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Kant und das Luftsicherheitsgesetz

Ziesemann

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3. November 2005
Beiträge
929
Kant und das Luftsicherheitsgesetz
Gestern hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das 2005 verabschiedete Gesetz in allen wesentlichen Teilen als mit der Verfassung unvereinbar für nichtig erklärt. Nach diesem Gesetz hatte die Bundesluftwaffe das Recht erhalten, notfalls ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mitsamt ihren unbeteiligten Passagieren abzuschießen, um einen größeren Verlust an Menschenleben zu verhindern. Ausgangspunkt des gesetzgeberischen Handelns war der bekannte „Nine-eleven“ 2001.
Die politischen und juristischen Aspekte – dass z.B. die Bundeswehr laut Grundgesetz in solchen Fällen gar nicht eingesetzt werden darf – sollen hier unberücksichtigt bleiben. Ohnedies muss damit gerechnet werden, dass Walter diesen Thread nach „Politik – Deutschland“ verschiebt, obwohl es hier ausschließlich um (Rechts-)Philosophische Fragen gehen soll.
Nach dem Studium der 25 (!) Seiten unfassenden Urteilsbegründung bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es auf dem Kantianischen Prinzip – auch wenn das vom BVerfG nie offen genannt wird – beruht, nach dem der Mensch niemals Mittel sondern immer nur höchster Selbstzweck sein darf.
Das Leben gilt danach als das oberste Rechtsgut, das als Grundrechtsverpflichteter der Staat unter allen Umständen zu schützen hat. Das erlaubt und gebietet, notfalls Terroristen zu töten, um unschuldige Menschenleben vor dem Tode zu retten. – Aber darf diese Notwehrhandlung auch vorgenommen werden, wenn dabei „Tatunbeteiligte“ ums Leben kommen? Das BVerfG antwortet mit einem klaren „Nein“. Denn in diesem Fall werden die Passagiere zum Objekt degradiert, mit ihrem vom Staat vorsätzlich herbeigeführten Tod sollen sie helfen, Schlimmeres zu verhüten.
Aber verlangt nicht der Staat in anderen Situationen zum Beispiel vom Soldaten und Polizisten unter Umständen auch die Opferung des Lebens, um anderes Leben zu retten? Müssen also nicht etwa 100 Fluggäste in Kauf nehmen, geopfert zu werden, um zu verhindern, dass vielleicht Tausende umkommen? Antwort: „Nein“. Die Tötungshandlung des Soldaten oder Polizisten, der dabei Gefahr läuft, selbst sein Leben zu verlieren, richtet sich unmittelbar und nur gegen den Angreifer, nicht aber, jedenfalls nicht vorsätzlich gegen Unschuldige.
Könnte man aber nicht abwägen, dass es besser ist, einhundert verlieren ihr Leben statt eintausend? Alle Streitkräfte der Welt operieren nach dem Mengenprinzip: Lieber eine kleine Einheit im Krieg und Kampf aufzuopfern als einen großen Verband. Auch dazu sagt das Gericht „Nein“. Eine Aufrechnung des Lebens von wenigen Menschen gegen viele missachtet die absolute und uneingeschränkte Subjektstellung des Menschen, relativiert sein Leben. Ein Einzelner darf nicht aufgewogen werden gegen viele, sein Leben ist nicht weniger wert als das vieler anderer.
Aber könnte man nicht argumentieren, dass die Passagiere in diesem Flugzeug ohnedies dem Tode geweiht, sie also beim Abschuss vielleicht nur wenige Minuten früher sterben müssen als bei dem von den Terroristen herbeigeführten Absturz? Auch da abermals eine eindeutiges „Nein“. Wiederum aus dem Grundgedanken, das Leben als höchstes Gut anzusehen, gilt: Auch ein nur noch sehr kurzes Leben hat keinen geringeren Wert als ein vielleicht langes, ist genauso schutzbedürftig, es gibt keine zeitliche Relativierung des Lebensanspruchs.
Konsequent verwirft auch das BVerfG die Argumentation der (alten) Bundesregierung, dass die Passagiere als Teil der Waffe anzusehen seien, zu dem sie die Terroristen gemacht haben. Richtig, damit wurden sie von den Verbrechern zum Objekt degradiert – aber genau das darf der Staat nicht tun. Mit einem Abschuss würde der Staat anerkennen, dass sie nur noch Objekte sind, das aber widerspricht wiederum dem Prinzip der unbedingten und niemals einzuschränkenden Subjektstellung des Menschen oder in den Worten des Gerichts „Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung eines Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.“ Der Mensch darf niemals „verdinglicht und entrechtlicht“ werden.
Selbst dem Angreifer wird nicht seiner Subjektqualität verweigert. Er muss sich – im Gegensatz zu den unbeteiligten Fluggästen – die staatliche Reaktion als Folge seines selbstbestimmten Verhaltens zurechnen lassen. Er selbst hat die Antwort der öffentlichen Gewalt herausgefordert, nicht dagegen der Passagier.

Nun würde mich sehr interessieren, ob Ihr die philosophische Grundlage des Urteils teilt. Versuchen wir, praktische Aspekte, mit denen sich das Gericht am Rande auch beschäftigt hat, wie etwa, ob sich überhaupt mit Sicherheit feststellen lässt, dass die Terroristen ihre selbstmörderische Absicht wahrmachen werden, außen vor zu lassen. Ziehen wir die Schlußfolgerung: Wiederholte sich die Szenerie von Manhatten über der City von Frankfurt/Main, die Bundesluftwaffe müsste tatenlos zusehen.
Eure Meinung, bitte, ist gefragt.
Ziesemann
 
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Der Kategorische Imperativ ist immer noch die idealtypische Grundlegung der - ob nun im Gesetzesraum oder im Privaten liegenden - Handlungsanweisungen unserer Kultur.


Gerade hier zeigt es sich, dass die Postmoderne mit der Leugnung aller verbindlichen Regeln wesentlich utopischer ist als unser alter guter Deutscher Idealismus.


Es bleibt wie es bleibt und ist: Leben kann nicht mit Leben aufgewogen werden und Entschluss ( also Kalkül),zu wessen Gunsten von legitimierten Vertretern der Staatsgewalt gehandelt werden darf, halte ich für inhuman.

Anfrage an den Threaderöffner: darf der/diejenige, die hier postet, die eigene Meinung ( doxa) in der ersten Person Singular wiedergeben. Ich beziehe mich bei dieser Anfrage auf des Verfassers Auslassungen über den Ichstil in Diskussionen?


Marianne
 
Ziesemann schrieb:
Die politischen und juristischen Aspekte – dass z.B. die Bundeswehr laut Grundgesetz in solchen Fällen gar nicht eingesetzt werden darf – sollen hier unberücksichtigt bleiben. Ohnedies muss damit gerechnet werden, dass Walter diesen Thread nach „Politik – Deutschland“ verschiebt, obwohl es hier ausschließlich um (Rechts-)Philosophische Fragen gehen soll.
Nach dem Studium der 25 (!) Seiten unfassenden Urteilsbegründung bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es auf dem Kantianischen Prinzip – auch wenn das vom BVerfG nie offen genannt wird – beruht, nach dem der Mensch niemals Mittel sondern immer nur höchster Selbstzweck sein darf.

Auch wenn ich diesen Vorschlag sehr begrüße und auch wenn ich nun gegen deine Absicht Ziesemann, verstoße: ich denke wir sollten hier kurz daran erinnern, wie es überhaupt zu diesem Prozess, dessen Urteil gestern verkündet wurde, kam.

Gegen das Gesetz, welches 2005 verabschiedet wurde, hatten der FDP-Politiker Burkhard Hirsch und einige Piloten geklagt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass der Bundespräsident Horst Köhler bei der Unterzeichnung Bedenken geäußert hatte und von sich aus eine Überprüfung empfohlen hatte.

Warum ich das hier auch erwähne: nicht nur um diese Fakten festzuhalten, sondern weil ich auch denke, dass das kantianische Gedankengut keine abstrakte Idee geblieben ist - sondern die Denkweise vieler geprägt hat - bis in ihren pragmatischen Überlegungen.
Wenn auch der Zusammenhang bei denen die das Gesetzt angezweifelt haben und dagegen geklagt haben nicht vordergründig zu erkennen ist: sie sind davon im positiven Sinne gezeichnet. Und das lässt wieder hoffen.

Sich an Prinzipien die man nicht aufgibt zu orientieren, bedeutet oft auch das Hinnehmen von Risiken und Gefahren. Und doch können wir uns eine vernünftige Gesellschaft nicht vorstellen, die solche wichtige Grundsätze über Bord wirft.

In dubio pro Kant
 
Darf ich Dich, liebe Miriam, darauf hinweisen, dass Du hier politisch wirst-
Wir sind in einem Philosophieunterforum, da genügt es nicht, es lebe Kant zu schreiben. Das sollte frau doch irgendwie begründen können, oder? Schau doch mal bei mir nach ( Post 2), wie elegant und kurz das mir gelungen ist. Doxa und begründende Argumentation anhand der philosophischen Fragestellung. Ich bin gut, nicht?

Allerdings gebe ich Dir in so fern Recht, dass mir diese Themenfrage auch für Philosophie nicht allzu geeignet erscheint. Sie gehört eher in Politik. Und so sind Deine Auslassungen durchaus verständlich. Aber - das ist meine Meinung. Diese muss nicht geteilt werden.

Marianne
 
Ziesemann - ein Vorschlag zur Güte und Angemessenheit von Themenanspruch und Argumentationsmöglichkeiten ....

In Allgemeiner Politik Thema:


Die moralphilosophische Begründung von Sicherheitsgesetzgebung


mir fällt gerade auf, dass, so formuliert, die Frage durchaus auch hier hätte stehen können ....
na ja - wir alten Besserwisser, die wir beide sind :reden: :reden:


Das in Politik gestellt, gäbe armen Diskutanten allerdings die Möglichkeit, nicht so krampfhaft nach der Goldenen Regel suchen zu müssen, mit der die meisten eh den Kantschen Kategorischen Imperativ verwechseln, auf den Du ansprichst.
Bin echt neugierig, wie sich allfällige andere Diskutanten aus der Sache winden werden.


frdlg

Marianne
 
Miriam schrieb:
Auch wenn ich diesen Vorschlag sehr begrüße und auch wenn ich nun gegen deine Absicht Ziesemann, verstoße: ich denke wir sollten hier kurz daran erinnern, wie es überhaupt zu diesem Prozess, dessen Urteil gestern verkündet wurde, kam.

Gegen das Gesetz, welches 2005 verabschiedet wurde, hatten der FDP-Politiker Burkhard Hirsch und einige Piloten geklagt. Dabei sollte man nicht vergessen, dass der Bundespräsident Horst Köhler bei der Unterzeichnung Bedenken geäußert hatte und von sich aus eine Überprüfung empfohlen hatte.

Liebe Miriam, richtig dass Du auf die Entstehungscausa zu sprechen kommst. Ich hatte sie aus zeit- und arbeitsökonomichen Gründen weggelassen auch um zu verhindern, dass der Thread verschoben wird - womit ich rechne.
Doch wenn Du schon Köhler bringst, dann darf ich ergänzen: Zuerst soll er spontan geäußert haben "Warum soll das nicht zulässig sein?" (ein gekapertes Flugzeug abzuschießen). Danach kamen ihm gravierende Bedenken.


Miriam schrieb:
Warum ich das hier auch erwähne: nicht nur um diese Fakten festzuhalten, sondern weil ich auch denke, dass das kantianische Gedankengut keine abstrakte Idee geblieben ist - sondern die Denkweise vieler geprägt hat - bis in ihren pragmatischen Überlegungen.
Sich an Prinzipien die man nicht aufgibt zu orientieren, bedeutet oft auch das Hinnehmen von Risiken und Gefahren. Und doch können wir uns eine vernünftige Gesellschaft nicht vorstellen, die solche wichtige Grundsätze über Bord wirft.
In dubio pro Kant
Danke. Du hast präzise konkretisiert, dass dem Urteil tatsächlich Kants Gedankengut zugrunde liegt. -
Nur: Ganz so leicht mit der "vernünftigen Gesellschaft" ist das nicht. Ich bin mir sehr unsicher, ob viele europäische Staaten diese Position teilen. - Die pragmatischen USA gewiss nicht, da genügt ein Befehl des Präsidenten, und der Flieger mitsamt Insassen stirbt noch in der Luft. Ich rüttele nicht am Prinzip, will aber fragen - auch um eine kontroverse Diskussion zu entzünden - ob wir es uns wieder nicht sehr schwer machen, Terrorismus zu bekämpfen. Der frühere Innenminister Schily - ein Realissimo - war da ganz eindeutig.

Beste Grüße - Ziesemann
 
Herr Professor und Jubelanhang antworten mir nicht ?


Wissen Sie keine Antworten ? Bleiben Sie im Faktisch -Empirischen stecken? Na ja, dieses Thema gehört schon von der Fragestellungslogik in Politik, wiederhole ich mich.


Marianne


Ich schreibe das nur - soviel Kindischkeit habe ich mir erhalten, um allen, die hier am Thema wirklich interessiert darauf hinzuweisen, dass eigentlich philosophischer Widerrede keine Antwort zuteil wird.
Ist das der philosophisch - Sokratische Dialogansatz des Themenherstellers und der seiner gescheiten Stichwortgeberin?

Weitere Schlussfolgerungen zu ziehen überlasse ich dem - hoffentlich auch belustigten - Publikum.


Marianne, alias Sokratine Luziferensa
 
By the way: Man beachte den ungeheuren Zuspruch, den dieses Thema bereits hat.
Aus der Zahll der sich hier so wohlwollend Äußernden haben bereits einige - ich gehöre nicht dazu, meine kritische Einstellung ist oben ersichtlich - das Thema so gut beweretet, dass es schon wieder in den Rängen glänzt.
Ich schließe mich den anonymen Bewertern an : Mir macht es Spaß, hier zu posten und der deutschn Politk zu lauschen und zu lauschen und zu lauschen....

Marianne, lauschend
 
ich wills kurz machen (weil ich jetzt und in den nächsten Tagen wenig Ziet fürs Forum habe, arbeite wieder mal an einem Projekt):

ich verstehe die Entscheidung des Gerichts nicht.
Ich schließe mich dem Inneminister Schäuble an, der fragt:
wenn auf der Autobahn viele andere auf der gleichen spur entgegenkommen, sollte man dann nicht in Erwägung ziehen, daß man selbst der Geisterfahrer ist?
Er spielt damit auf die Gesetzgebung in anderen Ländern an, besonder in USA.

Man stelle sich vor, die Terroristen haben nur eine Geisel an Bord und steuern auf das Frankfurter Zentrum zu, sie machen sich noch lustig über die deutsche Gesetzgebung, das Gestz lähmt jegliche Aktivität und opfert tausende (plus die Geisel) :wut1: :wut1: :wut1:

meint claus
 
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Siehst Du, Claus - auch Du antwortest ganz fragenlogisch - nämlich politisch.
Und da kann frau/ man ja durchaus verschiedener Meinung sein. - by the way: natürlich auf der Moralebene auch - ich denke da an Macchiavelli und seine Begründung staatlichen Handelns.
Meine feste doxa habe ich bereits in meiner ersten Antwort Kund getan.

Marianne
 
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