AW: Rules of Life
„Erst kommt das Fressen, dann die Moral.“ – Es liegt zunächst nahe, dem Reichtum eine größere moralische Spielwiese zu attestieren. Wo es sich der Ausgebeutete nicht leisten kann, seinen Lebenserwerb moralisch zu hinterfragen, ist es dem Abgesicherten durchaus möglich. Ja, Letzterer kann es sich sogar erlauben, seine Hinterfragungen in die Praxis umzusetzen, um den unmoralischen Erwerb zu verwerfen. Das „Sein prägt das Bewußtsein“, auch in diesem Falle. Knurrt meinen Kindern oder mir der Magen, so frage ich kaum mehr danach, ob es moralisch oder rechtens sei, meinem Nächsten zu bestehlen.
Durchaus also trifft es zu, daß dort keine Moral herrscht, wo nicht gefressen wird. Wie könnte sie sich auch in den Köpfen jener Menschen fundamentieren? – Man darf getrost in den Religionen den Beton sehen, der Armut und Moral zusammenkleben läßt. Der Ganzheit halber soll aber erwähnt sein, daß hiermit die institutionalisierte Religion gemeint sei, die sich mittels ekklesiastischen Veranstaltungen, traditioneller oder gar dithyrambischer Riten und Initiationsmechanismen, offenbart. Moral und Armut werden miteinander verschmolzen, indem man eine Geschäftsvereinbarung eingeht: Man leidet auf Erden und lächelt dabei, erhält dafür eine wundervolle Vision und Aussicht, was das Nachleben betrifft.
Hiervon ist individuelle Religiosität auszuschließen, zumindest zum großen Teil, eben dann, wenn die Selbstreligion nicht von den institutionalisierten Erscheinungsformen kontaminiert oder verhunzt ist.
Aber doch bleibt noch ein Paradoxon im Raume stehen. Muß man ein gewisses Maß an Reichtum erlangen um moralisch agieren zu können? Oder reicht es bereit, wenn man Obdach, etwas im Magen und ein klein wenig Sicherheit hat? – Sicher, Reichtum erleichtert es ungemein, Moral im Alltag walten zu lassen. Aber ob es sich um moralischen Vorgehensweisen handelt, die der Allgemeinheit zu Diensten ist, bleibt fraglich. Meiner durch Reichtum erwirkten Moral könnte es entsprechen, ein gesamtes Tal aufzukaufen, um – ganz im Dienste der Gesellschaft – einen Staudamm zu errichten. So würde ich die Vorzüge anpreisen, die ich meinen Mitmenschen zuteil werden lasse, wenn ich meinen Reichtum für dieses Unternehmen aufwende. Aber wie moralisch mag diese Auffassung auf die Talbewohner wirken, die nun zwangsenteignet und aus ihrer Heimat vertrieben werden, weil sie meinem Reichtum nichts entgegenzusetzen haben?
Ja, warum gebärdet sich akkumuliertes Kapital, sprich Unternehmen, nicht moralischer? Warum erhalten sie trotz ihres Reichtums keine Arbeitsplätze? Der Preis wäre ein denkbar geringer, den der „moralische Reichtum“ dafür bezahlen müßte: Man verzichte auf einen Bruchteil des Profits, der sich z.B. durch Verlagerung von Arbeitsplätzen ins östliche Ausland erzielen lassen kann – aber nicht muß, sei anzumerken. Warum wird bei Tarifverhandlungen die Moral nicht ins Bild gerückt, wenn doch Reichtum mit am Tische sitzt? Oder ist deren Moral nur eine Geschäftsvereinbarung?
Durchaus zeichnet sich eine Herrenmoral ab, wenn Unternehmen so tun, als sei es im Sinne der Allgemeinheit notwendig, ja, geradezu moralisch, wenn man Arbeitsplätze in die Dritte Welt verlagert. Moralisch im doppelten Sinne: Einerseits erlaubt uns diese Form der Moral billiger zu konsumieren, andererseits integrieren wir Menschen in den westlichen Produktionsmechanismus, glauben ihnen dadurch Würde durch Arbeit entgegenzubringen. Welch göttliche Moral! - Kein Wort davon, daß hier Familien vor die Hunde gehen, weil ihnen keine Möglichkeit des Gelderwerbs mehr bleibt; kein Wort davon, daß die Menschen in der Dritten Welt nicht integriert, sondern ausgebeutet werden... Menschen und Kinder, die unseren westlichen Unternehmen mit ihrer Arbeitskraft beiwohnen.
Dies alles entspricht nicht einmal dem Prinzip einer Doppelmoral, denn zwei moralische Seiten scheinen nicht gegeben. Hier findet keine Verquickung zweier Weltsichten statt, sondern ein gekünstelter Euphemismus. Vielmehr ist es zur Moral erhobene Unmoral.
Der Ausspruch also, wonach Reichtum Vater der Moral sei, läßt sich, orientiert an der Welt wie sie sich uns darstellt, kaum aufrechterhalten. Zwar mag es moralische Reiche geben, so wie moralische Arme auch, doch Allgemeingültigkeit hat dieser Satz nicht. Und obwohl große Geldberge kaum moralisches Handeln zur Folge haben, bzw. eine ganz besondere Art der Moral zu Tage fördert, zeigt sich, daß ein Mindestmaß an Besitz oder Sicherheit vorauszusetzen sei, um moralisches Handeln zu ermöglichen. Fressen muß also gegeben sein, denn mit leeren Magen moralisiert es sich nicht gerne.