In einem alten Lesebuch für Hauptschulen ("Das gute Wort",1963/64) gefunden:
Der Weichensteller
"Und nun noch der Schnellzug nach Charleroi!
In fünf Minuten schon ist er da!" -
Er trottet hinaus zum äußersten End,
die letzte Weiche zu stellen behend.
Im Schnee seine Tritte knarren,
die Nacht ist kalt zum Erstarren.
Bald lädt bei traulichem Lampenschein
die warme Stube den Müden ein.
Und ein Kuß vergilt ihm des Tages Qual,
ein liebendes Weib und ein einfaches Mahl.
Dann werden am Bettchen sie stehen
und das Bübchen schlummern sehen. -
Hei, wie der Ostwind eisig pfeift,
wie's tief durchs wollene Wams ihm greift!
Eine rote Lampe! Nun ist er zur Stell.
Nur schnell!
Fern sind zwei Lichter erschienen,
schon stoßen und stampfen die Schienen.
Der Zug! Es war die höchste Zeit!
Doch was ist das? Barmherzigkeit!
Der Hebel dreht sich im Bügel zu leicht!
Und wie er in Eile sich niederneigt,
da hat es ganz leise geklungen,
das eiserne Band ist zersprungen! -
Verzweifelt preßt er die Hand an die Stirn,
ein einz'ger Gedanke durchzuckt sein Hirn!
Der Zug! - Und braust er die falsche Bahn,
so ist es um ihn und die Menschen getan!
Denn kaum minutenlang weiter
rast ihm entgegen ein zweiter! -
Da wirft sich zwischen die Schienen der Mann,
preßt dicht seinen Leib an das Eisen an
und dehnt und stemmt sich mit Riesenkraft -
ein gewaltiger Druck! - Nun ist es geschafft!
Ob lebendig - oder als Leiche,
er liegt, eine knöcherne Weiche! -
Er liegt und sieht und hört nichts mehr.
Der Eilzug rasselt über ihn her.
Nur ein Haken im Weg, eine Bremse zu tief!
Wie's heiß und kalt durch die Adern ihm lief!
Was gilt nur dein Leben?
Du mußt es für hundert geben!
Ein Haken zu tief, eine Bremse im Weg!
Sekunden! Doch schleichen sie viel zu träg!
Und wenn er nur diesmal am Leben blieb! -
O Gott, wie hat er das Leben so lieb!
Da ist es vorbeigeschnoben,
und ferner hört er es toben.
Nun naht es wieder und flackert und braust
und ist an ihm vorbeigesaust:
der zweite Zug, von Lichtern erhellt,
voll Menschenglück - eine kleine Welt! -
Gerettet! - Er lauscht in die Ferne,
und über ihm funkeln die Sterne.
Karl von Berlepsch