Kant und das Luftsicherheitsgesetz
Gestern hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das 2005 verabschiedete Gesetz in allen wesentlichen Teilen als mit der Verfassung unvereinbar für nichtig erklärt. Nach diesem Gesetz hatte die Bundesluftwaffe das Recht erhalten, notfalls ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mitsamt ihren unbeteiligten Passagieren abzuschießen, um einen größeren Verlust an Menschenleben zu verhindern. Ausgangspunkt des gesetzgeberischen Handelns war der bekannte „Nine-eleven“ 2001.
Die politischen und juristischen Aspekte – dass z.B. die Bundeswehr laut Grundgesetz in solchen Fällen gar nicht eingesetzt werden darf – sollen hier unberücksichtigt bleiben. Ohnedies muss damit gerechnet werden, dass Walter diesen Thread nach „Politik – Deutschland“ verschiebt, obwohl es hier ausschließlich um (Rechts-)Philosophische Fragen gehen soll.
Nach dem Studium der 25 (!) Seiten unfassenden Urteilsbegründung bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es auf dem Kantianischen Prinzip – auch wenn das vom BVerfG nie offen genannt wird – beruht, nach dem der Mensch niemals Mittel sondern immer nur höchster Selbstzweck sein darf.
Das Leben gilt danach als das oberste Rechtsgut, das als Grundrechtsverpflichteter der Staat unter allen Umständen zu schützen hat. Das erlaubt und gebietet, notfalls Terroristen zu töten, um unschuldige Menschenleben vor dem Tode zu retten. – Aber darf diese Notwehrhandlung auch vorgenommen werden, wenn dabei „Tatunbeteiligte“ ums Leben kommen? Das BVerfG antwortet mit einem klaren „Nein“. Denn in diesem Fall werden die Passagiere zum Objekt degradiert, mit ihrem vom Staat vorsätzlich herbeigeführten Tod sollen sie helfen, Schlimmeres zu verhüten.
Aber verlangt nicht der Staat in anderen Situationen zum Beispiel vom Soldaten und Polizisten unter Umständen auch die Opferung des Lebens, um anderes Leben zu retten? Müssen also nicht etwa 100 Fluggäste in Kauf nehmen, geopfert zu werden, um zu verhindern, dass vielleicht Tausende umkommen? Antwort: „Nein“. Die Tötungshandlung des Soldaten oder Polizisten, der dabei Gefahr läuft, selbst sein Leben zu verlieren, richtet sich unmittelbar und nur gegen den Angreifer, nicht aber, jedenfalls nicht vorsätzlich gegen Unschuldige.
Könnte man aber nicht abwägen, dass es besser ist, einhundert verlieren ihr Leben statt eintausend? Alle Streitkräfte der Welt operieren nach dem Mengenprinzip: Lieber eine kleine Einheit im Krieg und Kampf aufzuopfern als einen großen Verband. Auch dazu sagt das Gericht „Nein“. Eine Aufrechnung des Lebens von wenigen Menschen gegen viele missachtet die absolute und uneingeschränkte Subjektstellung des Menschen, relativiert sein Leben. Ein Einzelner darf nicht aufgewogen werden gegen viele, sein Leben ist nicht weniger wert als das vieler anderer.
Aber könnte man nicht argumentieren, dass die Passagiere in diesem Flugzeug ohnedies dem Tode geweiht, sie also beim Abschuss vielleicht nur wenige Minuten früher sterben müssen als bei dem von den Terroristen herbeigeführten Absturz? Auch da abermals eine eindeutiges „Nein“. Wiederum aus dem Grundgedanken, das Leben als höchstes Gut anzusehen, gilt: Auch ein nur noch sehr kurzes Leben hat keinen geringeren Wert als ein vielleicht langes, ist genauso schutzbedürftig, es gibt keine zeitliche Relativierung des Lebensanspruchs.
Konsequent verwirft auch das BVerfG die Argumentation der (alten) Bundesregierung, dass die Passagiere als Teil der Waffe anzusehen seien, zu dem sie die Terroristen gemacht haben. Richtig, damit wurden sie von den Verbrechern zum Objekt degradiert – aber genau das darf der Staat nicht tun. Mit einem Abschuss würde der Staat anerkennen, dass sie nur noch Objekte sind, das aber widerspricht wiederum dem Prinzip der unbedingten und niemals einzuschränkenden Subjektstellung des Menschen oder in den Worten des Gerichts „Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung eines Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.“ Der Mensch darf niemals „verdinglicht und entrechtlicht“ werden.
Selbst dem Angreifer wird nicht seiner Subjektqualität verweigert. Er muss sich – im Gegensatz zu den unbeteiligten Fluggästen – die staatliche Reaktion als Folge seines selbstbestimmten Verhaltens zurechnen lassen. Er selbst hat die Antwort der öffentlichen Gewalt herausgefordert, nicht dagegen der Passagier.
Nun würde mich sehr interessieren, ob Ihr die philosophische Grundlage des Urteils teilt. Versuchen wir, praktische Aspekte, mit denen sich das Gericht am Rande auch beschäftigt hat, wie etwa, ob sich überhaupt mit Sicherheit feststellen lässt, dass die Terroristen ihre selbstmörderische Absicht wahrmachen werden, außen vor zu lassen. Ziehen wir die Schlußfolgerung: Wiederholte sich die Szenerie von Manhatten über der City von Frankfurt/Main, die Bundesluftwaffe müsste tatenlos zusehen.
Eure Meinung, bitte, ist gefragt.
Ziesemann
Gestern hat das deutsche Bundesverfassungsgericht (BVerfG) das 2005 verabschiedete Gesetz in allen wesentlichen Teilen als mit der Verfassung unvereinbar für nichtig erklärt. Nach diesem Gesetz hatte die Bundesluftwaffe das Recht erhalten, notfalls ein von Terroristen gekapertes Flugzeug mitsamt ihren unbeteiligten Passagieren abzuschießen, um einen größeren Verlust an Menschenleben zu verhindern. Ausgangspunkt des gesetzgeberischen Handelns war der bekannte „Nine-eleven“ 2001.
Die politischen und juristischen Aspekte – dass z.B. die Bundeswehr laut Grundgesetz in solchen Fällen gar nicht eingesetzt werden darf – sollen hier unberücksichtigt bleiben. Ohnedies muss damit gerechnet werden, dass Walter diesen Thread nach „Politik – Deutschland“ verschiebt, obwohl es hier ausschließlich um (Rechts-)Philosophische Fragen gehen soll.
Nach dem Studium der 25 (!) Seiten unfassenden Urteilsbegründung bin ich zu der Überzeugung gelangt, dass es auf dem Kantianischen Prinzip – auch wenn das vom BVerfG nie offen genannt wird – beruht, nach dem der Mensch niemals Mittel sondern immer nur höchster Selbstzweck sein darf.
Das Leben gilt danach als das oberste Rechtsgut, das als Grundrechtsverpflichteter der Staat unter allen Umständen zu schützen hat. Das erlaubt und gebietet, notfalls Terroristen zu töten, um unschuldige Menschenleben vor dem Tode zu retten. – Aber darf diese Notwehrhandlung auch vorgenommen werden, wenn dabei „Tatunbeteiligte“ ums Leben kommen? Das BVerfG antwortet mit einem klaren „Nein“. Denn in diesem Fall werden die Passagiere zum Objekt degradiert, mit ihrem vom Staat vorsätzlich herbeigeführten Tod sollen sie helfen, Schlimmeres zu verhüten.
Aber verlangt nicht der Staat in anderen Situationen zum Beispiel vom Soldaten und Polizisten unter Umständen auch die Opferung des Lebens, um anderes Leben zu retten? Müssen also nicht etwa 100 Fluggäste in Kauf nehmen, geopfert zu werden, um zu verhindern, dass vielleicht Tausende umkommen? Antwort: „Nein“. Die Tötungshandlung des Soldaten oder Polizisten, der dabei Gefahr läuft, selbst sein Leben zu verlieren, richtet sich unmittelbar und nur gegen den Angreifer, nicht aber, jedenfalls nicht vorsätzlich gegen Unschuldige.
Könnte man aber nicht abwägen, dass es besser ist, einhundert verlieren ihr Leben statt eintausend? Alle Streitkräfte der Welt operieren nach dem Mengenprinzip: Lieber eine kleine Einheit im Krieg und Kampf aufzuopfern als einen großen Verband. Auch dazu sagt das Gericht „Nein“. Eine Aufrechnung des Lebens von wenigen Menschen gegen viele missachtet die absolute und uneingeschränkte Subjektstellung des Menschen, relativiert sein Leben. Ein Einzelner darf nicht aufgewogen werden gegen viele, sein Leben ist nicht weniger wert als das vieler anderer.
Aber könnte man nicht argumentieren, dass die Passagiere in diesem Flugzeug ohnedies dem Tode geweiht, sie also beim Abschuss vielleicht nur wenige Minuten früher sterben müssen als bei dem von den Terroristen herbeigeführten Absturz? Auch da abermals eine eindeutiges „Nein“. Wiederum aus dem Grundgedanken, das Leben als höchstes Gut anzusehen, gilt: Auch ein nur noch sehr kurzes Leben hat keinen geringeren Wert als ein vielleicht langes, ist genauso schutzbedürftig, es gibt keine zeitliche Relativierung des Lebensanspruchs.
Konsequent verwirft auch das BVerfG die Argumentation der (alten) Bundesregierung, dass die Passagiere als Teil der Waffe anzusehen seien, zu dem sie die Terroristen gemacht haben. Richtig, damit wurden sie von den Verbrechern zum Objekt degradiert – aber genau das darf der Staat nicht tun. Mit einem Abschuss würde der Staat anerkennen, dass sie nur noch Objekte sind, das aber widerspricht wiederum dem Prinzip der unbedingten und niemals einzuschränkenden Subjektstellung des Menschen oder in den Worten des Gerichts „Schlechthin verboten ist damit jede Behandlung eines Menschen durch die öffentliche Gewalt, die dessen Subjektqualität, seinen Status als Rechtssubjekt, grundsätzlich in Frage stellt.“ Der Mensch darf niemals „verdinglicht und entrechtlicht“ werden.
Selbst dem Angreifer wird nicht seiner Subjektqualität verweigert. Er muss sich – im Gegensatz zu den unbeteiligten Fluggästen – die staatliche Reaktion als Folge seines selbstbestimmten Verhaltens zurechnen lassen. Er selbst hat die Antwort der öffentlichen Gewalt herausgefordert, nicht dagegen der Passagier.
Nun würde mich sehr interessieren, ob Ihr die philosophische Grundlage des Urteils teilt. Versuchen wir, praktische Aspekte, mit denen sich das Gericht am Rande auch beschäftigt hat, wie etwa, ob sich überhaupt mit Sicherheit feststellen lässt, dass die Terroristen ihre selbstmörderische Absicht wahrmachen werden, außen vor zu lassen. Ziehen wir die Schlußfolgerung: Wiederholte sich die Szenerie von Manhatten über der City von Frankfurt/Main, die Bundesluftwaffe müsste tatenlos zusehen.
Eure Meinung, bitte, ist gefragt.
Ziesemann