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was ist "reaktionär"?

Ziesemann schrieb:
In der politischen Semantik bedeutet das Wort "reaktionär" natürlich rückschrittlich, mindestens fortschrittsfeindlich und wird entsprechend - auch missbräuchlich - genutzt.
Wer das "Re"- im Wort von der Reaktion im Sinne von Rückschritt liest, sollte uns linksliberalen, sozialdemokratischen, rechtskonservativen, der Zukunft zugewandten Reaktionären einmal plausibel erklären, was das "Re"- im Wort von der Revolution zu bedeuten habe?

Mir ist übrigens neu, Ziesemann, daß - in politischer Semantik - "Reaktion" natürlicherweise Rückschritt und Fortschrittsfeindschaft bedeute. "Reaktionär" wird doch noch heute immer nur der genannt, der so genannt werden muß von denen, die im Namen totaler Herrschaft über das unterworfene Kollektiv glauben, Massen besser als die rechten demokratischen Reaktionäre beherrschen zu können (die so etwas freilich gar nicht anstreben) - ein Name für solchen freiheitlich-antireaktionären Fortschritt wäre heute Achmadineschad, nicht, Louiz?
 
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Gaius, weiss zwar nun nicht, warum du mir diese Frage gestellt hast, doch kann ich sie leicht beantworten.

Achmadineschad ist weder fortschrittlich, noch reaktionär. Er sucht zwar eine substantielle Veränderung des Status Quo, jedoch kann dies in seinem Gesamtkontext kaum als positiv oder als Verbesserung gewertet werden.
 
Ein starkes Stück, immerhin, louiz, daß man glaubt, ein sicheres Urteil über die Politik das Herrn Achmadineschad fällen zu können: er wolle zwar den Status Quo substantiell verändern; Verbesserung oder Verschlechterung seien auch nur aus seinem Kontext (und nicht etwa aus dem Kontext der in Iran lebenden Menschen) zu sehen, natürlich sind es :ironie: auch nur wir, die solches angemessen beurteilen können - und dabei bleibt man gegenüber dem anti-westlichen, anti-amerikanischen, anti-zivilisatorischen Impuls Achmadineschads so sehr positiv eingestellt, wie man einen G.W.Bush - oder besser, eine Condoleeza Rice - verdammt, richtig?

Und wo ist jetzt das Reaktionäre zu suchen? Natürlich schallt es aus dem linken Walde, daß A.'s Drohung nur die Reaktion auf B.'s Kraft sei - was dem Iran wiederum unterstellt, nicht selbstbestimmt handeln zu können.

Reaktionär, weil nicht selbstbestimmt ursprünglich wäre demzufolge alle Politik, sofern sie sich überhaupt auf das Frage- und Antwortspiel der Kräfte einläßt; reaktionär wäre damit alles diskursive Denken.
 
Gaius, deine Worte sagen mir nicht viel und ich verstehe nicht so recht, worauf du eigentlich hinaus willst.

Es geht mir auch nicht darum, ob es gut oder schlecht ist, sondern um die Frage ob es reaktionär oder fortschrittlich ist.

Vielleicht kannst du etwas deutlicher und einfacher erklären, worum es dir geht.
 
Gaius schrieb:
Wer das "Re"- im Wort von der Reaktion im Sinne von Rückschritt liest, sollte uns linksliberalen, sozialdemokratischen, rechtskonservativen, der Zukunft zugewandten Reaktionären einmal plausibel erklären, was das "Re"- im Wort von der Revolution zu bedeuten habe?
Der Zukunft zugewandte Reaktionäre sind ein Widerspruch in sich. ;)

Revolution stammt von lateinischen revolvere "zurückwälzen, umstürzen". Religion könnte man so auch herleiten aus dem lateinischen religare "anbinden, zurückbinden".
 
Hallo, das ist mein erster Beitrag auf diesem Forum, also lasst mich leben !:reden: :sekt:

Als GeschichtsLKlerin, die gerade Geschichte paukt, kann ich Folgendes beitragen:
Als "reaktionär" werden in der Geschichtswissenschaft solche Politiker bezeichnet, die den Obrigkeitsstaat durchsetzten wollen und dabei liberale Strömungen unterdrücken.
Also Metternich, zum Beispiel. Der genialste Reaktionär war Bismarck, ABER historisch betrachtet war sein Genie auf der "falschen" Seite, auf der des Obrigkeitsstaates nämlich.
Man würde den Rückkehr zur Demokratie nach 1945 nie als "reaktionär" bezeichnen, auch die Wiedervereinigung Deutschlands nicht.
Nach dem Untergang der Weimarer Republik und dann des Nationalsozialismus sind die Reaktionäre (der ostelbische Adel, Konservative u.s.w.) untergegangen, weil sich ihre politischen Forderung nicht mehr durchsetzbar zeigten. Sie kooperierten mit der Demokratie. Man bezeichnet zwar Adenauer manchmal als einen Reaktionär, da er autoritär war, aber das finde ich falsch. Er war ein Demokrat und wollte eine demokratische Regierung etablieren, was damals eben am besten durch eine zeitweilig autoritäre Regierungsweise möglich war.
Die Wiedervereinigung war direkte Folge der Befreiung der DDR von dem sowjetischen Regime (krass ausgedrückt) und der Staat wurde zur Demokratie hingeführt. Ich würde das nicht als "reaktionär" bezeichnen.
Meine persönliche Meinung ist, dass in Deutschland nach 1945 keine Regierung als reaktionär bezeichnet werden könnte.

Fazit:
Geschichtlich gesehen, ist der Begriff "reaktionär" in Verbindung mit obrigkeitsstaatlichen Bemühungen, liberalen Strömungen entgegenzuwirken, zu bringen.
In der Umgangssprache wird der Begriff missbraucht und zum ettikettieren jeglicher konservativer oder einfach nur eindeutig nicht linker Ideen verwendet.
 
Guten Tag,
Katarina

In der Umgangssprache wird der Begriff missbraucht und zum ettikettieren jeglicher konservativer oder einfach nur eindeutig nicht linker Ideen verwendet.

reaktionär ist auch umgangssprachlich ein schärferer Begriff
als
'nur eindeutig nicht links'

wie Du selber geschrieben hast,
gab es früher Antidemokraten
und glaube mir,
die gibt es heute noch
(sogar in diesem Forum)
 
Ich heiße Dich auch willkommen, Katarina, zumal ich in Dir, wenn ich Differenzierungen auch altersmäßiger Art außer Acht lasse, eine Art Kollegin begrüßen darf. - Bei mir brauchst Du weder um Dein Leben noch um Deine Redefreiheit zu fürchten - schmunzel!

Katarina schrieb:
Als "reaktionär" werden in der Geschichtswissenschaft solche Politiker bezeichnet, die den Obrigkeitsstaat durchsetzten wollen und dabei liberale Strömungen unterdrücken.
Also Metternich, zum Beispiel. Der genialste Reaktionär war Bismarck, ABER historisch betrachtet war sein Genie auf der "falschen" Seite, auf der des Obrigkeitsstaates nämlich.
Bei Metternich klar; aber Bismarck sehe ich differennzierter, auch zwiespältiger. Sicherlich wollte er die Monarchie stützen und festigen, aber die Sozialversicherungsgesetzgebung war doch recht fortschrittlich - auch wenn das Motiv Systemstabilisierung war.
Man würde den Rückkehr zur Demokratie nach 1945 nie als "reaktionär" bezeichnen, auch die Wiedervereinigung Deutschlands nicht.
Nach dem Untergang der Weimarer Republik und dann des Nationalsozialismus sind die Reaktionäre (der ostelbische Adel, Konservative u.s.w.) untergegangen, weil sich ihre politischen Forderung nicht mehr durchsetzbar zeigten. Sie kooperierten mit der Demokratie. Man bezeichnet zwar Adenauer manchmal als einen Reaktionär, da er autoritär war, aber das finde ich falsch. Er war ein Demokrat und wollte eine demokratische Regierung etablieren, was damals eben am besten durch eine zeitweilig autoritäre Regierungsweise möglich war.
Du zeigst mit Deinem Beispiel vortrefflich, dass die pure Semantik "Reaktion = re-actio" = Rückschritt der begrifflichen, politischen Bedeutung des Wortes nicht gerecht wird. Adenauer war alles andere als ein Reaktiionär. Allein sein Lebenswerk, die Aussöhnung mit Frankreich, widerlegt das. Und dann sein leidenschaftliches Arbeiten für die Europäische Vereinigung, zuerst EWG, als diese in den 50er Jahren von den im Gegensatz zu Adenauer angeblich fortschrittlichen Sozialdemokraten erbittert bekämpft wurde, weisen ihn als Mann der Zukunft auf.
Meine persönliche Meinung ist, dass in Deutschland nach 1945 keine Regierung als reaktionär bezeichnet werden könnte.
Stimmt- jede Gegenmeinung muss in den Bereich politischer Polemik verortet werden.

Fazit:
Geschichtlich gesehen, ist der Begriff "reaktionär" in Verbindung mit obrigkeitsstaatlichen Bemühungen, liberalen Strömungen entgegenzuwirken, zu bringen.
In der Umgangssprache wird der Begriff missbraucht und zum ettikettieren jeglicher konservativer oder einfach nur eindeutig nicht linker Ideen verwendet.
Damit zeigst Du selbst, dass die rein historische Deutung eben nicht ausreicht, um zu die Verwendung des Bergriffs im heutigen politischen Leben zu erklären.
Ich freue mich auf Deinen nächsten Beitrag aus Bayern, dem Bundesland, das in D in fast allen Belangen Spitze ist. Warum wohl? Weißt Du die Antwort?
Grüße und gute Wünsche für Deine weiteren Beiträge
Ziesemann
 
Worte haben die Eigenschaft sich nicht um unsere Lehrbücher zu kümmern, sondern ihr Leben im aktuellen Kontext und der jeweiligen Gesellschaft zu entfalten in denen sie zur Anwendung kommen. So ist eine einseitige Sicht nach semantischen Aspekten vielleicht wissenschaftlich, jedoch führt sie wohl kaum zu einer Erklärung, warum der normale und semantisch nicht gebildete Mensch gerade dieses Wort verwendet und welche Bedeutung er diesem Wort beimisst.

Reactio ist per se kein Rückschritt, sondern kann auch die Reaction auf die Actio sein und damit eine aktuelle Handlung, die durch eine vorangegangene Handlung ausgelöst wurde. Und somit verwandelt sich auch die Reactio wieder in eine Actio und provoziert hierdurch eine Reactio. Diesen nur allzu natürlichen Vorgang vorausgesetzt, ist es manchmal gar schwer einzuordnen, was nun die Actio und was die Reactio ist.

Die subjektive Zuordnung dieses Attributes zeigt mehr über die Meinung und die Ansicht des Redner auf, als über den mit diesem Attribut belegten. Und da die Actio auch gleichzeitig Reactio sein kann, wird es auch immer zwei Meinungen über die Qualität des in Frage stehenden Ereignisses oder Menschen geben. Somit hängt die Beurteilung wiederum vom Standpunkt des Beurteilenden ab und vor allem von der Frage, wie weit wir gewillt sind eine kausale Entwicklung nach hinten zu verfolgen, um festzustellen, was in der Tat die ursprüngliche Actio gewesen ist – sollte es eine solche überhaupt nach dieser Definition geben.
 
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Dies ist ein Zitat aus Deinem Beitrag # 9:
louiz30 schrieb:
Aus diesem Grunde sehe ich den Reaktionär als einen an, der sich gegen die Veränderung stellt und sich auf alte Lösungen beruft.
Und dies eines aus Deinem letzten Beitrag:
Louiz30 schrieb:
Reactio ist per se kein Rückschritt, sondern kann auch die Reaction auf die Actio sein und damit eine aktuelle Handlung, die durch eine vorangegangene Handlung ausgelöst wurde. Und somit verwandelt sich auch die Reactio wieder in eine Actio und provoziert hierdurch eine Reactio. Diesen nur allzu natürlichen Vorgang vorausgesetzt, ist es manchmal gar schwer einzuordnen, was nun die Actio und was die Reactio ist.
Irre ich mich, wenn ich zwischen den beiden Aussagen einen gewissen Widerspruch zu erkennen glaube?
Wenn reactio - um Deine Orthographie zu gebrauchen - eine Handlung als Antwort auf eine vorangegange sein kann, dann kann doch jemand, der auf eine Handlung, die auf Veränderung zielt - und nicht jede Veränderung ist per se richtig und gut - kein Reaktionär sein, der auf diese reagierend handelt. Das aber steht im Widerspruch der Aussage zu # 9. Du schreibst doch selbst im zweiten Zitat, dass "reactio ist per se kein Rückschritt"; aber wer "sich gegen die Veränderung stellt" ist ein Reaktionär. Was also gilt?
Für eine Erläuterung wäre dankbar
Ziesemann
 
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