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Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Svensgar

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Weitere nicht verschickte Briefe,

noch älter.


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Westberlin, 1. Januar 1998

Meine liebste Anja.

Wie jedes Jahr bekam ich zu Weihnachten von meiner Leibmutter einen Jahreskalender der Firma Herlitz geschenkt. In Schwarz, Din A5 und mit einer Seite für jeden Tag, nur Samstag und Sonntag sind zusammen auf eine Seite gequetscht. In den letzten Jahren wurden meine Notizen, die mich darauf hinweisen sollten, nichts zu versäumen, immer geringer; dieses Jahr überlege ich, den Kalender erst gar nicht anzunotieren.
Es ist 13.30 Uhr und ich konnte, die letzten Stunden zusammen gerechnet, höchstens drei Stunden ansatzweise halbschlafen. Ich muß es so bescheuert auszudrücken versuchen, um zu betonen, wie wenig das, was ich da versuche, mit Schlaf zu tun hat.
Letzte Nacht hörte ich nach unserem Telefonat noch alte Deutsche Schlager, so bis 4.30 Uhr. Dann rauchte ich noch eine letzte Silvesterzigarette, verzichtete aber wegen massiver Schwindelgefühle auf einen letzten Jägermeister und den letzten Schluck Bier. Ich legte dann meinen Körper in mein super unbequemes, völlig zu großes und noch fickfreies Bett. Dort war ich höchst berauscht zu einigen ruhigen Minuten fähig.
Um Acht Uhr mußte ich endgültig die unbegründete Hoffnung auf eine Tiefschlafphase aufgeben und das erste Mal das Klo aufsuchen. Ich machte kein Licht, um nicht noch wacher zu werden und pißte dabei nicht unerhebliche Mengen an Urin auf den Boden meiner lächerlichen Naßzelle. Das bemerkte ich erst bei meinem nächsten Harnabschlagen gegen 11 Uhr, ich trat nämlich mit meinen pilzumwobenen Füßen in zwei urinelle Pfützen, deren Nässe ich erst wieder an meiner Bettdecke abstreifen konnte. Die drei Stunden zwischen diesen Entleerungen nutzte ich zu unerwünschten Gedankenspielereien, derer ich mich, wie schon seit Jahrzehnten, nicht zu erwehren in der Lage war. Ich wollte so gerne noch abschlafen, um nicht so viel von dem Tag mitnehmen zu müssen, aber ich versagte.
Mein Versagen unterstützend kam hinzu, daß der verhaßte Nachbar über mir schon ab 8 Uhr rege seine Wasserleitung bediente und damit seit über einem Jahr mich belästigende Geräusche verursacht. Es handelt sich bei diesem Mangel meiner Mietsache um ein Knallen und Scheppern der Wasserrohre, das sekundenlang einsetzt, wenn jemand Wasser aus der Anlage zieht. Und das hunderte Male am Tag, es ist mit meinen angeschlagenen und fast durchtrennten Nerven nicht zu ertragen; ich tue es dennoch und ruiniere dabei meinen wunden Magen. Kaum eine Minute in den letzten Monaten, in denen ich mal nicht glaubte, meinen Magen zu spüren, keine Stunde, in der mal nicht saure, das Restleben versauernde Säure aufstieß.

In der Stunde zwischen 11 und 12 Uhr, nach der ich dann aufgab und meinem Körper aufzustehen befahl, versuchte ich in weiterer unendlicher Wiederholung zu schlafen, wohl wissend, daß es sinnlos war. Als vermeintlich letzte Rettung auf ein paar bewußtlose Sekunden griff ich mir zwischen die Beine und holte mein Geschlecht hervor. Ich spielte mit ihm und entrang ihm schließlich einige Tropfen zähen eitriggelben Spermas, das ich in einem Rest von Ordnungssinn auf ein durchgeschwitztes T-Shirt abschlug. Ich wußte schon dabei, daß ich es aufschreiben werde und überlegte mir vorab, ob ich es schaffen könnte, dabei zu gestehen, an Dich gedacht zu haben. Zu Deiner Beruhigung, es waren kaum körperliche Gedanken, ich sah Dich nicht nackt vor mir liegen, ich stellte mir auch nicht Deine Vulva oder Deine inzwischen durch ein Kind abgetragenen Brüste vor. Es ging mir um das unvergeßliche Gefühl von Nähe, das ich durch Dich damals 1987 beim Bowie-Konzert vor dem Reichstag spüren durfte; besonders Deine warmen Hände habe ich in schöner Erinnerung.

Leicht amüsiert nehme ich zur Kenntnis, daß ich immer mehr verschrobener und außenseiterischer werde. Ich gehöre nun zu den Menschen, hinter deren Rücken man sich dafür bedankt, nicht so wie sie sein zu müssen. Mit 18 Jahren las ich den ersten Bukowski und hielt es für unmöglich, ein ählich vom Leben Ausgeworfener zu werden. Nun bin ich unten, leider ohne den großen Unterhaltungswert eines Henry Chinaskis.
Bevor ich nun einen größeren Snack in meinen Magentrakt drücken werde, gehe ich noch etwas spazieren. So wie ich seit vorgestern Klosterfrau Melissensaft trinke, gehe ich mal hastig schlendernd durch den nahen Stadtpark. Dabei werde ich ein Taubenhaus passieren, in dem sich vor ungefähr zwanzig Jahren eine angeheiratete trinkende Tante mit Tabletten selbst gerichtet hat; ich habe heute Achtung vor ihr, obwohl sie mir zu Lebzeiten unsympathisch war.

Abends. Vorhin bin ich planmäßig im Park spazieren gewesen; ich lief in ihm herum, immer den Hundertschaften Neujahrsspaziergängern ausweichend. Dabei wurde mir klar, daß ich Menschen einfach nicht mag, jedenfalls nicht diesen Scheißhaufen, der namenlos überall zu finden ist. Ich suche meinesgleichen, was aber bisher erfolglos verlaufen mußte; Menschen wie ich lernen sich nicht selbst kennen. Sie versuchen es lebenslang, um täglich etwas zu tun zu haben, nämlich zu scheitern. Alles Scheitern zusammen macht einen prima hochtrockenen Haufen, einen Scheiterhaufen, auf dem ich irgendwann in Sekunden abfackeln werde.

Fast leider muß ich zugeben, daß meine Magenbeschwerden am Abklingen scheinen, dagegen arbeitet mein Darmsystem mit voller Kraft, bläht alle Minuten übelst riechende Gase aus mir heraus. Ich habe mich immer schon geärgert, daß mein Kot so stinkt. Ich schreibe zwar mit Vergnügen über diese Peinlichkeit, aber in der Untergrundbahn verkneife ich meine Ringmuskulatur, wenn ich spüre, da könnte etwas entschlüpfen, was neue Ängste über einen neuen Ausbruch der Schweinespest zu schüren in der Lage wäre. Jede einzelne Stuhlprobe meines Lebens war trotz meines Interesses mehr mit Abscheu als mit Hingabe verbunden; glücklicherweise waren es nicht viele.
Erwähnenswert wäre noch, daß die einzige Spermaprobe, die ich in meinem Leben abgab (zur Überprüfung meiner Zeugungsfähigkeit), von unserer gemeinsamen Freundin Hiltrud gezogen wurde. Wir verbrachten eine unserer sehr wenigen Nächte miteinander und am Morgen bat ich sie um ihre Mithilfe; es hätte in meinen Augen lächerlich ausgesehen, wenn ich in ihrer Gegenwart eigenhändig meine sehr lange Vorhaut (4 Zentimeter) verschoben hätte. So war dann der Medizin gedient und Hiltrud konnte für Minuten ihr Handgelenk trainieren.
Am Tresen der Sperma untersuchenden Artzpraxis wurde ich laut gefragt, was ich denn möchte. Ich stellte meine Sacksuppe auf einem dafür vorgesehenen Brett ab und verschwand, ohne etwas gesagt zu haben.

Dein Svensgar.
 
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AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 5. Januar 1998
Liebste Luci.

Am 14. November 1997 hörte und betrachtete ich Sie das erste Mal in einer Talkshow. Ich war nicht von Anfang an dabei, sondern schaltete erst im Laufe meiner vielfachen Kanalwechsel in die Sendung. Ich sah eine mir unbekannte junge Frau, die ich nicht erkannte. Es war zu beobachten, daß die anwesenden Männer der Runde mit gefalteten Händen herumsaßen und der jungen Frau aufmerksam in ihren Ausführungen folgten. Nach Minuten interessierten Hinhörens, bemerkte ich an meinem Körper zwei gefaltete Hände. Bis dahin wußte ich immer noch nicht, wer diese medienattraktive Frau war. Es wurde von Musik und Radio gesprochen und ich vermutete dieses seltsame Blümchen hinter dieser nicht so doofen Frau. Erst später wurde mir klar, daß Sie es waren; ich konnte Sie nicht erkennen, da Sie eine mir unbekannte neue Komplett-Frisur trugen.
Nun ist es 1998 und ich arbeite weiter als ein Mensch ohne Zukunft mit meinen Erinnerungen; sie gilt es, zu modellieren und als etwas Neues zu präsentieren.

Das Schwimmbad Krumme Straße, Alte Halle, ist bis zum 18. Januar verschlossen und bescherte mir letzten Sonntag eine weitere Leerfahrt. Für mich, der in ereignisloser Lebensabwicklung routiniert ist, war das kein Problem. Ich kehrte gemeinsam mit meinen Körperschuppen und überall anhaftendem Salz aus getrockneten Angstschweißen zurück in meine 2-Raumwohnung. Dort erklärte ich den Tag als beendet und führte mir kleine Erlösungen bietendes Harz zu. Ich kaufe seit Jahren Standard mittlerer bis unterer Qualität für nicht mehr als acht Mark das Gramm. Das ist für mich völlig ausreichend, da bich sowieso nicht mehr so berauscht werde, daß ich nicht mehr laufen könnte. Eine vor eineinhalb Jahren kennengelernte Freizeit-Psychologin bezeichnete mich als Harz-Wrack, gab mir aber gleichzeitig zu verstehen, daß ich durch einen Verzicht auf derartige Betäubungsmittel keinen Zuwachs an Lebensfreude erreichen könnte.
Ich möchte jedoch nicht meine liebgewonnene Sucht verdammen, sondern von meinen langanhaltenden Magenproblemen berichten, welche mich in unregelmäßigen Abständen seit zwei Jahren besuchen. Zuerst war es nur ein Druck in meinem Leib, zart und kaum empfindbar. Unerträglicher Lärm von Sanierungsarbeiten in meinem Wohnhaus ließen mich verkrampfen und den Druckunterschied zwischen mir und meiner Umwelt erhöhen. Das summierte sich, bis ich Anfang des nun verstorbenen Dezembers 1997 unter zusätzlichen Magenkoliken und unerwünschtem Aufstoßen meiner Magensäure zu leiden hatte. Öfters mußte ich die abends mühsam getrunkenen zwei Liter Bier erbrechen und davonfließen sehen. Kaum etwas schmeckte mir noch, einzig meine weiterhin brauchbare Verdauung ließ mich hoffen, nicht ganz am Ende zu sein. (Ich möchte mich etwas korrigieren: ich hoffe schon lange nicht mehr, meine Hoffnungen haben sich in Sehnsüchte verhärtet.)
Die letzten Tage aß ich beinahe ausschließlich in Sojamilch aufgeweichte Haferflocken und trank Leinsamen-Tee. Das hat mir geholfen und mich befähigt, Ihnen einen kleinen Brief zu schreiben, ohne dauernd an meinen Magen greifen zu müssen und einen Schmerz zu erwarten. Interessant ist noch, wenn auch nicht für jeden, daß Leinsamen im Gedärm nicht verarbeitet werden, sondern wie Maiskörner äußerlich unangebrochen im Abgang erscheinen.
Zu Ihrer letzten Radio-Sendung: Von den wenigen Halbfreunden, die ich während meiner Pubertät zählen durfte, verlor ich den größten Teil dadurch, daß deren Eltern Briefe von mir lasen und infolgedessen ihren Kindern den Umgang mit mir nicht verboten, aber spürbar erschwerten. Da war nichts zu machen, mein Lebensstil begann sich aus diesen Umständen zu gebären.
Ich wünsche Ihnen ein brauchbares Jahr 1998.

Ihr Svensgar.


 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 6. Januar 1998
Liebste Anja.

Der Brief an Dich liegt immer noch hier herum; ich schreibe etwas hinten dran ...
Wenn Du meine Sätze liest, wünsche ich uns, daß Du dabei ein kleines Vergnügen oder eine kleine Freude zu empfinden in der Lage bist. Du hast ja nicht direkt mit mir zu tun, also dürften Dich Passagen, die von Kot oder veraltetem Sperma handeln, nicht weiter verstören oder etwa dafür sorgen, daß Du mit diesem Privatbrief empört Deiner Tochter die Gesäßspalte abwischst. (Ich weiß auch nicht, was solche Sätze sollen, aber wenn ich mich für das Schreiben entspanne, entgleitet mir dauernd so etwas. Ich lese es dann selbst mit Vergnügen und staune, zu was ich fähig bin. Ich halte mich für ziemlich einmalig und möchte auch, daß auf mich so herabgesehen wird. Als Ausdruckmittel hierfür verbleibt mir jedoch nur ein Briefwechsel mit praktisch keinen Reaktionen oder meine immer stärker werdende äußere Außenseiterrolle.)
Eben rief mich meine Mutter an. Ich wartete wie gewohnt die Schutzansage meines Anrufdecoders ab, um nicht unerwünscht ein Gespräch mit einer meiner verlorenen Schwestern vortäuschen zu müssen. Meine Mutter fragte mich, ob ich in einigen Tagen wieder Kefir bräuchte. Dem ist so und das weiß sie genau. Ich trinke morgens zum Frühstück gerne 3.5 % fetthaltigen Kefir, den es in Berlin nach meinem guten Verbrauchergewissen nicht zu kaufen gibt. Früher gab es mal richtig frischen Kefir in Glaspfandflaschen, das Beste, was ich je an Nichtalkoholischem trank. Nun wird nur noch schlaffer fettarmer Kefir in ekeligen Plastikbechern zum Verkauf angeboten, ein Symbol für den Verlust guter Lebensmittel. Ich ärgere mich auch oft über das Angebot an leckeren Tiefkühlgemüsen.
Meine Mutter fuhr fort, in dem sie eine bevorstehende Kohlenlieferung erwähnte. Bei der letzten, es handelte sich um vier Tonnen für 1300 Mark, wurde sie geneppt und so unnötig Geld verschleppt. Deshalb hat sie jetzt den Händler gewechselt, beabsichtigt aber auch bei diesem keine Kontrollen. So etwas Bescheuertes. Ich habe mich wieder aufgeregt, weil ich sonst nichts habe.
Du wirst zugeben müssen, solche Schilderungen sind nichts besonders fesselnd, deshalb zurück zu mir und meinem Elend. Seit Neujahr habe ich nicht wieder masturbiert. An und für sich nichts besonderes, wenngleich früher, vor einigen Jahren, ein mehrtägiger Zeitraum ohne Zurückreißen meiner Vorhaut für mich undenkbar war. Aber jetzt sind bis zu zehn Tage ohne Spermaauswurf in meinem Sexualleben Alltag. In den nächsten Tagen oder Wochen fahre ich wieder zu unserer Hiltrud, meine private Frisöse. Vielleicht erlaubt sie mir, einige Minuten nackt in ihrer Badewanne zu baden. Die letzten Mal zeigten mir, daß ich solche Extremsituationen ohne leicht erkennbare Erektion zu überstehen in der Lage bin; ich weiß, daß alle früheren Geilheiten unrettbar verschwunden sind. Das ist in Ordnung so, denn bei meiner jetztjährlichen Isolation habe ich keine Chance mehr, eine Scheide von innen zu fühlen, geschweige denn zu betrachten. Wenn ich einen Augusttag 1996 ausklammere, bin ich schon seit 4 1/2 Jahren ohne geschlechtlichen Verkehr; vergleichbare Zeiträume finde ich nur in der Zeit vor meiner Pubertät.
Es ist fast 19 Uhr, Zeit für mich, eine erste Zigarette zu rauchen. Sehr wahrscheinlich ist dieser Brief nun zuende, ich ziehe mich zurück und erwarte, Dich irgendwann einmal wiederzusehen.

Dein Svensgar.
 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 11. Januar 1998
Liebe Luci.

Ich friste weiter den Lauf meines Lebens; dabei tue ich mich schwer und kriege es einfach nicht besser hin. Mein Vater meinte, bei meinen Besuchen lade ich nur Frust ab. Er versteht kaum, daß das so nicht stimmt. Er hat kaum Vorstellungen davon, wie sehr ich mit Verzeiflung und Hoffnungslosigkeit ausgerüstet bin. Alle Zellen, auch Krebszellen, meines mich tragenden Körpers sind voll mit Neurotik, Lüsternheit nach Elend, Gestank, Einsamkeit, Scheitern, aber auch mit Witz und Einfühlungsvermögen. Wenn ich meinen Vater, den ich nur einmal während meines Lebens für Sekunden nackig sah, besuche, dann lade ich nichts ab, ich bin nur. Dafür hat er nur das abwertende Wort Frust; mit Jammer könnte ich mich noch anfreunden, aber dazu wimmere ich anscheinend zu wenig.
Ich weine ja kaum noch, das letzte Mal am Neujahrsmorgen, als ich gegen 4 Uhr, belegt mit fünf Jägermeister und drei Liter Pilsener, eine Sendung mit vielen westdeutschen Schlagern fernsah. Frau Leandros sang live ihr Ich liebe das Leben. Es war sehr ergreifend. Ich stellte mir vor, das ist mein Grablied und meine vergessenen Schwestern, meine nicht verstehenden Eltern und meine verstorbene Katze Günther hören ihm zu. Ich bin weg, macht Euch nichts draus, ich liebe das Leben ... Das wäre eine echte frustratorische Vorstellung, so wie ich es schätze und ständig versuche, es zu inszenieren. Leider fehlen mir mit meinen erst 34 Jahren die Zuschauer und ich muß mich auf einseitige, weil reaktionslose Zettel verlassen, die ich meist unaufgefordert an Radiomoderatoren verschicke, die jedoch nicht Kummertanten für mich sind, eher festes Fleisch gewordene Teenie-Stars.
Winterdepressionen, welch lächerliche Tapete, mehr Makulatur, für farblose Menschen. Trotzdem aber ein gerade deshalb vortrefflicher Grund, darauf aufzubauen. Es sollen sich auch schon Menschen aus Versehen umgebracht haben, ich verachte sie. Sie sind nicht mehr als Stimmvieh für eine angeblich bessere Welt, die es für alle nicht gibt.
Ich verliere mich in seltsamen Betrachtungen, denen ich nicht zustimmen kann. Eigentlich sitze ich nur seit 40 Minuten hier vor meinem Rechner, fühle meinen wundgeärgerten Magen, den ein eben in mich geflossener leinsamiger Tee kaum zu beruhigen in der Lage war, warte darauf, daß ich gleich diese Seite geschafft habe und, kurzzeitig befriedigt, ein nachmittägliches Essen aus Reis, Brot und Leitungswasser meiner Hülle zuführen kann. Das ist etwas, wenn nicht zu leblos beschrieben; schließlich ist die Nahrungsaufnahme neben einer warmen Wohnung ein Grundbedürfnis, deren Erfüllung mir kleine Wohltaten bereiten (können). Zwischen diesen existenzerhaltenden Maßnahmen gibt es nur noch wenig, das dürfte ich Ihnen inzwischen genügend vorgestellt haben.
Nun kann ich in meine altbauene Küche gehen und den Gasherd zünden. Ich ziehe mich vorläufig zurück.

Ihr Svensgar.

 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 9. Januar 1998
Liebster Pete.

Vorgestern stellte ich fest, daß meine Datei DOK.1, in der alles Außerbriefliche lagert, komplett gelöscht ist; damit sind zweihundert Seiten aus meinem Rechner verschwunden und die Original-Ausdrucke in meinem Schreibtisch noch wertvoller geworden. Ich mußte in letzter Zeit öfters rumdenken, was sein würde, verschwünden alle meine Aufzeichnungen, etwa durch Brand, Einbruch oder im Zuge polizeilicher Ermittlungen. Zurück bliebe nichts mehr als ein Körper Svensgar, Rohstoff für Fleischmehl. Ich glaube, früge ich meinen Vater nach möglichen verlegerischen Interessen an meinen Papieren, er strich mir mit motorischen Bewegungen über meinen Hinterkopf, wiederholend, ich sei doch nichts Besonderes. Natürlich kennt er nicht das volle fäkalische Ausmaß, aber das wäre für ihn sicher nur bestätigend, in welchem hohen Maße ich am bürgerlichen Leben versagt habe.


10. Januar 1998

Zum Frühstück trank ich einen halben Liter stark fetthaltigen Kefir und drückte drei Schrippen in meinen chronisch wunden Magen. Zum Schluß trank ich die halbleere Bierflasche aus, die ich gestern Abend nicht mehr schaffen wollte. Nach der Fressepolitur schluckte ich noch einen Schluck aus der Klosterfrau Melissengeist-Flasche runter. Meine erste derartige Flasche habe ich mir vor einigen Tagen gekauft, nachdem ich auf der Packung las, daß sich mit dem Klostersaft hervorragend nervöse Magenbeschwerden kurieren lassen.
(Die Schilderung meines morgenlichen Stuhlganges unterschlage ich bewußt, Struktur und Dichte sind seit Monaten unverändert. Ich gebe zu, daß ich nicht mehr auf die von Dir beigebrachte indische Reinigungsmethode verzichten möchte, fast nicht mehr verzichten kann. Wenn ich es nämlich doch einmal versäume, wird die den Ringmuskel umgebende Haut gereizt und ähnlich meinem Magen wund. Bei einem nachträglichen Waschgang brennt es ungeheuerlich und kaum auszuhalten. Das hatte ich früher, als ich ausschließlich mit hartem Papier arbeitete, nicht feststellen können. Was ist das? Vielleicht doch erste Anzeichen, daß auch ich mit Ausfransungen des Darmes zu rechnen habe?)
Daneben stelle ich fest, daß ich unerwartet anfange, unter dem Nabel zu verfetten. Meine Jeans, die ich seit meinem unglücklichen 18.sten Lebensjahr immer eine 32/36 maßen, werden immer enger und magendrückender; im Sitzen bin ich gezwungen, den Bund zu öffnen, ohne eine Scheide oder eine Brust erspäht zu haben.
Vormittags konnte ich wieder kaum schlafen. Die Schuld trägt ganz klar mein Nachbar über mir. Er ist für die vielen Geräusche verantwortlich, die mich beständig um eine dringenst benötigte Ruhe bringen. Es sind eigentlich Kleinstgeräusche, die ich jedoch in Erwartung dieser, nie zu überhören in der Lage bin. Immer wieder gibt es Fensterknallen, schlürfende Schritte und die nie ruhige Wasserleitung zu hören. Ich habe zwar schon wieder bei meiner Drecks-Vermieterin um eine Behebung letzteren Schadens gebeten, aber sie reagiert nicht. Total genagelt stand ich gegen 13 Uhr auf; ich brauchte das Klingeln des Weckers nicht abzuwarten, da ich sowieso wach war und innerlich äußerst erregt.

Eigentlich stellte ich mir die beabsichtigte Schilderung meines heutigen Tages anders vor, aber es sind eben Zeichen, daß es dem Ende zugeht. Und Du schickst mir Empfehlungen, wie ich mein Geld anlegen sollte. Du scheinst, das ernst zu meinen und nicht als Satire auf meinen Lebensstil; wir schreiben doch ständig über unser Elend und unseren Wunsch, uns selbstbestimmt umbringen zu können.
Weihnachten schenkte mir mein Buchhändler der ersten Cioran meiner Existenz. Darin lese ich täglich eine halbe Stunde und es reicht mir. Ich nehme an, Du hast mir diesen Kollegen noch nicht nahegelegt, da Du davon ausgehst, daß er Kinderkram oder zumindest Jugendkram darstellt. Ich bin jedoch berührt und kann seinen Feststellungen nichts hinzufügen. Er hat mich dazu gebracht, daß ich meinen Freitod - zumindest als Idee - wieder in meinen leeren Kopf setzte. Und jetzt Du, mit Anleitungen, wie ich in 30 Jahren zu Hunderttausenden gelangen könnte. Nun traue ich mich nicht, mir für 30.000 Mark einen echten Sportwagen zu kaufen, mit dem ich, basierend auf 250 km/h, gegen eine Mauer rasen könnte. Schildere ich mein Elend und meine absolute Hoffnungslosigkeit nicht Dich genug glauben machend?

Seite geschafft, Leben nicht. Ich mache Feierabend und rauche etwas.


 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

12. Januar 1998

Vielleicht passiert parteipolitisch doch mal etwas Neues. Eben höre ich im Radio, daß Gesamtberliner Studenten zum Eintritt in die mitgliederschwache F.D.P. auffordern, um dieselbe zu übernehmen; ein leichter Euphorie-Schauer störte meine tiefe Verzweiflung. Letztens war der Christ Schlingensief im TV und gab dort Ähnliches von sich. Ich war schon ziemlich berauscht und kaum mehr Herr meiner Restsinne, aber ich kriegte noch mit, daß eine Gruppe Prominenter, u. a. Harald Schmidt, planen, eine Art Arbeitslosenpartei zu gründen. Der Schlingel selbst hat ja in letzter Zeit derartige Aktionen begonnen, die hoffentlich, wenigstens zu unserer Unterhaltung, bis zur Wahl im Herbst 1998 Millionen Sympathisanten um sich scharren werden.

Dann lief ich noch in die Emser Straße 24, wo die Hausverwalterin meines Blocks wohnt, in dem ich Putzdienste ableiste. Als ich dort ankam, verließ gerade ein Mann das Haus und ich beschleunigte, woher die Kraft kam, weiß ich nicht, um noch vor der sich schließenden Haustür in den Flur zu gelangen. Dies bemerkte der eben das Haus verlassende Herr, mit einem entschuldigenden Oooooh kehrte er auf seinem Absatz um und hielt mir die Türe auf. Ohne ihn anzusehen, ich erhebe nur seltenst meinen ständig auf den Boden gerichteten Blick, identifizierte ich den Verursacher diesen Ooooohs als Ilja Richter, den Moderatoren unserer alten Disco. Ein sehr höflicher Mensch. Als ich später, nach dem Verstauen mehrerer Rechnungen über Putzmaterial in den Briefkasten der Hausverwalterin, wieder das Haus verließ, hielt auch ich einer gerade ankommenden Frau die Türe auf. Nach ihrem Aussehen war es die Mutter von Ilja Richter. Es soll bei Homosexuellen durchaus nicht ungewöhnlich sein, wenn diese mit ihrer Mutter in einem Haushalt leben. Ein abschließender Blick auf das Klingelschild außen am Hause bestätigte mir, daß Richter oben im dritten Stock wohnt.

Es tut mir leid, daß Du nun von scheußlichen Warzen heimgesucht wirst, die die Chancen eines Junggesellens nur erhöhen, dauerhaft einer zu sein. Auch meine jüngste, fast vergessene Schwester wurde lange von dieser Stiefschwester der Pest befallen. Nun nicht mehr, aber was die Heilung auslöste, weiß ich nicht. Ich glaube jedoch, daß ein Wegschneiden beim Arzt (oder mittels kücheneigener Schälmesser) nur ein Ausbrechen an anderer Stelle bewirkt, also nichts bringt. Aber einfache Hausmittel sollen sehr gute Erfolge bringen. Bloß, was war es? Eigenurin, Teebaumöle, ich kann mich nicht erinnern. Bitte informiere mich über den weiteren Verlauf, vielleicht mit einer Zeichnung (Fotos wären zuviel verlangt).


13. Januar 1998

Gestern Abend, als ich gegen Mitternacht auf dem Balkon meine letzte Zigarette rauchte, blubberte es in meinem Darm. Das passiert immer mal ab und zu; ich wußte, wie es weitergehen würde und drückte schon mal die höchstens halb verrauchte Zigarette aus und hastete auf mein unbebrilltes Klo. Explosionsartig schoß der erst acht Stunden später erwartete Stuhl heraus und lag dann nur zu einem Teil auf dem Grund der Schüssel, der Rest hing oder floß an und von den Wänden derselben. Ich aber fühlte mich von einem Druck befreit und mußte augenblicklich an die aufrichtigen Briefe Mozarts denken, die ihn mir noch sympathischer machten, als er es nach dem Film von Forman für mich ohnehin schon war. Ich setzte auf dem Herd Wasser auf, erwärmte es auf mindestens Körpertemperatur, reinigte damit meinen völlig verschmutzten Spund, baute eine neue Zigarette und entspannte mich damit das erste Mal an diesem Tag.

Heute ist kaum Erwähnenwertes geschehen. Keine Zeitung hat über die studentischen Pläne zur Übernahme der mutmaßlich liberalen Partei berichtet. Bin ich doch das Opfer eines Gags geworden?

Ich war wieder im Stadtbad Gatower Straße und reinigte lustlos und ohne in Gefahr zu kommen, mit einem halbsteifen Glied rumlaufen zu müssen, meine Eichel samt anhängendem Schaft. Vor einigen Tagen hörte ich irgendwo einen Beitrag über Schönheitsideale und deren Wandel im Laufe der Zeiten. Dabei ging es um nicht behandlungsbedürftige Pickel auf dem Rand der Eichel. Diese, während der Pubertät wachsenden oder nicht wachsenden Griespickelchen waren früher eine Art Gütezeichen für den Mann, der welche vorzuweisen hatte. Ich habe jahrelang geglaubt, ich sei geschlechtskrank. Auch wenn ich mir Pornofilme ansah, konnte ich niemals bei den fickenden Herren die gleichen Pickel entdecken, die ich seit 20 Jahren trage. Nun, mit 33 Jahren, höre ich erstmals von dem Wert, den meine Pickelchen gesäumte Eichel trägt; dieser soll sich aus der erhöhten Lust der Frau beim Verkehr ergeben.
Ich beobachte an mir eine beginnende Inkontinenz. Wenn ich abends in kurzer Zeit Leinsamentee, Grünen Tee, Sojamilch und zwei Liter Bier trinke, muß ich innerhalb noch kürzerer Zeit mehrmals aufs Klo, um Unmengen fast transparenten Urins abzuschlagen. Nach drei, vier Gängen ist mein Schlüpfer nicht unwesentlich angenäßt. Auch wenn ich vor dem Schlafengehen noch einmal Harn fließen lasse und hernach im Bett liege und mich umdrehe, fühle ich einige Tropfen mir entweichen. Und es werden von Jahr zu Jahr mehr.


Dein Svensgar.


 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 17. Januar 1998
Liebe Luci.

Wieder eine Woche umgebracht, wieviele stehen mir noch bevor? Es spielt keine Rolle; die Pflicht des Mörders ist es, weiter zu morden.
Das ist natürlich Unsinn, ich fange langsam an, zu einem außenstehenden Menschen zu werden. Ein Prozeß der letzten Jahre, dessen Beweisaufnahme mittlerlebensweile abgeschlossen scheint und ein Urteil in absehbarer Zeit erwarten läßt. Erwarten ist in diesem Zusammenhang vollkommen richtig, alles, was ich tue, ist Warten. Warten auf ein Ende des Wartens. Lange Zeiten vermutete ich, Schicksalsschläge würden dies auszulösen vermögen. Dabei habe ich übersehen, daß ich mich immer mehr in meinem persönlichen Schicksal einbetoniere. Bewegungslosigkeit machte es mir nur schwer möglich, dies festzustellen. Jemand, der nur noch verharrt, merkt kaum, daß seine Gelenke, jeglicher motorischer Möglichkeiten beraubt, nur noch steife Verknöcherungen bilden.Ich brauche nicht über einen fernen Jemand zu schwatzen, ich bin es. Ich, ein Mensch mit unscheinbaren männlichen Geschlechtsmalen, dem selbst das Onanieren eine Last geworden ist, der er nur nachkommt, um unangenehme Entzündungen seines letzten Hodens zu vermeiden.
(Zu meinem fehlenden Glück kam vor zwei Jahren noch eine bösartige, aprikosengroße Verwachsung meines linksseitigen Hodens hinzu, die nach vergeblicher Therapie zusammen mit ihrem Wirt herausgeschnitten wurde. Meine Vereinsamung, die damals schon derartige Ausmaße annehmen mußte, daß meine quasi Kommunikationsejakulation des Tages aus einem Kauf einer Zeitung (B.Z.) bestand, ließ mich auf den Einsatz eines Implatates verzichten. Ich trage in meinem Gesichtsmund schon genug fremdstoffliche Einsätze, die mir in ihrer Installation mehr Schmerzen als später während des Tragens Vergnügen bereitet haben.

Ich mag einfach keine Menschen. Und ich fühle, in dem Maße, wie ich die Menschen verabscheue, werde ich frei von ihnen. Ich sehe leider täglich fern und stelle dabei fest, daß der Unterschied zwischen den visuellen, vergeblich sinngebenden Menschen und den mich auf der Straße umgebenden Menschen immer unmerklicher wird, irgendwann unter der Tonnage der Zeit begraben wird.


18. Januar 1998

Einen Tag später schäme ich mich immer für das Geschriebene. Erst weitere Dutzende Tage später vergnüge ich mich an meiner damals noch geringeren Verzweiflung und bin zufrieden, daß ich aufschrieb, was nur die Geringsten lesen möchten.
Heute Vormittag träumte ich von meiner Hoffnungslosigkeit und absoluten Verzweiflung. Ich schlafe seit Jahren nur in höchstens halben Stunden, mehr ist einfach nicht drin. Dabei träume ich nur wenig, ich gelange kaum in Tiefschlafphasen. Und heute ist mein Unglück in meinen Traum geschlüpft und hat ihn übernommen. Ich weiß noch, ich suchte, mit meinen innerlichen Schutthalden beladen, Orte auf, an denen ich früher genetisch Verwandte oder frühere Ersatzmütter und Halbfreunde getroffen hatte. Immer war ich dabei kurz vor dem Abheulen, mußte ständig meine tränernen Säcke, die sich mangels Abfluß zwischenzeitlich schon in Silos von Derrickschen Ausmaßen ausgedehnt hatten, krampfhaft vorm Bersten retten. Das tat ich, indem ich augenblicklich wieder den aufgesuchten Ort verließ, da ich ja wußte, hier finde ich sowieso nur Verständnislosigkeit.


Dein Svensgar, wahrscheinlich etwas von der Rolle.


 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Westberlin, 22. Januar 1998
Mein allerliebster Svensgar.


Wieder ein Selbstbrief, mehr nicht.
Es geht mir weiter unglaublich schlecht. Das ist nur ein einfaches und eigentlich leicht zu begreifendes Wort. Schlecht. Es gebraucht der Schüler, der über Übelkeit klagt, und der Hängende, bevor er stirbt. Ich meine damit konkrete körperliche Beschwerden. Meine Magenprobleme werde ich auch nach bald zwei Monaten andauernder Belästigung nicht los. Mal kommt die Galle hoch, mal drückt es im Bauch, mal flitzt die Kacke, als ob sie mit Schumi um den WM-Titel kämpft, und fast immer ist mir schlecht. Manchmal denke ich, daß dies der Beginn einer Verschmelzung meiner Gedanken mit meinem Körper ist. Im Gegensatz zu meiner inneren Welt trägt mich nämlich ein eigentlich viel zu intakter Körper und das scheint sich nun anzugleichen. Oder ich verlasse meinen Körper und fühle immer mehr mein Inneres, was ich noch mit dem Körper verwechsele.

Wieso vergesse ich nicht das Atmen? Ziemlich schlau von der Natur eingerichtet, man soll sich zur Selbsttötung sicher genug sein.

Vorgestern Spätnacht war ich mit dem Einwerfen von Zeitungen beschäftigt, als ich vor der Türe eines Hauses einen Spatz auf dem Boden liegen sah. Er bewegte sich kaum noch, schien im Sterben begriffen. Wenn ich ihn nicht gesehen hätte, wäre ich womöglich auf ihn getreten und hätte seinen Körper ohne Kraftanstrengung komplett zertreten. Ich stieg über ihn hinweg und steckte den Kunden des Hauses drei Berliner Morgenpost und einen Tagesspiegel in ihre blechernen Kästen. Dabei konnte ich es kaum erwarten, wieder aus dem Haus zu treten.
Ich kniete mich vor dem Kleinvogel nieder und beobachtete ihn, um Anzeichen eines Restlebens an ihm zu entdecken. Er lebte tatsächlich noch, schien äußerlich nicht verletzt zu sein, ich fand keine Blut- oder Spermaspuren. Ich überlegte, wie ich ihn mitnehmen könnte, aber mir fielen keine Transportmöglichkeiten ein; zwei Stunden wäre ich noch mit dem Zeitungswagen unterwegs gewesen, wie sollte er solch eine rumpelnde Fahrt überstehen? Ich legte ihn in meine Hand und er wärmte sie. Dieser kleine Körper, kaum noch lebend, wärmte mich. Ich trug ihn über einen Parkplatz und legte ihn auf dem Laub unter einem Gebüsch ab. Dort sollte er sterben oder auch nicht. Ich staunte abermals über meine nun fast heiße Hand, verdrängte mögliche Infektionsgefahren und fuhr in meiner stumpfsinnigen Arbeit fort.

Nun ist es heute. Ich sitze mit sehr geringen Restkräften am Rechner und hacke Momente des heutigen Tages auf Elektronikbauteile.
Vormittags schlief ich mal nicht ganz so schlecht wie die vergangenen Monate; insgesamt natürlich weiterhin sehr schlecht, da lasse ich mich nicht täuschen. Gestern schrieb ich einen weiteren Bittbrief an meine Vermieterin, die endlich das Knallen der Wasserleitungen beseitigen lassen soll, woran sie aber nicht zu denken scheint. Sie will es nicht und ich muß darunter hilflos zutiefst leiden. Ich rege mich so viel darüber auf, ich will es nicht noch weiter schriftlich ausleben. Mir reicht es und ich mache doch weiter wie bisher.
Als ich am Mittag aufstand, fühlte ich mich sehr krank, grippal getroffen. Ich hielt mich nicht lange mit mir auf und packte meine Duschsachen zusammen, mit denen ich per BVG in die Gatower Straße zu fahren gedachte.
Im Briefkasten waren zwei Briefe, ich öffnete sie in der U-Bahn Richtung Rathaus Spandau. Einer war von meiner Uni und enthielt glücklicherweise keine Aufforderung zur Zwangsberatung, sondern nur einen Rückmeldeantrag und eine Zahlkarte über 212 Mark. Ich werde also ein weiteres Jahr als Scheinstudent hindümpeln können. Der andere Brief war von meiner Bank und bestätigte mir mein Aktiendepot mit einer Einlage von 100 Lufthansa-Aktien.
Rathaus Spandau stieg ich aus und ließ mich von den Rolltreppen nach oben zu den Bussen heben. Der Bus kam nach einer Minute, und ich stieg mit Hunderten von Schülern, andere Menschen schien es nicht zu geben, in denselben. Vor mir saß ein minderjähriger Junge, dem es ein Leichtes hätte sein sollen, mich zusammenzuschlagen. Er hatte sehr große Hände und wirkte kräftig. Ich bewunderte die Natur, daß sie junge Burschen so kräftig zu bauen imstande ist. Und ich war froh, nicht mehr Schüler sein zu müssen; solche Kerle verkloppen jetzt andere Schwächlinge.
 
AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

Ich erreichte im Bus sitzend das Bad und entstieg auf die Straße. Bald war ich im Bad und begann mit den immergleichen Handlungen, bis ich schließlich nackt in der Naßzelle stand.
Ich wartete einige Minuten unter meiner Zweitlieblingsdusche, bis meine Erstlieblingsdusche frei wurde und ich sie belegen konnte. Ich war fast alleine und konnte mich hemmungslos waschen. Als ich im Zuge dieser Handlungen bei meinem Glied ankam, zog ich etwas mehr stark als nötig seine Vorhaut zurück und schäumte den ganzen Kerl ein. Augenblicklich wuchs er über sich hinaus und erinnerte mich daran, daß ich schon wieder etliche Tage keinen selbstbestimmten Samenauswurf verzeichnete. In diesen Momenten vergnüge ich mich an der scheinbaren Kraft meines Pullers, denke sogar an die verwegene Möglichkeit, mir unter der öffentlichen Dusche unerlaubt einen zu wichsen. Ich habe es jedoch noch nie im Bad getan und wollte es auch nicht mit späten 33 Jahren probieren. Deshalb wartete ich Augenblicke ab und siehe da, mein blödes Glied, das kaum mehr als zum Abpissen gut ist, schrumpelte auf vertraute und kaum eine Frau verschreckende Maße. Ich fuhr mit dem Brausen fort und beendete es schließlich.

Der Rückbus kam auch bald und ich fuhr in ihm zurück zum Rathaus Spandau. Dort lief ich durch die Altstadt in Richtung Reformhaus, um mir dort Sojamilch und Leinsamentee für meinen wunden Magen zu kaufen. Auf halbem Wege kam mir plötzlich eine Frau entgegen, die mich schon von weitem anlächelte, als ob sie mich kannte. Sofort eingeleitete Überlegungenbrachten mir jedoch keine Wiedererkennungsmomente. Und sie lief direkt auf mich zu. Ich stoppte und erwartete, was sie machen würde.
Sie trug einen Stapel eingeschweißter Bücher mit sich herum und hatte auf ihrer unteren Gesichtslippe eine Griebe, die schon aufgeplatzt und am Verheilen war, das erkannte ich am Schorf, der unübersehbar an ihr herabhing. Sie fragte mich sofort, ob ich Student sei. Ich meinte, das ich das schon sei, aber nur indirekt. Sie fragte mich, wieso, wartete aber keine Antwort ab, sondern fuhr fort, auf mich einzufaseln. Sie wollte mir ein Buch schenken, auf daß ich in ihm tolle Dinge finde. Ich fragte, ob ich da auch Elend auffinden könnte. Sie wirkte irritiert. Ich erläuterte, daß ich verzweifelt und völlig hoffnungslos sei, und nur Interesse am Elend hätte. Mit frohen, erheiternden Botschaften könne ich nichts anfangen. Trotzdem wollte sie mir ein Buch in eine meiner leicht vor Aufregung zitternden Hände stecken. Dabei erwähnte sie, daß eine Spende üblich sei. Das ist und war keine neue Geschichte, ich hatte sie schon oft gehört und ließ sie mir nur wiederholen. Bevor ich nach dem Buch greifen konnte, bot ich ihr einen Spruch, ich sagte tatsächlich Spruch, aus meinem Buch an. Sie nahm an und ich las ihr vor:
Es ist nicht leicht, eine Neurose zu erwerben; wem dies gelingt, der verfügt über ein Vermögen, das aus allem Gewinn zieht: aus den Erfolgen wie aus den Niederlagen.
Sie meinte, das sei zu hoch für sie. Ich wunderte mich darüber, merkte aber, daß sie nun gehen wollte, da ich nicht für sie erreichbar zu sein schien. Sie grüßte mit einem Heil Bagwan oder so ähnlich. Ich wollte schon mit Heil Hitler zurückgrüßen, getraute mich aber leider nicht.
Ich kaufte zwei Liter Sojamilch und zwei Packungen Leinsamentee. Auf dem Weg zur U-Bahn steckte ich noch ein Buch ein, das kostenlos in einer Kiste auf dem Boden der Straße zum Mitnehmen angeboten wurde, ein kleiner Katechismus.
Dann war ich wieder, ziemlich kraftlos und fast fiebernd, zurück in meiner Wohnung.

Am Abend sah ich in meinen Fernseher. Ich betrachtete einen reißerisch angekündigten Beitrag über das tabuisierte Thema Zooismus, wobei ich mir nicht sicher war, ob die an den entscheidenden Stellen geschwärzten Beiträge Original-Aufnahmen waren oder nur eine dem Sender sat 1 angemessene Betrügerei am ehrlich interessierten Zuschauer. Gilt das Sendeverbot für erigierte Glieder auch für Tiere? Das kann nicht sein, denn kürzlich gelang es mir, einen Beitrag über die Paarung von Füchsen aufzuzeichnen, alles war klar und sauber anzusehen. Dabei wurde erläutert, daß sich das fickende Fuchspaar bis zu acht Mal in einer Schicht vereinigt. Abschließend, als Zeichen einer gelungenen Paarung, verkrampft sich das Weibchen allerdings vulval. Diese für beide Teilnehmer unglückliche Situation hält bis zu 1 1/2 Stunden an, in denen das Männchen dem Weibchen auf Schritt und Fick folgt. Nennt sich Guido Baumann deshalb der Ratefuchs? Ich kann das nicht beurteilen, es ging mir auch nur um das Ausdrücken meines Unverständnisses über solche bedingt informellen Beiträge des Tittensenders Flach 1.


Nun bin ich ein wenig erfreut, daß ich mal wieder, nach sehr langer Zeit, zwei Seiten schreiben konnte, ohne einen Adressaten zu benötigen.
Gleich gehe ich kacken, das mache ich immer wieder sehr gerne, es hat etwas Reinigendes und Befreiendes. Dann werde ich trotz meiner scheinbaren Infektion eine Zigarette rauchen, also alles wie immer. Ich Dreck.

 
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AW: Nicht verschickte Briefe, noch älter.

In diesem Bild gibt es ja eine Menge zu entdecken. Wie machst du das? Trotz des haltoten Vogels lebt alles andere. Es gefällt mir.
 
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