AW: Was lest ihr gerade?
Es könnte sein, dass der Vogel Phoenix diesmal nicht noch einmal
aufersteht.
Seit der Antike hat man ihm die Macht zugeschrieben, sich selbst zu
überleben. Zuerst anlässlich der Schöpfung der Welt auf dem Urhügel
erschienen, kehrt er alle paar hundert Jahre zurück, um in der
nächsten Morgenröte zu verbrennen und anschließend aus seiner
Asche aufzusteigen. Herodot und Ovid haben sich erzählen lassen,
wie Phoenix ein Nest baut, in das er sich legt, um sich selbst zu verbrennen
und aus dem eigenen Leib wiederaufzuerstehen.
Jahrhunderte lang hat er so die abendländische Allegorie des Comeback
verkörpert. Er stand für alles, was am Ende war und doch noch
einmal anfangen konnte, um so mächtig zu werden wie zuvor. Nicht
nur das Christentum hat sich Phoenix zum Wappentier gewählt, das
dem Glauben an die Auferstehung gerade dann Flügel verleiht, wenn
es am schlechtesten steht. Aus der Asche steigt der Feuervogel auch
in der Emblematik der Politik und nicht zuletzt in den Logos der Firmen,
die im Spiel der Marktgesetze gerade eben noch in Flammen
aufgehen, morgen aber schon wieder Erfolge feiern können. So sind
die Geschichten, in denen sich der Vogel Phoenix verwandelt, immer
vor allem eins gewesen: Beschwörungen, die dem Unvermeidlichen
noch ein gutes Ende und das Versprechen auf einen noch besseren
Wiederbeginn abtrotzen wollten. Umso eigenartiger wirkt es, wenn
die Geschichte nicht mehr funktioniert und man Phoenix nach all den Kreisläufen aus Werden und Vergehen trotz aller Beschwörungsversuche
regungslos daliegen sieht. Diesmal ist es eine alte Gummifabrik,
die sich hundertfünfzig Jahre an ihrem Namen festgehalten hat. Nun
sind die Maschinen abgestellt und abtransportiert, die Hallen sind gefegt
und die Menschen, die hier gearbeitet haben, in alle Richtungen
auseinander gegangen. Sie werden nicht mehr zurückkommen.
Dass dieser Phoenix tot ist und nicht mehr aufersteht, hängt damit
zusammen, dass sich die Industriekultur als Ganzes verwandelt. Mit
jeder Fabrik, die in Europa geschlossen wird (und vielleicht dort wieder
aufgemacht wird, wo das Abendland bis vor kurzem noch die
Ränder der Welt vermutete), wird ein Stück Abschied zelebriert.
Die Mythe, die sich hier erledigt, ist eine, die über hundert Jahre die
Träume von Fortschritt, von Reichtum, vor allem von der magischen
Verwandlung der Natur in Kultur befl ügelt hat.
Aufgelöst werden die alten Kollektive, die man in Betrieben aus Individuen
zusammengeschweißt hat, um sie rund um die Uhr in möglichst
uniformierten Arbeitstrupps an die Öfen, die Maschinen, die
Schreibmaschinen, die Waschbecken, in die Umkleideräume und in
die Kantinen zu schicken. Aufgelöst werden damit die großen Erzählungen
vom allumfassenden Zusammenhang, in den sich die Individuen
hineingestellt haben, um sich vor Ort, im Betrieb und im
Privaten zugleich, einen Rest von Individualität zu sichern. ‚Das kleine
Glück’ ist die Pathosformel für jenen Rest, den man jenseits der
Erzählung vom großen Glück (und Unglück) der Firma als überindividueller
Einheit organisiert.
So geht mit jeder Fabrikschließung das Zeitalter der Massen und ihrer
speziellen Geschichten zu Ende. Wenn die Arbeiter und Angestellten
das Werk verlassen und sich, aus der Vogelperspektive gesehen, einfach
verfl üchtigen, dann verfl üchtigen sich zugleich die Sinnstrukturen, in denen das Kollektiv sich selbst bewahrt und mit dem kleinen
Glück der Individualität versorgt hat.
Was sich jenseits davon an Strukturen etabliert, in denen Individuum
und Kollektiv neu gedacht werden, lässt sich längst an der Organisation
von Arbeitseinheiten ablesen, die zeitlich zwar noch aufeinander
abgestimmt, räumlich aber entzerrt sind. Für die neuen Netzwerke
ist nicht serielle Gleichschaltung, sondern dynamische Flexibilität das
Grundprinzip. Und so werden die neuen Geschichten aus der Arbeitswelt
auch mit einer anderen Dynamik, zuweilen auch mit einer ins
Ironische gewendeten Stilistik und in fl exiblen Texteinheiten erzählt.
Was bleibt von den Kollektivgeschichten? Im Moment ihres Verschwindens
kann man sie noch einmal als große Erzählungen des
Zusammenhalts hören. Sie erscheinen im Modus der Verfl üchtigung.
Wer immer mit ihnen im Restgepäck aus dem Werktor tritt, um nicht
mehr zurückzukommen, trägt sie partikelweise mit sich weiter, abrufbar
aus der Erinnerung. Wer sich auf die Suche nach diesen Partikeln
begibt und genau zuhört, kann sie wieder zusammensetzen, um sie
noch einmal als Einheit erscheinen zu lassen. Dieser Einheit aber ist
dann ihr Zerfall längst eingeschrieben.
In diesem Buch werden letzte Geschichten von Phoenix erzählt. Rekonstruiert
aus unzähligen Partikeln. Remontiert im Moment der
Aufl ösung. Gedruckt im Augenblick des Verschwindens. Erzählt wird
keine Beschwörungsgeschichte mehr, die dem Unvermeidlichen noch
ein gutes Ende und das Versprechen auf einen noch besseren Wiederbeginn
abtrotzen soll.
Phoenix ist Asche.
Annett Gröschner & Stephan Porombka