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Der Tag, an dem ganze Biergärten sich erheben und die 3. Strophe singen
von Thea Dorn
http://www.welt.de/data/2006/07/04/943544.html
Im allgemeinen gehöre ich zur Spezies der Massenvermeiderin. Doch heute abend werde auch ich wieder in den Biergarten mit Großleinwand ziehen. Beim Ecuador-Deutschland-Spiel war ich zum ersten Mal dort. Als die deutsche Nationalhymne gesungen wurde, erhoben sich von den versammelten 3000 Leuten vielleicht 300, eher zögerlich. Beim Deutschland-Argentinien-Spiel stand bereits der halbe Biergarten auf. Wird heute abend der ganze Biergarten mithymnen? Wenn ja: Was soll uns das sagen?
Stellen Sie sich vor, Sie wären Kandidat in einer Quizshow und hätten folgende Frage zu beantworten: In welcher der folgenden Nationalhymnen kommt weder der Begriff "Waffen", "marschieren" noch "Tod" vor: (a) Marseillaise, (b) Fratelli d'Italia, (c) A Portuguesa, (d) deutsche Nationalhymne? Glückwunsch. Die richtige Antwort lautet (d). Totti & Fratelli werden heute abend singen, bereit, zu sterben, da Italien gerufen hat. Figo und seine Mannen werden morgen abend die Helden des Meeres zu den Waffen rufen, um die "Pracht Portugals" wiederaufzurichten - "über Land und über See". Was ihnen allerdings keinen mentalen Vorsprung verschaffen dürfte, denn ihre Gegner um Zidane werden gleichfalls zur Bewaffnung und zum Marschieren auffordern, "damit ein unreines Blut unserer Äcker Furchen tränke". Nur gut, daß Italiener auf italienisch, Portugiesen auf portugiesisch und Franzosen auf französisch singen. Wer weiß, welche Roten Karten der deutsch-pazifistische Erregungschor unseren Fußball-Gästen sonst schon gezeigt hätte.
Wir Deutschen haben sechs Millionen und mehr Gründe uns zu schämen. Aber sollte unsere Hymne mit ihrer unmartialisch-demokratischen dritten Strophe ebenfalls Anlaß für Scham sein? Oder gibt der Wandel vom "Deutschland, Deutschland über alles" hin zu einem Land, in dem "Einigkeit und Recht und Freiheit" herrschen sollen, nicht Anlaß für bescheidenen Stolz?
Auch ich war bis vor kurzem eine der geschätzten 79,9 Millionen Deutschen, die den Text unserer Hymne nicht einmal mitsingen könnten, selbst wenn sie wollten. Denn in der Tat: Unsperrig ist es nicht, was Hoffmann von Fallersleben da vor 165 Jahren auf Helgoland gedichtet hat. Trotzdem schlage ich lieber im Lexikon nach, was das von Walter Jens als unverständlich-unzeitgemäß geschmähte "Glückes Unterpfand" eigentlich bedeutet (schließlich ist es mir auch irgendwie gelungen zu begreifen, was das Dosenpfand ist), bevor ich mir im Biergarten und "unseren Jungs" auf dem Platz die Peinlichkeit zumute, vor den italienischen "Pronti alla morte"-Gesängen Brechts "Kinderhymne" intonieren zu sollen.
Keine Ahnung, ob ich heute abend den patriotischen Mindestmumm aufbringen werde mitzusingen. Keine Ahnung, was ich empfinden werde, wenn sich heute der ganze Biergarten erhebt. Das beklemmende Gefühl, einer könnte anfangen, die erste Strophe zu singen, wird wohl bleiben. Obwohl in Zeiten des schwarz-rot-gelben Narrenkappen-Patriotismus vielleicht eher zu befürchten wäre, daß ein Alpha-Spaßvogel auf die Idee kommt, die zweite Strophe anzustimmen. Das ist die mit dem deutschen Wein - Sie wissen schon.