maler76
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Das weiße Spitzenkleid
Von maler76
Das Foto stammt aus dem Jahre 1963, Ort: Stahnsdorf
(Entnommen meinem Buch: Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3)
Plauen. Die Nacht zum 15. Februar 1957, einem Freitag, da schrillte die Sirene. Alarm! In Sekundeneile schlüpfen die Schüler des dritten Lehrjahres geübt in die Klamotten. Waffen empfangen, abmarschbereit! Ein kilometerlanger Marsch. Bei Eis und Schnee. Über Wald- und Feldwege, im unwegsamen Gelände. Zwischendurch die berüchtigten Einlagen: „Flieger von rechts, Maschinengewehrfeuer von links, chemischer Alarm, vor uns Baumsperre!“ Schnelles Fassen von Entschlüssen. Und da ist jeder mal dran, schließlich müssen die Männer jetzt ganze Züge im „Gefecht“ führen. Da entscheidest du im Ernstfall mit über Tod oder Leben von dreißig Mann. Viel Kopfarbeit ist also angesagt. Erst am späten Nachmittag marschieren (oder schleichen) die Schüler durch das Kasernentor zurück in die Unterkunft. Etwa fünfzig Kilometer haben sie unter die Füße genommen. Kaputt und todmüde sind sie. Da heißt es auf einmal, noch am gleichen Abend sollen oder dürfen sie zum Faschingsabend, also zum Tanz! Die DAKO, die Damenkonfektion von Plauen, der Patenbetrieb, hätte eingeladen. Einige Unentwegte jubeln. Andere fluchen, auch Henry. Er denkt an Erfurt zurück. Nach einem zweitägigen 70-Kilometermarsch, bei einigen Schülern drang bereits das Blut durch die Socken, hieß es in der Kaserne plötzlich, wer will, kann noch ausgehen. Und die ganz Kühnen zogen sich um, die Blasen bekamen Jod, und ab durch das Kasernentor. Henry nicht. Sich mit mehr oder weniger Schmerzen über die Tanzfläche schleichen oder einfach nur Bier saufen? Wozu die Mühe? So, und heute Abend? Kurze Überlegung: Immerhin eine weitere gute Gelegenheit – muß er sich ehrlich eingestehen – auf nette und niveauvolle Bekanntschaften, keine Weiber von gewöhnlichen Schwofabenden. Sein Entschluß: Er wird dabei sein. Was er nicht bedachte, auch die Näherinnen und Bandarbeiterinnen sowie die Lehrlinge der DAKO freuten sich auf den Abend mit den Jungs. Nur eine nicht, wie Henry später erfuhr. Sie mochte das ganze nicht. Im Gegenteil. Sie wollte wieder fort, so schnell wie möglich. Und so belagert sie den Lehrausbilder, um eine Unterschrift zu bekommen für das Berichtsheft, denn die Teilnahme wird als gesellschaftliche Tätigkeit bewertet. Nach dem Vermerk hätte sie sofort verschwinden können. Doch sie muß vorerst bleiben. Mit Widerwillen sitzt sie also still und ungeduldig an einem Tisch, sieht sich kaum um, und wenn, dann mit einem geringschätzigen und abwertenden Blick. Doch einmal, da stutzt sie. Geht doch einer der Offiziersschüler, sehr schlank, schmales Gesicht, schwarze Haare, über die Tanzfläche. Und wie der geht, stolz und fast schwebend. „Mein Gott, wie ist denn das passiert“, denkt sie. Wie und durch wen kam der denn in diesen Verein? Der sieht ja aus wie einer aus dem Adelsnest. Hoffentlich kommt der nicht und holt dich, da kriegste nur Probleme. Und damit stößt sie diese Gedanken wieder weit von sich, für sie hat sich ja ohnehin alles erledigt. Schon schaut sie wiederholt auf ihre Armbanduhr. Was geht es sie an, wer da noch so rumschwebt von diesen Uniformierten, die sie ohnehin nicht mag, überhaupt nicht.
Den sie da ansieht, das ist Henry. Er spürt trotz aller Müdigkeit sehr genau, jemand mustert ihn. Sein Blick geht nach links. An einem Tisch sitzen zwei junge Mädchen. Die eine kannst du vergessen, doofes Gesicht, furchtbar gewöhnlich. Aber die rechts daneben!! Ho, ho! Zwei ernste und wunderschöne Augen. Mit einem Schlag ist der junge Mann hellwach. Die Augen des Mädchens schauen in seine Richtung, aber es verzieht keine Miene. Ihr Blick scheint durch ihn hindurch zu gehen, er wirkt gedankenverloren, rätselhaft. Eine Kraft geht von diesem jungen Mädchen aus – er kann das nicht näher deuten. Und warum sieht sie überhaupt her? Henry wird ein wenig unruhig, denn die faszinierenden Augen schweifen schließlich ab, denken gar nicht mehr daran, bei ihm zu bleiben. Guck doch noch mal, bitte, dann weiß ich, quatsch, dann kann ich hoffen, mit dir tanzen zu dürfen, dieser Gedanke schießt Henry durch den Kopf. Ihm wird heiß, denn nun muß er einen Entschluß fassen, was aber nicht gelehrt wurde wie bei der vorangegangenen Übung. Und schon legt die Drei-Mann-Kapelle wieder los. Ob sie mit mir tanzen wird? Noch ehe er aufspringt, ist Dieter, der Lockenkopf, bereits am Ball – bei der Schönen. ,Ich blöder Kerl‘, Henry ist entsetzt. Ihm bleibt fast die Luft weg. Und verteufelt noch mal, er kann es nicht fassen, da legt doch der Dieter, Mädchenaufreißer, sofort seinen Kopf an den ihren, aber sie wehrt ihn ab, hält ihn auf Abstand. Gott sei Dank. Ein Pressefotograf sucht seine Motive, wie dem Offiziersschüler scheint, hat er auch SIE im Visier. Schließlich gelingt es ihm, er tanzt mit ihr. Sie ist zart, sehr schmal, im weißen Spitzenkleid und roten Schuhen. Ihm fällt auf, sie läßt sich nicht ohne weiteres wie andere führen. Auch ihn hält sie auf Abstand. Aber sie zittert kaum merklich, Henry spürt das. Ist sie unsicher? Was geht in ihr vor? Und was soll man reden? Fragen über die Berufsziele? Eine etwas niveauvolle „Blabla-Unterhaltung“ kommt zustande, da sind die drei Tanzrunden beendet. Ehe er nach dem Tanz seine weitere Strategie durchhecheln kann und schnell mal einen neuen Augenblick zu ihrem Platz wirft, ist sie plötzlich weg. Zur Toilette? Und wenn sie nun schon nach Hause wollte? Er holt seinen Mantel aus der Garderobe und stürzt hinaus. Keine Menschenseele. Im Laufschritt zur Straßenbahnendstelle, vielleicht erwische ich sie noch, bangt er. Tatsächlich, Henry entdeckt sie auf der hinteren Plattform der Straßenbahn. Da klingelt der Schaffner bereits ab. Mit Schrecken fällt ihm ein, er hat ja keine Adresse. Blitzschnell springt er auf die Plattform, und die ernste Schöne sagt ihm mit einer verdächtigen Schnelligkeit ihren Namen und wo sie wohnt. Mit Mühe wiederholt Henry auf dem Weg zum Kasernengebäude so für sich Vorname, Name, Straße und Hausnummer, bis er im Hundertmann-Schlafsaal aus dem Nachtschrank endlich Zettel und Bleistift angelt und mit zitternder Hand notieren kann: Cleo, ...straße 6. Sehr viel später erfährt er, sie hatte lediglich Mitleid mit ihm …
(Er würde die Adresse ohnehin nicht behalten, dachte sie. Sie täuschte sich einmalig...)
(Heirat der beiden im Jahre 1961, am 23.12.!! Haltbar bis heute, Dezember 20014, und das bis zur Unendlichkeit...)
Von maler76
Das Foto stammt aus dem Jahre 1963, Ort: Stahnsdorf
(Entnommen meinem Buch: Harry Popow: „In die Stille gerettet. Persönliche Lebensbilder.“ Engelsdorfer Verlag, Leipzig, 2010, 308 Seiten, 16 Euro, ISBN 978-3-86268-060-3)
Plauen. Die Nacht zum 15. Februar 1957, einem Freitag, da schrillte die Sirene. Alarm! In Sekundeneile schlüpfen die Schüler des dritten Lehrjahres geübt in die Klamotten. Waffen empfangen, abmarschbereit! Ein kilometerlanger Marsch. Bei Eis und Schnee. Über Wald- und Feldwege, im unwegsamen Gelände. Zwischendurch die berüchtigten Einlagen: „Flieger von rechts, Maschinengewehrfeuer von links, chemischer Alarm, vor uns Baumsperre!“ Schnelles Fassen von Entschlüssen. Und da ist jeder mal dran, schließlich müssen die Männer jetzt ganze Züge im „Gefecht“ führen. Da entscheidest du im Ernstfall mit über Tod oder Leben von dreißig Mann. Viel Kopfarbeit ist also angesagt. Erst am späten Nachmittag marschieren (oder schleichen) die Schüler durch das Kasernentor zurück in die Unterkunft. Etwa fünfzig Kilometer haben sie unter die Füße genommen. Kaputt und todmüde sind sie. Da heißt es auf einmal, noch am gleichen Abend sollen oder dürfen sie zum Faschingsabend, also zum Tanz! Die DAKO, die Damenkonfektion von Plauen, der Patenbetrieb, hätte eingeladen. Einige Unentwegte jubeln. Andere fluchen, auch Henry. Er denkt an Erfurt zurück. Nach einem zweitägigen 70-Kilometermarsch, bei einigen Schülern drang bereits das Blut durch die Socken, hieß es in der Kaserne plötzlich, wer will, kann noch ausgehen. Und die ganz Kühnen zogen sich um, die Blasen bekamen Jod, und ab durch das Kasernentor. Henry nicht. Sich mit mehr oder weniger Schmerzen über die Tanzfläche schleichen oder einfach nur Bier saufen? Wozu die Mühe? So, und heute Abend? Kurze Überlegung: Immerhin eine weitere gute Gelegenheit – muß er sich ehrlich eingestehen – auf nette und niveauvolle Bekanntschaften, keine Weiber von gewöhnlichen Schwofabenden. Sein Entschluß: Er wird dabei sein. Was er nicht bedachte, auch die Näherinnen und Bandarbeiterinnen sowie die Lehrlinge der DAKO freuten sich auf den Abend mit den Jungs. Nur eine nicht, wie Henry später erfuhr. Sie mochte das ganze nicht. Im Gegenteil. Sie wollte wieder fort, so schnell wie möglich. Und so belagert sie den Lehrausbilder, um eine Unterschrift zu bekommen für das Berichtsheft, denn die Teilnahme wird als gesellschaftliche Tätigkeit bewertet. Nach dem Vermerk hätte sie sofort verschwinden können. Doch sie muß vorerst bleiben. Mit Widerwillen sitzt sie also still und ungeduldig an einem Tisch, sieht sich kaum um, und wenn, dann mit einem geringschätzigen und abwertenden Blick. Doch einmal, da stutzt sie. Geht doch einer der Offiziersschüler, sehr schlank, schmales Gesicht, schwarze Haare, über die Tanzfläche. Und wie der geht, stolz und fast schwebend. „Mein Gott, wie ist denn das passiert“, denkt sie. Wie und durch wen kam der denn in diesen Verein? Der sieht ja aus wie einer aus dem Adelsnest. Hoffentlich kommt der nicht und holt dich, da kriegste nur Probleme. Und damit stößt sie diese Gedanken wieder weit von sich, für sie hat sich ja ohnehin alles erledigt. Schon schaut sie wiederholt auf ihre Armbanduhr. Was geht es sie an, wer da noch so rumschwebt von diesen Uniformierten, die sie ohnehin nicht mag, überhaupt nicht.
Den sie da ansieht, das ist Henry. Er spürt trotz aller Müdigkeit sehr genau, jemand mustert ihn. Sein Blick geht nach links. An einem Tisch sitzen zwei junge Mädchen. Die eine kannst du vergessen, doofes Gesicht, furchtbar gewöhnlich. Aber die rechts daneben!! Ho, ho! Zwei ernste und wunderschöne Augen. Mit einem Schlag ist der junge Mann hellwach. Die Augen des Mädchens schauen in seine Richtung, aber es verzieht keine Miene. Ihr Blick scheint durch ihn hindurch zu gehen, er wirkt gedankenverloren, rätselhaft. Eine Kraft geht von diesem jungen Mädchen aus – er kann das nicht näher deuten. Und warum sieht sie überhaupt her? Henry wird ein wenig unruhig, denn die faszinierenden Augen schweifen schließlich ab, denken gar nicht mehr daran, bei ihm zu bleiben. Guck doch noch mal, bitte, dann weiß ich, quatsch, dann kann ich hoffen, mit dir tanzen zu dürfen, dieser Gedanke schießt Henry durch den Kopf. Ihm wird heiß, denn nun muß er einen Entschluß fassen, was aber nicht gelehrt wurde wie bei der vorangegangenen Übung. Und schon legt die Drei-Mann-Kapelle wieder los. Ob sie mit mir tanzen wird? Noch ehe er aufspringt, ist Dieter, der Lockenkopf, bereits am Ball – bei der Schönen. ,Ich blöder Kerl‘, Henry ist entsetzt. Ihm bleibt fast die Luft weg. Und verteufelt noch mal, er kann es nicht fassen, da legt doch der Dieter, Mädchenaufreißer, sofort seinen Kopf an den ihren, aber sie wehrt ihn ab, hält ihn auf Abstand. Gott sei Dank. Ein Pressefotograf sucht seine Motive, wie dem Offiziersschüler scheint, hat er auch SIE im Visier. Schließlich gelingt es ihm, er tanzt mit ihr. Sie ist zart, sehr schmal, im weißen Spitzenkleid und roten Schuhen. Ihm fällt auf, sie läßt sich nicht ohne weiteres wie andere führen. Auch ihn hält sie auf Abstand. Aber sie zittert kaum merklich, Henry spürt das. Ist sie unsicher? Was geht in ihr vor? Und was soll man reden? Fragen über die Berufsziele? Eine etwas niveauvolle „Blabla-Unterhaltung“ kommt zustande, da sind die drei Tanzrunden beendet. Ehe er nach dem Tanz seine weitere Strategie durchhecheln kann und schnell mal einen neuen Augenblick zu ihrem Platz wirft, ist sie plötzlich weg. Zur Toilette? Und wenn sie nun schon nach Hause wollte? Er holt seinen Mantel aus der Garderobe und stürzt hinaus. Keine Menschenseele. Im Laufschritt zur Straßenbahnendstelle, vielleicht erwische ich sie noch, bangt er. Tatsächlich, Henry entdeckt sie auf der hinteren Plattform der Straßenbahn. Da klingelt der Schaffner bereits ab. Mit Schrecken fällt ihm ein, er hat ja keine Adresse. Blitzschnell springt er auf die Plattform, und die ernste Schöne sagt ihm mit einer verdächtigen Schnelligkeit ihren Namen und wo sie wohnt. Mit Mühe wiederholt Henry auf dem Weg zum Kasernengebäude so für sich Vorname, Name, Straße und Hausnummer, bis er im Hundertmann-Schlafsaal aus dem Nachtschrank endlich Zettel und Bleistift angelt und mit zitternder Hand notieren kann: Cleo, ...straße 6. Sehr viel später erfährt er, sie hatte lediglich Mitleid mit ihm …
(Er würde die Adresse ohnehin nicht behalten, dachte sie. Sie täuschte sich einmalig...)
(Heirat der beiden im Jahre 1961, am 23.12.!! Haltbar bis heute, Dezember 20014, und das bis zur Unendlichkeit...)