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Gemeinsame Novembergeschichte

ob sie wohl diesen willi geheiratet hatte?
war sie noch immer so gertenschlank wie damals? waren ihre haare so dunkel wie damals? oder hätte sie vielleich schon das eine oder andere graue haar? oder war es vielleicht gar gefärbt?

so wie das seiner mutter?
bei der hatte er noch nie ein graues haar gesehen.
unvorstellbar, dass ernestine eines haben könnte!

damals war sie ja noch so jung gewesen. knappe 16 jahre. und doch war sie ihm auf eine bestimmte art schon so reif erschienen.
reifer als es seine mutter jemals war.

wieso fiel ihm überhaupt dauernd seine mutter ein. fragte er sich.
jetzt war es aber genug!
mit einer schnellen handbewegung ließ er die offenen briefe auf seinen schreibtisch fallen, an dem er die ganze zeit gedankenverloren gesessen hatte.

er machte sich auf zu seiner staffelei und betrachtete das letzte gemälde. vielleicht sollte er die große linde dazumalen?
 
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AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er nahm Palette, Farbe und Pinsel und begann erst zögernd, dann mit immer sicheren Pinselstrichen die Linde zu malen, so wie er sie in Erinnerung hatte.
Der breite Stamm mit seinen dicken Wurzelsträngen, die in die Erde griffen und seiner breiten, schattenspendenden, dicht belaubten Krone.
Die Linde trug grünes Laub, denn in seiner Erinnerung an sie war immer Sommer gewesen. Er konnte sich gar nicht vorstellen, wie sie im Winter aussehen würde.
Oder im November, wenn ihre Blätter das Gras unter dem Baum in einen bunten Teppich verwandelten.
Nach einer Stunde schaute er sich das Bild noch einmal aus Distanz an.
Und er war nicht zufrieden.
Das war keine Sommerlandschaft. Das Licht stimmte nicht. Und der sommerliche Baum wirkte deplatziert darin, die Harmonie war zerstört worden.
Und dann wusste er plötzlich, was zu tun war.
Er musste die Linde sehen. Er musste ein neues Bild von ihr in seinem Kopf aufzeichnen, um es dann richtig malen zu können.
Er musste ihren Geruch im November erleben. Er musste den Wind in Ihren kahlen Ästen hören, oder die Stille des Nebels, der sich darin verfing.
Er wollte unter diesem Baum im toten Laub liegen.
Und er wollte sich vergewissern, dass es ihn immer noch gab.
Rasch zog er seinen Mantel und die warmen Schuhe an und verliess das Haus.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Jetzt ist der gute Franz aber lange genug unterwegs gewesen. Lassen wir ihn doch endlich ankommen :)

Er fand die Linde, die Wiese, die sanfte Landschaft der Sommer seiner Jugendzeit. Alles war noch da, wie er es in Erinnerung hatte, wenn auch mit kleinen Veränderungen.
Natürlich, es war November, der Baum war fast kahl, das Gras unter ihm weniger grün und gesprenkelt vom Laub der Linde. Der Baum selbst war noch mächtiger geworden, noch ausladender seine Äste, noch dicker sein Stamm.
Und auf der einen Seite gab es eine tiefe Narbe. Es sah aus, als hätte irgendwann ein Blitz in den Baum eingeschlagen, ohne ihn jedoch zerstören zu können. Der Baum hatte längst den grössten Teil der Wunde überwuchert.
Auch das Licht war anders.
Er setzte sich nicht unter die Linde, sondern auf eine Bank in der Nähe, so dass er sie im Blick hatte.
Und wartete, was als nächstes geschehen würde.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Je mehr er den Baum betrachtete, wurde ihm bewusst, dass er ihn so wie er jetzt war, ohne den Blättern die das Geäst bedeckten, erst recht wahrnahm. Noch nie hatte er sich wirklich gefragt, wie sein eigentliches Innere, aussehen würde. Und fast fand er diese Verzweigungen die nun erst sichtbar wurden, schöner als das Laub welches ihn bis jetzt so verzaubert hatte.
Erst jetzt sah er manche Unregelmäßigkeiten, die ihm natürlich im Sommer, unter dem Laub nicht aufgefallen waren.

Eben diese Unregelmäßigkeiten der Verästlungen gaben der Linde ihren sehr individuellen Charakter. Er war sich sicher, dass erst so, in dieser Jahreszeit die Bäume ihre eigenwillige Natur zeigen würden, dass erst wenn sie so entlaubt sind, keine Linde der anderen gleichen würde.

Er freute sich dies in seinem Bild wiederzugeben, obwohl er auch begriff, dass dies ihm viel mehr abverlangen würde als die Bäume die er meist im Sommer gemalt hatte.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er nahm seinen Skizzenblock, den er mitgenommen hatte, aus der Tasche und begann zu zeichnen. Und wie meistens, wenn er sich mit Zeichnen und Malen beschäftigte, vergass er alles, was sonst um ihn herum war. Es gab nur noch diesen Baum, den er in seiner wirren Komplexität zu erfassen versuchte, um sein Bild, aber mehr noch seinen Charakter mit dem Bleistift auf der weissen Fläche des Papiers wiederzugeben.
Plötzlich riss ihn eine Stimme aus der tiefen Versenkung. Eine Frauenstimme, die sagte: "Das ist aber eine wirklich schöne Zeichnung. Ich finde, sie haben das Wichtige dieser Linde sehr gut getroffen."
Die Frau war unbemerkt hinter ihn getreten und hatte ihm über die Schulter gesehen. Doch als sie zu reden begonnen hatte, war er erschrocken und zusammengezuckt, so dass nun ein unschöner dicker Bleistiftstrich quer übers Blatt lief.
Die Frau sagte: "Ach entschuldigen sie bitte, das wollte ich nicht!"
Franz wandte sich um und sah in Augen, die er kannte.
Sie waren nun von einem Netz aus Fältchen umgeben, aber immer noch genauso lebendig, wie er sie in Erinnerung hatte.
Ernestine.
 
aber ernestine erkannte ihn nicht.
"wo kommen sie denn her, wenn ich fragen darf? so leicht verschlägt es ja niemanden in unsere einsame gegend." lächelte sie ihn an.
oh - sie war immer noch bezaubernd. ihr haar war zu einem pagenkopf kurz geschnitten. trotz ihrer fältchen wirkte sie jung und alterslos.
franz sah sie nur fasziniert an - unfähig ein wort zu äußern.
"bitte entschuldigen sie nochmals. ich will sie keineswegs stören.", ernestine wandte sich zum gehen.
"aber nein, nicht doch!" entfuhr es ihm. "bitte bleiben sie doch!"

franz hatte sich seit jahren nicht solch emotional gefärbte worte sagen hören.
ernestine warf einen blick zurück und sah ihn auffordernd zu.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er stand auf, nein er sprang förmlich auf die Füsse um Ernestine nachzueilen.
Er wusste nicht, wieviele Gelegenheiten er in seinem Leben schon ungenutzt hatte verstreichen lassen, wieviele Möglichkeiten er übersehen, wieviele Chancen er verpasst hatte.
Aber er wusste eines ganz genau: Dies hier würde er nicht einfach so vorbeigehen lassen. Er wusste nun, dass er aus einem ganz bestimmten Grund hierher zurückgekommen war, diese ganze seltsame Geschichte ergab plötzlich so viel Sinn.
Ernestine war stehen geblieben und lächelte ihn an. Noch immer schien sie ihn nicht zu erkennen, aber Franz hatte das Gefühl, als habe sich da etwas Neues in ihren Blick geschlichen, eine leichte Verwunderung und - ja tatsächlich! - Interesse.
Sie sagte: "Ich finde es ein wenig kühl hier, obwohl ich diesen Ort sehr gerne mag. Ich wohne gleich da vorne im Dorf. Wenn sie möchten, dann kommen sie doch nachher noch vorbei, wenn sie fertig sind mit Zeichnen. Wir könnten einen Tee trinken und sie können sich ein wenig aufwärmen. Also, kommen sie nachher ruhig, es ist das dritte Haus auf der linken Seite der Hauptstrasse. Das mit der blauen Türe."
Damit wandte sie sich ab und ging zügigen Schrittes richtung Dorf.
 
rund um ihn war die zeit stehengeblieben. wie schon einmal war da nichts mehr als nur LICHT.
franz konnte nicht mehr ausnehmen, wie ernestine hinter dem hügel verschwand, erwartungsvoll schmunzelnd.
er befand sich wieder in diesem vakuum aus wärme, strahlen und SEIN.
sein herz atmete leichtigkeit, sein gesicht versank in entspannung und freude. das leben war schön. einfach schön.

wie lange er so verharrt hatte, wusste er nicht.
er merkte nur am einfall der sonne, dass es um einiges später sein musste. auch begann ihn ein wenig zu frösteln.
schnell packte er seine sachen zusammen und eilte ins dorf.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Auf halbem Weg blieb er plötzlich stehen und drehte sich um. Irgendetwas hatte er vergessen.

Er lief den Weg zurück und wirklich, auf der Bank lag noch sein Skizzenblock. Die Linde im November, mit ihrem kahlen Geäst, ohne ihre im Sonnenlicht flirrenden Blätter, die jeden klaren Blick auf die Äste und den Stamm verhindert hatten.

Er hatte es nun ganz nackt gezeichnet, dieses klare, bleibende, sich nur langsam entfaltende Wesen dieses lebendigen und kraftstrotzenden Baumes.

Er wollte seinen Block grad an sich nehmen, da hüpfte das kleine Mäuschen plötzlich von einem Ast auf die Bank. Franz zuckte erschrocken zurück, aber als er die schwarzen freundlichen Augen des kleinen Nagers sah, da lächelte er und sagte: "Ohne dich, mein kleiner Freund, hätte ich meine Linde nicht gefunden! Wer weiß, was ich noch alles finden werde?"

Er winkte dem Mäuschen zu und schritt wieder mit festen Schritten auf das Dorf zu.
 
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sein herz hüpfte vor aufregung und freude. seine füße flogen nur so dahin.
ernestines haus mit der blauen eingangstüre war bald gefunden. kaum dass er die eingangsglocke in gang setzte, ging sie auf. ernestine hatte ihn offenbar schon erwartet und bat ihn freundlich hinein.
nun setzte sie das teewasser auf, derweil er ablegte. aus den augenwinkeln sah er, dass in der küche auch die teekanne schon bereitstand. zwei schöne porzellantassen daneben.
ernestine geleitete ihn ins zimmer und hieß ihn niederzusetzen.

ihm war, als wäre er endlich heimgekommen. der raum kam ihm so bekannt vor....dabei hatte er noch nie zuvor einen fuß in dieses haus gesetzt.
und auch der geruch! alles roch ihm vertraut. hier könnte er immer bleiben!

"was also hat sie hierhergeführt? ich habe sie noch nie hier gesehen."
mit diesen worten holte ihn ernestine in die realität zurück.
 
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