Betreuerinnen, die wussten wie man singt und bastelt. Herr A. saß mit meinem Vater am gleichen Tisch, obwohl beide nichts miteinander anfangen konnten und auch nie ein Wort miteinander redeten. Er war in Frau H. verliebt. Obwohl ich wegen der weiten Anreise nur einmal pro Woche ins Heim kam, wusste ich das, während es dem Pflegepersonal noch nicht aufgefallen war. Denn dafür werden die Pflegerinnen nicht bezahlt. Eines Tages fuhr Herr A. nach dem Essen mit seinem Rollstuhl zum Tisch, wo Frau H. saß. legte seine Hand auf den Tisch und bewegte diese immer näher in Richtung der Hand von Frau H., die sich die Annäherungsversuche von Herrn A. ohne Widerstände gefallen ließ. In dem Augenblick, als seine Hand ihre Hand berührte, kam zufällig die diensthabende Pflegerin in den Speisesaal, nahm den Rollstuhl und fuhr ihn wieder zum Tisch meines Vaters: "Herr A., das hier ist ihr Tisch." Herr A. motzte kurz ein wenig angepisst und wurde dann wieder ruhig. Die Pflegerin verließ irgendwann den Aufenthaltsraum, wo alle unbetreut herumsaßen, so wie es in fast allen Pflegeheimen Deutschlands ist. Irgendwann ging das gleiche Prozedere wieder los. Herr A. fuhr wieder an den Tisch zu Frau H. Wie es der Teufel will, kommt die gleiche Pflegerin wieder just in dem Moment ins Zimmer, wo Herr A. Frau H. berührt. Sie schiebt Herrn A. mit etwas lauterer und autoritärer Stimme zum Tisch meines Vaters. Herr A. tobt jetzt, schreit, wird sehr aggressiv. Die Pflegerin geht zum Medikamentenraum, um die passende Chemie für Herrn A. zu holen. Sie hat in ihrer Ausbildung natürlich gelernt, dass Demente gelegentlich aggressiv sind, aber nicht, warum. Ich laufe ihr hinterher, erkläre ihr die Situation und bitte sie, die Chemiekeule nicht auszupacken. Ein paar Wochen später bin ich wieder im Heim, füttere meinen Vater, als ich plötzlich laute Hilfeschreie derselben Pflegerin höre. Ich verlasse den Raum und sehe Herrn A. am Eingang der Küche mit seinem Rollstuhl stehen, in der rechten Hand ein langes Messer, das drohend auf die Pflegerin gerichtet ist, die ihm ein paar Wochen vorher sein Liebesspiel mehrmals zerstört hatte. Ich nahm ihm das Messer ab, was gar nicht schwer war.