>> Homo hominem non lupus est << - von Unwahrheiten in Märchen
Das andere Rotkäppchen
Es war einmal ein kleines Mädchen, das sich aufmachte, die Großmutter zu besuchen. Unterwegs pflückte es Blumen, um sie der Großmutter zu schenken. Kuchen und Wein hatte es nicht. Der Wein blieb dem Vater, und der Kuchen war eingefroren. Aber die Blumen dufteten und würden die Großmutter erfreuen.
Als das kleine Mädchen ankam, war die Großmutter tot. Sie lag still und weiß und ganz klein in ihrem Bett.
Das kleine Mädchen weinte sehr. Nun gab es niemanden mehr, der es lieb hatte.
„Warum ist sie nur so klein?“
„Weil sie jetzt ein Engel ist, und alle Engel sind Kinder,“ sagte eine Stimme neben dem kleinen Mädchen.
Das Mädchen erkannte den Wolf.
„Du hast sie nicht gefressen?“ fragte es.
„Nein,“ sagte der Wolf traurig. „Wir fressen Menschen nicht. Sie sagen es uns nur nach.“
„Das ist schade,“ bedauerte das kleine Mädchen den Wolf. „Ich würde gern bei Wölfen leben.“
„Dann nimm dein rotes Käppchen und komm mit mir.“
„Ich habe kein rotes Käppchen.“
„Nun, wenn du schon kein Käppchen in der Farbe der Liebe hast, dann doch sicher einen anderen Schutz.“
„Ich glaube, sie haben mich nicht beschützt. Der Wein war im Vater, und der Kuchen war eisig. Ich habe nur diese Blumen.“
„Sie sind sehr schön. Wir werden dir einen Kranz flechten. Nimm sie und komm zu uns.“
Da ging das kleine Mädchen mit dem Wolf zu den Wölfen.
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Unterwegs fragte es: „“Warum freßt ihr die Menschen nicht?“
„Weil wir sie fürchten. Wir leiden unter einer angeborenen Beiß-Hemmung. Sie legt uns den Zwang auf, uns fernzuhalten. Daher kennen wir die Menschen nicht, und oftmals fürchtet man sich vor dem Unbekannten.“
„Eigentlich bin ich da anders,“ meinte das kleine Mädchen. „Ich fürchte mich vor Dingen, die ich kenne.“
„Dann sind es böse Dinge,“ sagte der Wolf.
„Vater ist nur böse, wenn er den Wein trinkt.“
„Er ist böse, w e i l er den Wein trinkt.“
„Hast du auch Kinder?“ fragte das kleine Mädchen den Wolf.
„O ja,“ antwortete der Wolf stolz, „ich habe acht Kinder.“
„Und sind die alle immer bei Pflegemüttern?“
„Natürlich nicht. Sie leben mit ihrer Mutter und mir in derselben Wohnung.“
„Muß die Mutter nicht arbeiten gehen?“
„Erst, wenn die Kleinen größer sind. Dann geht sie aber nur einkaufen, damit alle genügend zum Essen haben.“
„Sind die Kinder dann allein?“
„Niemals. Wir haben Babysitter. Das sind die Mütter, deren Kinder noch ganz klein sind. Bei denen halten sich unsere Kinder einstweilen auf.“
„Trinkt ihr Väter auch Wein?“
„Nein. Denn das würde uns daran hindern, unseren Frauen Nahrung zu beschaffen, wenn sie sich mit den Kindern befassen -, und ihnen bei der Erziehung der Kinder zu helfen.“
„Bekommt bei euch auch immer zuerst der Vater das größte und beste Stück Fleisch?“
„O nein. Wir kennen keinen Futterneid. Bei uns bekommt jeder, auch wenn er nicht zur Familie gehört, den gleichen Anteil.“
„Ist es bei euch auch nicht so, daß nur das gilt, was der Vater sagt?“
„Nein. Wir haben keine Leit-Tiere. Wir sind glücklich darüber, irgendwie einsehen zu können, welche Handlung nötig ist.“
„Jeder kann das?“
„Jeder.“
„Auch die Kinder? Werden die nicht ständig bestraft?“
„Nein. Sie können tun und lassen, was sie wollen. Wird es mal zu aggressiv, entscheiden unsere Alpha-Tiere, ob die Kinder vielleicht zu wenig spielen.“
„Was sind Alpha-Tiere?“
„Sie sind keine Beherrschenden. Es sind die Weisesten. Die am besten wissen, wie wir uns schützen können.“
„Habt ihr auch Hunde?“
„Nein. Denn Hunde sind unsere früh gestorbenen Kinder. Ewig jung gebliebene Wolfskinder. Sie könnten den Menschen sonst nicht ertragen.“
„Und warum manchmal dieses Geheul?“
„Es ist sozusagen unser Telefon oder eine Art Rauchzeichen. Damit niemand verlorengeht.“
„Reißwolf, Fleischwolf, Wolfshunger ...“, murmelte das kleine Mädchen.
„Alles Irrtümer,“ beschwichtigte der Wolf. „Einer ihrer Philosophen soll gesagt haben, wir Wölfe verkörpern die egoistische Natur des Menschen. Sie kennen uns eben nicht.“
„Und Werwolf?“
„Die Verwandlung könnte einen unbewußten Wunsch ausdrücken, zu sein wie wir. Das Böse, das dabei herauskommt, ist vielleicht der Teufel, der sie davon abhalten will, allen Mitmenschen rote Käppchen aufzusetzen.“
„Es muß schön sein bei euch,“ seufzte das kleine Mädchen. „Hoffentlich kann ich nur recht lange bei euch bleiben.“
„Und wenn ich groß bin,“ fuhr es tapfer fort, „werde ich meinen Kindern diese roten Käppchen nähen – und ihnen meine wahre Geschichte vom guten Wolf erzählen.“
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aus: © runner:
„Die ganz anderen Tiergeschichten – Wahrheiten für Erwachsene“,
1995-1998, Seiten 51 - 55