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heiter-sentimental

  • Ersteller Ersteller runner
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R

runner

Guest
Was manchmal im Leben geschieht: umständehalber wechselt man seinen Lebensraum. Oder weil man es so will. Das aber seltener.
Jemand erzählte mir, er habe fortziehen müssen von einer Gegend, die ihm sehr am Herzen lag, an einen Ort, der auf ihn wie graues Manhattan wirkte. Da gab es freundliche Menschen, aber die Häuser waren Betonbauten, Massenquartiere. Da fehlten Farben, es fehlte Licht in den Straßen, es fehlten Bepflanzungen und Buntes. Und dieser Mensch bekam Fernweh -, quälerisch. Lastzüge – Trucks -, die irgendwo parkten oder an ihm vorbei dröhnten, wirkten auf ihn, als müsse er sie stoppen, um mit in die Ferne fahren zu können. Die pfeifenden Geräusche rasender Schnellzüge am Stadtrand schmerzten in seinen Ohren -, mehr noch in seiner Seele. Er fühlte die Zwänge, hier leben zu müssen, wie Ketten an seinen Füßen. Die Luft, die er einatmen mußte, hätte er am liebsten mit einem Filter gereinigt. Und nichts wünschte er sich mehr als Augengläser, die ihm etwas Wundervolles vorgaukeln könnten.

Eines Tages traf er auf einem Spaziergang – denn es trieb ihn deprimiert immer wieder hinaus aus der Stadt in die Felder und Wälder der Umgebung – einen Mann, der ihn aufmerksam ansah, ihn freundlich grüßte – und dann, mit Blick hinter ihm her, stehenblieb. ‚Warten Sie,’ rief er, ‚wenn es recht ist. Warten Sie einen Moment.’ Und beide vertieften sich, auf einer morschen Bank sitzend, in eine Begegnung, die bis in die Abendstunden dauerte. Der Fremde stellte keine Fragen. Er erzählte dem anderen lediglich von Imaginationen, die alles ersetzen können, wenn auch irreal, was man vermisse. Wundervolle Vorstellungswelt. Etwas, das jemandem zum Künstler machen kann -, zum Maler, zum Poeten, zum Liedermacher. Nach der Methode gefragt, sagte er: ‚Nein, nein -, du mußt es einfach nur wollen. Dein persönliches Talent wecken. Denn jeder hat es in sich -, oft unbewußt, oft ein ganzes Leben lang nicht hervorgeholt. Einfach versäumt. Und das muß eigentlich nicht sein.“ Dann stand er auf und ging fort.

In dem Zurückbleibenden breitete sich Ruhe aus. Neugier. Wunschdenken. Wollen.
Und auch er ging nun den Weg zurück. Plötzlich hoffnungsvoll. Seine Düsternis riß auf. Am Horizont seines Fühlens erschien ein heller Streifen: Heiterkeit. Er würde von nun an alles in diese Stadt hineindenken, was ihr fehlte: Farben, Licht, Musik. Und er würde die Veränderungen sehen und leben können: imaginativ-erlösend.

 
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AW: heiter-sentimental

Ein tröstlicher Gedanke: Wenn die Wirklichkeit nicht erfüllen kann, was wir uns wünschen, dann haben wir noch die Welt der Fantasie.
So lassen sich schwere Zeiten überstehen.

Gefällt mir, ein brauchbares Werkzeug! :clown2:
Danke runner!
 
AW: heiter-sentimental

Hallo Runner - von dem wir nur folgendes mutmassen dürfen: dass er ein Läufer ist - oder ein Renner.
Was aber ziemlich sicher scheint zu sein: dass du sehr schön schreibst.

Es gefällt mir nicht nur die einfache Art der Erzählung, sondern hauptsächlich der Satz am Ende:

Er würde von nun an alles in diese Stadt hineindenken, was ihr fehlte: Farben, Licht, Musik. Und er würde die Veränderungen sehen und leben können: imaginativ-erlösend.

Danke dir und willkommen ins Forum

Miriam
 
Auf dem Weg zum Bahnhof gestern hob ich eine Feder auf. Eine graue Feder mit weiß-schwarzen Flaumbüscheln am Kiel. Taube -, danke. Du hast sie nicht mehr gebraucht. Mich erfreut sie. Mich erinnert sie. An die Effie meiner Geschichten, die am offenen Fenster mit einer Feder in ihr Tagebuch schreibt, während der Schleier vieler Pastellfarben um ihr Haar weht. Wie ich hineingehe in diese erfundene Hütte aus Steinen und ihr zusehe, weil die Hand einer Person, die ich nicht sehen konnte, mich vom Rand des Flusses hinweg dorthin geführt hat. Erstes Bedauern, den kleinen Wellen, die vom gegenüberliegenden Ufer zu mir zurückkommen, nicht mehr zusehen zu können, verliert sich. Zurückgesetzt in eine Zeit, in der man sich die Farbe für seine Texte aus einem zierlichen Tintenfaß entlieh und sie auf pergamentenem Papier zu Worten schnörkelte.

Ich hatte die Feder aufgehoben und sie vorsichtig in meine Geldtasche gelegt, um sie heute zu fotografieren, sie so unsterblich zu machen und dann in einen kristallenen Behälter zu stellen, der mein Bücherregal schmücken würde.Vielleicht sogar vor einem Buch mit dem Titel: „Verabredung mit mir selbst“ von Patricia Tudor-Sandahl.

Es sind so oft die kleinen Dinge, die dich heiter machen.
 
Der Regen hat die Blüten geköpft.
Oh arger Feind. Und doch
haben Pflanzen neue Kräfte geschöpft,
sich emporgerichtet aus trockenem Joch,
um morgen knospend Neues zu schenken
und des Menschen Blick wieder auf sich zu lenken.

Sieh da: wie Perlen an einer Kette
liegen Regens Tropfen auf einem Blatt,
als wenn dies sich eifrig bemühet hätte,
den Blick, den man dorthin gerichtet hat,
zu erfreuen, wer schließlich vorübergeht
und den Kopf oft nach solchen Kleinheiten dreht.

Sieh noch: des Spektrums Farben am Himmel,
in einem Halbkreis hochgezogen ...
Zwischen Sonne und dunklem Wolken-Gewimmel
spannt sich nun ein Regenbogen,
strahlt Heiteres in die Welt und Buntheit allen,
denen solche Dinge wie Wunder gefallen.



 
Manchmal sitzt eine fette Taube im dichten Geäst der Bäume vor meinem Fenster und äugt mit kullerigen Seh-Organen herüber. Wie heute wieder. Ich dachte: man sollte sich tatsächlich die Dinge des Lebens auch einmal von der anderen Seite betrachten. Und ich ging hinaus, um damit anzufangen.

Auf einem der Balkons entsorgte gerade eine Dame die verblühten Ästchen aus den Blumenkästen, indem sie sie einfach hinunter warf auf den dortigen Grasstreifen. Gute Idee, dachte ich, was zueinander paßt, soll man zusammenführen. Pastoren, die eine Trauung zelebrieren, machen da manchmal Fehler. Einfach weil sie keine Gelegenheit haben zu prüfen, ob die vor ihm stehende Blume mit dem weißen Schleier in ihrem zukünftigen Ehemann wohl einen sanften Rasen vorfindet oder ob es sich da eher um einen potentiell Rasenden handelt.

Auf einem anderen Balkon betrachtete ein Senior die Welt durch ein Fernglas. Ich hoffte, er würde den schneeweißen Kampfhund hinter mir, den ich eben gestreichelt hatte, ins vergrößerte Blickfeld rücken, möglichst aber nicht mich. Sicherheitshalber bemühte ich mich mit wenig Anstrengung um ein heiteres Lächeln und winkte fröhlich hinauf. Und tatsächlich: er winkte zurück. Eine neue Bekanntschaft? Prima. Hat nichts gekostet.

In einem geöffneten Fenster hatte es sich eine kugelrunde Dame mit einem ebenso kugeligen Kissen, auf ihre Unterarme gestützt, bequem gemacht. Sie harrte offensichtlich der Dinge, die da kommen könnten. Bestimmt fand sie das Fernsehprogramm ebenso uninteressant wie ich. So war sie mir gleich sehr sympathisch. Eine dicke Zigarettenrauch-Wolke entwich ihren gespitzten Lippen, was mich erneut zum Nachdenken brachte, wer wohl einst diesen Mund geküßt haben mochte. Oder es heute noch tut? – Schicksale.

Hinter manchen Fenstern waren dicke, farbige Vorhänge noch zugezogen. Menschen nach ihrem Nachtdienst? Leute, die nicht wollten, daß die frühe Sonne ihre Teppiche ausbleicht? Babys nach dem Morgentrunk und einem melodisch klingenden Bäuerchen im seligen Schlaf?
Jemand, der - aus welchen Gründen auch immer – einfach nur die Welt aussperren möchte?

Dieses würde ein Tag des Interesses und des vielen Nachdenkens werden. Vielleicht auch des Aufschreibens. Ich verließ meinen „Posten der dicken äugenden Taube“ und nahm mir vor, einfach öfter einmal so manches Geschehen, wenn es denn vielleicht unangenehm ist, von einer anderen Seite zu betrachten, um Heiterkeit nicht sterben zu lassen.


http://img460.imageshack.us/img460/9563/fettetaubecm5.jpg

(Foto: copyright runner)
 
Ich ließ es mir erzählen -, und an manchen Stellen fand ich mich sogar selbst wieder.

„Der Wind, sagte sie, war noch nie ein Liedermacher für mich. Manchmal weiß ich schon vorher, daß er kommen wird: er kommt dann von Osten, und ich bin krank. Eine Homöopathin fragte mich einmal: sind Sie wetterfühlig? Und ich sagte: Ja, bei Ostwind und vor Gewittern geht es mir schlecht. Sie nahm es sehr ernst. Vielen mag es übertrieben klingen. Aber schon 1962, als ich Staatsexamen machte, waren der Föhn und seine Folgen für Herz und Kreislauf – besonders im Raum München – im Buch eines Pathologen explizit erwähnt worden. Dabei finde ich das Heulen ums Haus und unter den Türen hindurch gar nicht einmal uninteressant. Sicherlich ist es physikalisch erklärbar ... oder sonstwie. Davon verstehe ich nichts. Aber nach manch einem Urlaub – an den Küsten Dänemarks – mußte ich mich erst wieder vom Wind erholen. Ein keineswegs „himmlisches Kind“ ist er für mich, da Kinder nichts Arges und nichts Boshaftes an sich haben. Winde sind meine Feinde. Daher können sie auch nicht „himmlisch“ sein. Gott schickt keine Feinde in die Welt. Sogenannte Feinde erzeugen sich selbst. Oft sind es Menschen ohne Heiterkeit: verklemmt, böse (auch mit sich selbst), frustriert, machtbesessen, laut. ...“

Sie erzählte noch, da schlug der Wind eine Tür zu. Laut. Ich fuhr zusammen. S i e erschrak dabei nicht. „Windsbraut“ -, das Wort fiel mir ein. Sind das Menschen – vom Winde verweht?
Sie lächelte mich an. Heiter.
 
keineswegs heiter

Wenn du erst alt bist, ist derjenige Lebensabschnitt gekommen, in dem du für nichts mehr Zeit hast: das Renten-Alter. Und das bedeutet: du mußt dich an den Kassen der Einkaufszentren vordrängeln -, auch an den Schaltern von Sparkassen und Banken. Im Bürgeramt, wo Nummernzettel für die Reihenfolge der Bedienung zu ziehen sind, ist es nötig, einen Alters-Schwächeanfall vorzutäuschen, um in der Schlange der Wartenden nach vorn rücken zu dürfen. In Bahnen und Bussen hast du zu behaupten, einen Behinderten-Ausweis zu besitzen, um einen Sitzplatz zu erzwingen. Solltest du einen Besuch im Zoo planen, für den du dir die Zeit schwer abringen mußt, ist es angebracht, das Haar tagelang nicht zu waschen und dann zu verstrubbeln, eine Woche lang ins Sonnenstudio zu gehen und dir dort durch über lange Liegezeiten allerhand Falten ins Gesicht zu brennen – und dich dann möglichst noch auf eine Unterarm-Krücke zu stützen, um an der Zoo-Kasse nicht anstehen zu müssen und dann als „Person über 98 Jahre“ auch noch freien Eintritt zu haben.

Nun bedenke – ehe du eine senile Depression bekommst -, ob es dir – siehe oben – nicht allerhand Vorteile verschafft, vergreist zu sein. Tut es das? wc. Die Toleranzbreite der Massen solchen Personen gegenüber ist gering. Man fühlt sich durch die Alten des Staates unter Druck gesetzt. Also kürzt man die Renten, schränkt die Möglichkeit zu bestimmten medizinischen Versorgungsmaßnahmen ein, geizt mit dem Aufstellen von Ruhebänken in Parks und Stadtzentren, baut unbegehbare Rolltreppen in den Bahnhöfen, hält die Gehälter klein, damit nicht soviel in die Sozialkassen eingezahlt werden kann. Irgendwann – so hofft man – besinnen sich vielleicht die Rentner auf frühere Zeiten, wo diese Menschen für ein „sozialverträgliches Früh-Ableben“ sorgten.

"Un-Wort" des Jahres 1998. Tja, Ärzte (wie könnte es auch anders sein) -kammerpräsidenten wissen schon, was sie sagen.

 
AW: heiter-sentimental

Ein vortrefflicher Einblick in persönliche Denk- und Sichtweise, die man uns gestattet. Lieber Runner, Du - ist das Du genehm? - verstehst es, einerseits kurz und prägnant, andererseits verspielt und mit Tiefgrund zu umschreiben. Mit Entzücken erfreute ich mich Deiner Taube, wie sie da sitzt und äugt. Aber nicht die Taube war Grund meines Entzückens, sondern jener Umstand, man müsse sich die Dinge auch einmal von der anderen Seite betrachten.

Dies ist der Beginn. Du gingst also hinaus, um den Vogel aus anderem Blickwinkel zu beäugen. Der Weg dorthin ist gepflastert mit Eindrücken, die Du nicht gehabt hättest, wenn Du die Taube weiterhin von Deinem Fenster aus beobachtet hättest. Zwar ist der Weg nicht das Ziel, denn Absicht war "die andere Seite", doch eröffnet sich uns, daß der Weg nicht nur Zweckmittel ist, sondern Sammelsurium von Wegabzweigungen und neuer Weltsicht.

Eine Geschichte die Freude macht, weil sie die Wunderbarkeit des Banalen abhandelt, weil sie jenes zur Handlung nimmt, was wir in der Alltagssprache als Nichts bezeichnen. Aber ist die seiende Taube ein Nichts? Oder die rauchende Dame? Oder die neue Bekanntschaft?

Es deutet sich ein großer Geist an, der sich nicht an Überhöhten labt, sondern am Alltag seinen Rausch findet. Transzendenz, was ist das? - Hier
gleichwohl das Alltägliche, wie auch das Unfaßbare! Ja, ein Hauch von Mystik, der unserem technisierten und automatisierten Alltag nur guttun kann.

Lieber Runner, erfreue mich - und uns - weiterhin...

Eine Anmerkung, die ich nachreichen möchte: Der von Dir zitierte Ausspruch, welcher sich in Deiner Signatur wiederfindet, aus der Feder der geschätzten Lilith, gleicht in gewisser Weise meinem... kümmert sich der Mensch um den Menschen, nimmt ihn also wahr, so hat dies zweifelsfrei heilende Wirkung. Ein wahrlich großer Ausspruch. Wenn wir überhaupt in unserer Beschränktheit von Wahrheit sprechen können, dann ist es dieser Ausspruch, dem Wahrheit innewohnt.
 
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http://img519.imageshack.us/img519/8587/derwegmi8.jpg



Am Weg, den niemand geht,
brach ich die Rose,
dir zu schenken,
fragend,
wie könnte ich sie in deine Hand legen,
wenn ich dir nicht begegne.



Oben, wo sich der Weg zwischen Bäumen verliert, sah ich sie stehen. Wo warst du, fragte ich. An einem Baum gibt es nun ein kleines Grab für mich, sagte sie, wo ich allezeit mein Kind wiederfinden kann.
Ich schwieg. Sie war kein Mensch, den man ausfragen darf. Geduld mußte man haben. Manchmal sprach sie von selbst. Meistens teilte sie nichts mit. So wie jetzt, da sie an mir vorbei den Weg hinablief, tapfer die Steine duldend, die dort lagen -, große und kleine.

Was machst d u mit den Steinen auf deinem Weg? Mit denen, die für jeden von uns aus unerfindlichen Gründen dort liegen, und jenen, die man uns in den Weg wirft? Umgehst du sie? Sammelst du sie auf und trägst du sie mit dir? Setzest du deine nackten Füße auf sie, um die Schmerzen, die sie bereiten sollen, von deinen Fußsohlen aus über viele Nervenbahnen bis ins Zentrum deines Denkens gelangen zu lassen, um erst dann zu überlegen, was dir da geschieht? Oder streust du feinen, goldenen Sand über sie als Zeichen des Ignorierens, um nicht verletzt zu werden?

Unten, wo der Weg im Tal verschwindet, liegen Steine, die groß sind. Schwer -, und dennoch leichter begeh- und leb-bar als die nadeligen Spitzen fremden Unmuts.
Sollte ich an diesem Tag umkehren? – Nein, ich ging hinauf, um das Kind zu besuchen.




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