Miriam schrieb:
Und nun an dich die Frage? Wie würde eine Lösung nach dir aussehen?
Ich kann dir nämlich keine nennen, aber möchte diese Wahrheiten kennen - und sie auch, im Rahmen meiner bescheidenen Möglichkeiten, weitergeben.
Hallo Miriam,
ich kann natürlich keine Lösung anbieten und Wahrheiten schon gar nicht.
Ich wollte vielleicht ein wenig provozieren, weil ich mich ein paar Dinge an dem thread störten.
Aber wäre ein solches Gestörtsein nicht schon wieder unmoralisch angesichts des Ausmaßes an Tod und Elend?
Was mich stört, ist eine Formulierung wie:
Das heißt, dass ein Kind welches vor Hunger stirbt, heute, jetzt, in diesem Moment wo wir reden. ermordet wird.
Solche Formulierungen finde ich fragwürdig. Sie ist nicht nur unhaltbar, ich finde sie auch moralisch fragwürdig. Man darf nicht alles über dieselbe moralische Empörtheitsschiene fahren und komplexe Probleme, auch wenn sie massenhaften Tod bedeuten, mit Mord gleichsetzen. Die Formulierung suggeriert eine bewusste, verabscheuungswürdige tat aus niederen Motiven. Diese gibt es aber nicht, weil es nicht "den Täter" oder "die Motive" gibt.
Das zweite, was mich störte, war das angesprochene
weltweite Gewissen im Threadtitel.
Der Appell geht ans Moralische, kein Zweifel. Was aber ist ein weltweites Gewissen?
Man muss sich klar sein, wie unwahrscheinlich es für ein Individuum ist, Geschehnisse als belastend für sein Gewissen zu betrachten, die tausende von Kilometern vonstatten gehen und von denen er lediglich über die Massenmedien in deutlich selektierten Bildern und Informationen erfährt. Das Gewissen belastet einen, wenn er Unrecht begangen hat - aber was habe ich denn gemacht?
Ich sage das nicht aus Haarspalterei, oder um mich zu mokieren, sondern weil ich auf etwas hinaus will:
Wie kann man um Himmels Willen überrascht oder gar empört darüber sein, dass moralische Appelle nichts nützen? Wie kann man denn, wenn man ein bisschen etwas über Psychologie weiß, annehmen wollen, das schlechte Gewissen müsse stärker sein und würde zu entscheidenden Handlungen motivieren?
Gewissen ist etwas perönliches. Da es kein allgemeines Gewissen geben kann, muss dies organisiert werden. Man muss sozusagen Gewissensorganisationen gründen.
Man könnte sie auch sarkastisch "Organisationen zum Melken von massenmedial erzeugtem schlechtem Gewissen nennen".
Und können diese Organisationen moralischer sein als andere Organisationen? Können sie das Gute allein für sich pachten und den schwarzen Peter weiterhin den Mächtigen und Manipulatoren überlassen?
Nach dem Einblick, den ich in solche Organisationen habe, scheint mir das nicht so zu sein. Diese Organisationen müssen erfolgreich mit dem Gut "Moral" handeln. Und um das zu tun - müssen sie auch unmoralisches Handeln in ihren Reihen in Kauf nehmen. Sie müssen Korruption, Eigeninteresse, Manipulation mehr oder weniger bewusst hinnehmen- und können doch mehr oder weniger darauf vertrauen, dass dies vom guten Zweck, den sie verfolgen überdeckt wird, sich Kritik also in Grenzen hält.
Was mich auch noch gestört hat, war der Ausdruck "Mission" ganz am Ende des Interviews. Das erinnert doch allzu sehr daran, wie alles anfing und wie es weiterging. Erst kamen die Missionare, sie hatte die göttliche Moral auf ihrer Seite. Dann kamen die Entwicklungshelfer, auch sie mit der Moral auf ihrer Seite. Als die Entwicklungshilfe zum Großteil scheiterte, benannte man sie um - in Entwicklungszusammenarbeit. Es blieben die moralischen Appelle und das schlechte Gewissen - der anderen, wohlgemerkt.
Das ganze läuft darauf hinaus, dass in der Diskussion von sehr eigenartigen Prämissen ausgegangen wird:
Die "Bosheit", die schlechte Seite der Moral, liegt selbstverständlich bei den 500 übernationalen Konzernen, die das Bruttoweltprodukt "kontrollieren".
Das Gute liegt bei den selbstlosen Helfern - die leider gerne übersehen, dass ihre Methoden über Jahrzehnte untauglich waren, aber dazu dienten, eine gute eingespielte Gewissensindustrie aufzubauen, die zwar nicht große Profite ablieferte, aber selbstlosen wohlhabenden Nachwuchs als Selbstfindungsspielwiese diente.
Und die historische Bringschuld liegt selbstverständlich nur im reichen Norden - denn es gab wohl einen historischen Sündenfall, und man ist selbstverständlich auch für all die korrupten afrikanischen Herrscher verantwortlich, und auch dafür, dass die sozialen Strukturen auf dem schwarzen Kontinent ein wenig anders sind, als im Norden.
Ich überspitze jetzt ein wenig, aber irgendwie sieht das Ganze mehr nach einer Religion aus, statt nach eine Methode der Weltrettung, viele Aktivisten ähneln mehr Priestern, sie predigen Wasser, trinken Wein und schicken weiter Praktikanten für wenig Geld nach Afrika...
Freien Markt muss es natürlich geben, Banken braucht es, denn das sind wirtschaftliche Instrumente, aber die müssen einer demokratisch formulierten Normativität unterworfen werden, den Menschenrechtsgedanken, dem Solidaritätsgedanken, dem Gedanken der sozialen Gerechtigkeit innerhalb der Länder und zwischen den Völkern.
Das fehlt heute, es herrscht der Djungelkapitalismus, der Raubtierkapitalismus, die reine Willkür der Kosmokraten, der Konzernherren. Hier braucht es einen Aufstand des Gewissens.
Da kann ich nur staunen. Das autonome Wirtschaftssystem soll sich einer demokratisch formulierten Normativität unterwerfen? Wie soll das gehen? Jürgen Habermas entwirft eine Normativität, wir stimmen darüber ab, die Wirtschaftsbosse sagen: "Ja o.k." ? Werden das diese Raubtiere denn mit sich tun lassen?
Ich will mir nicht den Preis für den Oberzyniker abholen, daher:
Es kann sein, dass manche der vorgeschlagenen Maßnahmen richtig sind, was denn Abbau von Wirtschaftsschranken und die Streichung von Schulden.
Aber dann?
Ich glaube, der Weg kann nur durch eine Stärkung der betroffenen Länder von innen kommen. Ich glaube mittlerweile, dass wir es ihnen selbst überlassen müssen; nur gesellschaftsstrukturelle Veränderungen, die von innen kommen, haben Aussicht auf Stabilität.
Vielleicht nur ein Weg, mein Gewissen "zu beruhigen"?
Ich glaube nicht, dass wir weiterkommen, wenn wir Moral und Gewissen so einseitig zuweisen. Ein Konzernchef ist kein Raubtier, viele dieser Menschen tun Gutes. Und die Aktivisten sollten sich nicht so schamlos als die Auserwählten der Moral gerieren.
Das Problem liegt in der Komplexität der Probleme an sich. Es gibt schädliche Strukturen, doch kein Mensch kann "guten Gewissens" behaupten, wenn man dies oder jenes verändere, käme am Ende mit Sicherheit eine Verbesserung zustande. Ist sein Wissen sicher genug, um sein Gewissen zu stärken? Hat man nicht schon so viele Beispiel misslungener Steuerung von außen gesehen?