• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Gemeinsame Novembergeschichte

AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Sollte er noch einmal nach oben gehen um zu suchen? Er dachte, es müsse doch noch mehr geben auf diesem Dachboden und indem er bloss grübelnd hier unten sass, würde er es bestimmt nicht finden.
Tugend. Wie war er überhaupt darauf gekommen? Und was bedeutete dieses Wort überhaupt? Sein Sinn war ihm durch die ständige Wiederholung des blossen Wortlautes vollkommen abhanden gekommen.
Da hörte er ein leises Kichern aus der Ecke des Zimmers. Die kleine Dachbodenmaus sass dort und lachte sich ins Pfötchen.
Dann trippelte sie demonstrativ vor ihm durch und steuerte auf die Treppe zum Dachboden zu. Sie hüpfte auf die unterste Stufe, drehte sich um, schaute ihn an und wartete.
Er sollte ihr offensichtlich folgen.
Er erhob sich, die Maus kletterte weiter die Treppe hoch, zwischendurch immer wieder innehaltend um zu sehen, ob er ihr auch wirklich nachkam.
Dann schlüpfte sie ohne zu zögern durch die offenstehende Tür des Dachbodens, rannte zum grossen Kleiderschrank, der dort immer noch mitten im Raum stand, zwängte sich durch einen Riss in der Schranktür und verschwand darin.
Der Maler öffnete die Tür. Dichter Nebel wallte ihm entgegen und hüllte ihn sofort vollständig ein. Irgendwo vor sich im Schrank hörte er das Kichern der Maus. Er beugte sich weit vor um zu sehen, wo sie war, verlor im gleichen Moment das Gleichgewicht und stürzte vornüber.
Und landete in einer anderen Welt...
 
Werbung:
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

... in einer Welt des Rausches,

denn er vernahm ein Rauschen und Brummen mit feinen Übertönen,
wie es ihm bisher nur per Tinnitus gelang -

das füllte aus dem Nebeldunst heraus den ganzen Dachbodenraum,
und ohne zu überlegen - denn diese Zeit hätte ihn nur aufgehalten -,
ließ er sich hineinfallen in den Wolkendunst und davontragen in den dämmerigen Novembertag ...
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er wusste nicht, wie lange er in diesem rauschenden Rauschzustand dahingetrieben war. Er erinnerte sich später nur an dieses Gefühl der Geborgenheit, des Getragenseins, das ihn so wohlig einhüllte und ihn daran erinnerte, wie weich und friedlich er sich damals gefühlt hatte, wenn er krank in seinem Bettchen lag und seine Mutter ihn mit dem warmen flauschigen Federbett zugedeckt hatte, ihn nochmals küsste und ihre kühle Hand auf seine fieberheiße Stirn legte. Dann einfach die Augen zufallen lassen, langsam versinken in der Dämmerung des Schlafes, behütet und beschützt - wie süß war diese Erinnerung.

Das Rauschen verdichtete sich zu einer sanften Melodie. Er wollte die Augen noch nicht öffnen, zu schön war dieses Gefühl, in dem er sich so wohlig eingebettet fand. Die Melodie veränderte sich in fließenden Übergängen, wurde vom sanften Wiegenlied zu einem rhytmischen, aufmunternden Liedchen, das den Maler mit seinen fröhlich daherspringenden Tönen aus der geruhsamen Schläfrigkeit riss und ihn dazu brachte, die Augen zu öffnen.
 
Zuletzt bearbeitet von einem Moderator:
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er fand sich wieder in einer Landschaft, die ihm sehr bekannt vorkam.
Die muntere Melodie wurde von einem kleinen Bächlein erzeugt, das flüsternd zu seinen Füssen zwischen grossen Steinen vorbei plätscherte.
Woher kannte er bloss diese Gegend, überlegte der Maler.
Das Land erstreckte sich in sanften Wellen bis zum Horizont, an dem man im Dunst ganz schwach eine Gebirgskette ausmachen konnte. Wälder und Wiesen waren harmonisch in der Gegend verteilt, der Himmel wirkte wie gemalt.
Hoppla. Jetzt wurde ihm plötzlich glasklar, weshalb ihm das alles so vertraut schien. Er hatte diese Landschaft selbst gestaltet. Er war in der Welt seines letzten Bildes gelandet.
Er blickte zu Boden. Seine Füsse standen auf sattem dunkelgrünen Gras. Echtes Gras, oder? Er kauerte sich nieder, fuhr mit der Hand darüber und riss dann einen Grashalm ab. Er steckte ihn in den Mund und begann, darauf herumzukauen.
Die Maus, die unweit unter einem Baum sass, kicherte leise.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

beim Durchgang in den Landschaftsraum schloß sich hinter ihm
die Tür für exakt solange ihm der Atem stockte,
denn es war Seine Melodie :romeo:
und in Gestalt seiner selbst verlief er sich in den Pinselstrichen,
bis er ganz erstaunt gewahrte,
daß alles sich nach seinem Willen bewegte, - bis auf die Maus!:hase:

die piepste und harrte der Dinge, die ihm nicht gelingen sollten,
weil sie ihm nicht gehörten ...
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Und diese Maus wurde langsam aber sicher zum Stein des Anstosses für den Maler. Es war ihm gelungen, sein eigenes Bild zu betreten, er konnte hier alles gestalten, alles kontrollieren, oder? Was sollte denn diese Maus da mit ihrem aufdringlichen Gepiepse?
Er erinnerte sich, dass er ja eigentlich nur hierher gekommen war, weil er auf der Suche nach dem Geheimisvollen war. Und was war schon geheimnisvoll an einem kleinen Pelztier?
Gereizt drehte er der Maus den Rücken zu und begann, diese wunderbare Landschaft zu durchwandern. Irgendwo hier, da war er überzeugt, musste es etwas Grossartiges, etwas Prächtiges, ja etwas Dramatisches zu entdecken geben.
Und er würde es finden.
Erhobenen Hauptes schritt er weiter.
Die Maus folgte ihm unauffällig.
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Er achtete nicht sehr auf den Boden, über den er Schritt. Trotzig und ein wenig hochmütig stapfte er in seine Landschaft hinein. Wozu war er denn jetzt hier? Wenn es auch etwas Großartiges zu finden gab, woran er allerdings selbst zweifelte, so konnte es doch nicht geheimnisvoll sein. Außerdem gab es hier nichts, was er nicht selbst gemalt hatte, also gab es auch kein Geheimnis.

Mit diesen Gedanken beschäftigt schritt er achtlos weiter.
"Au!" rief er plötzlich aus und fasste sich an die Stirn. Er war gegen ein Hindernis geprallt und hatte sich einen kleinen Kratzer eingehandelt, der ziemlich stark blutete.
Das Eigenartige an der Sache war aber, dass da kein Hindernis zu sehen war.

Der Maler machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts und achtete besonders auf seinen Kopf. Er stieß wieder gegen etwas, das nicht zu sehen war. Er tastete mit seinen Händen von seiner Stirn ausgehend dieses Hindernis ab und stellte fest, dass es sich höchstwahrscheinlich um einen Baum handelte, der ganz und gar unsichtbar war.

Seine Hände erfühlten einen kräftigen Ast, an den er mit seinem Kopf gestoßen war, und tasteten sich entlang dieses Astes bis zu einem gewaltigen Stamm, dessen Rinde stark zerrissen war und der einen eigenartigen Duft ausströmte.

Der Maler hatte den Eindruck, dass er unter einer dichten Blätterkrone stand, denn er fühlte sich seltsam geborgen und beschützt, obwohl er nicht begriff, warum da nichts von einem Baum zu sehen war.

Die kleine Maus kicherte leise, sprang plötzlich in die Luft und blieb in Augenhöhe des Malers scheinbar im Nichts vor ihm sitzen. Sie blickten sich an und horchten!
 
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Sie hörten ein leises Säuseln, ein Flüstern und Knistern wie von Wind, der durch trockenes Laub streicht. Es war, als sänge dieser unsichtbare Baum ein merkwürdig vertrautes Lied und auch der Duft, den er verströmte, kam dem Maler plötzlich sehr bekannt vor, ohne dass er aber hätte sagen können, woher er ihn kannte.
Die Maus begann nun plötzlich ganz seltsame kleine Bewegungen zu machen, schwang ihre Pfötchen durch die Luft, als dirigiere sie dieses Lied der Blätter.
Dann presste sie ihre Pfoten auf einmal ganz fest zusammen, verharrte so einen Moment und zog sie dann ganz langsam und behutsam auseinander.
Zwischen ihnen erschien nun eine transparente, blass leuchtende Kugel, die sich immer mehr ausdehnte, bis sie etwa die Grösse eines Tennisballs erreichte und dann leicht vibrierend in der Luft hängen blieb.
Der Maler beugte sich etwas vor, um sie genauer zu betrachten und stellte zu seinem grössten Erstaunen fest, dass in dieser Kugel eine Landschaft war.
Und er kannte diesen Ort.
Er erkannte die Wiese und die grosse Linde, unter deren ausladender Krone er als Kind oft gespielt hatte. Es war sein Lieblingsort gewesen.
Und plötzlich sah er sich selber, oder besser gesagt eine viel jüngere Version von sich, die über die Wiese gerannt kam, ein kleines Päckchen unter dem Arm.
Er sah sich zu, wie er sich am Fuss der Linde hinkniete und hektisch begann, die Erde mit seinen blossen Händen aufzuscharren. Weinte er?
Immer wieder schaute er sich gehetzt um, während er grub und nur mühsam das Loch im Boden vergrösserte.
Als es ihm tief genug schien, nahm er das Päckchen, legte es hinein und schob eilig Erde darüber. Er stand auf und stampfte den Boden mit seinen Füssen fest.
Der Maler beugte sich nun noch mehr vor, um genauer sehen zu können und stiess mit der Nase gegen die Kugel.
Sie platzte wie eine Seifenblase.
 
auf seinem gesicht verteilten sich kleine wasserspritzer.
sie liefen ihm über die wangen und es wirkte beinahe als würde er weinen.
und wirklich...es war ihm weh zumute.
er dachte über diese seltsame kugel nach. und über den unsichtbaren baum von vorhin.
in der kugel sah er ja, dass es die große linde gewesen war.
die linde seiner jugendzeit.
und er erinnerte sich an seine ferien, die er junger bursch von 18 jahren in den bergen verbrachte hatte. hinter dem haus seines onkels, bei dem er die ganze zeit über wohnte, stand sie auf einer schönen, offenen anhöhe.
wieviele jahre mag er schon nicht mehr dort gewesen sein?
er überlegte.
so um die 28 jahre müssen es schon sein, dachte er.
doch seit dem vorfall konnte er nie mehr dorthin zurückkehren. vielmehr wollte er von dieser begebenheit nie mehr etwas wissen.
auch jetzt nicht. er drehte seine gedanken gleichsam ab, kehrte am absatz um und wollte sich zurückbegeben, als er vor sich das mäuschen sah.
es sah ihn mit schelmischen knopfaugen an.
ihm war, als würde das kleine tier alles wissen. all das, was er krampfhaft zu verdrängen suchte.
 
Werbung:
AW: Gemeinsame Novembergeschichte

Das Mäuschen kicherte. Es lief auf den Maler zu, der sich unter dem unsichtbaren Baum ins sattgrüne Gras gesetzt hatte um seine durcheinanderwirbelnden Gedanken zur Ruhe kommen zu lassen.

Neben ihm wartete es und schaute ihn unentwegt an, machte ab und zu eine kleine Kopfbewegung, so als ob es ihm bedeuten wollte, er solle ihm folgen.

Der Maler saß eine Weile ganz versunken in seine Gedanken und nahm keine Notiz von den Versuchen des kleinen Tierchens, ihm zum Mitgehen zu bewegen. Doch schließlich fielen ihm die eindeutigen Gesten des kleinen Mäuseköpchens auf und er stand neugierig auf und schaute, wohin die kleinen Füßchen liefen.

Ja, die liefen! Und wie sie liefen! Zuerst den unsichtbaren Stamm des riesigen unsichtbaren Baumes senkrecht in die Höhe, dann waagrecht an weit ausladenden unsichtbaren Ästen entlang, elegante Sprünge immer weiter hinauf, hin und her flitzte das eifrige Mäuschen, als ob es mit seinem Lauf dem Maler die Größe und Gestalt dieses Baumes, den er nicht sehen konnte, nachzeichnen wollte, damit er sich ein Bild davon machen konnte.

Voll Staunen entdeckte der Maler, dass in seinem Kopf eine ziemlich konkrete Vorstellung davon entstanden war, wie dieser Baum aussah. Diese Entdeckung erfüllte ihn mit einer stillen Freude, denn er erlebte hier zum ersten Mal bewusst, wie ein Bild in seinem Kopf entstand. Diesen Baum könnte er nicht einfach abmalen.

Er summte fröhlich eine kleine Melodie vor sich hin. Die unangenehmen Erinnerungen an seine Jugend hatte er durch dieses Schauspiel der kleinen Maus ganz vergessen und er blickte sich um, wo sich denn das Tier versteckt hatte.

Er sah, dass an einer Stelle in der Wiese Erde herausgewühlt war und beobachtete erstaunt, wie die kleine Maus geschickt mit ihren Vorderpfötchen versuchte, ein Loch zu graben. Die kleinen Pfötchen hatten ganz schön zu tun.

Der Maler dachte an das Bild in der Kugel - an das Loch unter dem Baum. Er kniete sich neben die Maus und grub vorsichtig mit seinen Fingern weiter an der schon vorhandenen Vertiefung. Die Maus blickte ihn aufmunternd an, und da packte ihn die Neugierde. Er wollte wissen, was hier vielleicht vergraben war. Seine Hände waren schon schwarz von der Erde, und er grub und grub.
 
Zurück
Oben