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Wahrheit

Yvele

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28. Oktober 2008
Beiträge
10
Durchdringend sieht er mich an. „Trägst du dein Innerstes nach außen?“ Gute Frage; klare Antwort: „Nein, natürlich nicht.“ Ein kalter Schauer läuft mir über den Rücken und der Nebel hängt so tief, dass ich ihn kaum noch sehen kann. „Warum denn nicht?“. Schon wieder eine gute Frage, fast so als würde er sie jedem stellen. „Ich weiß es nicht.“, sage ich ehrlich. Nein, eigentlich unehrlich, denn ich weiß es genau. Er beginnt schallend zu lachen, denn er sieht es auch, dass ich lüge. Achselzuckend räume ich ein, dass es wohl wenig Sinn macht zu lügen: „Es macht nun mal verletzlich.“, sage ich leicht geknickt. Er nickt verständnisvoll, fast wie ein Vater von dem ich nun erwarte, dass er mir auf die Schulter klopft oder mich umarmt. Ich betrachte ihn näher und mich überkommt eine Gänsehaut. Obskure Vorstellung. Aber er versprüht eine Art von Wärme. Seltsam. Eine kleine Pause, die wohl denkwürdig erscheinen soll, entsteht. Dann fragt er schon fast zu wissend: „Würdest du gerne?“. Ich gebe zu, dass ich damit nicht gerechnet habe. Er dreht sich mit dem Rücken zu mir, blickt auf die Wellen des dunklen Flusses und gibt mir Zeit. Ich starre nur in die Nacht, versuche einen Stern zu finden und grüble. Würde ich gerne? Die Frage bohrt sich immer tiefer in meine Gedanken. Ich muss mich setzen. Würde ich gerne?


Natürlich! Ja, ich würde gerne schwach sein, weinen wenn mir danach ist, ich würde gerne mein Herz auf der Zunge tragen und mein Leben mit jemandem teilen. Ja, ich würde gerne zeigen wie verletzlich mein Herz ist, würde gerne sein wer ich bin und mich nicht stärker machen müssen als ich bin. Ja, ich würde mich gerne an jemanden lehnen und vertrauen. Ja, ich würde mich gerne fallen lassen und meine zerrüttete Seele frei leben lassen. Ich würde gerne sagen, dass ich gerettet werden will und dass ich einsam bin. Ja, ich würde gerne aufrichtig meine Liebe zeigen können und auch hin und wieder hoffnungslos sein. Ja, ich möchte getröstet und geliebt werden und traurig sein dürfen wenn es niemand tut.

Wissend, dass ich meine Antwort gefunden habe, dreht er sich wieder zu mir. Er sieht mich einfach nur an und wartet. Ja, ich hätte Vieles anders machen sollen. Aber manchmal bleibt keine andere Wahl. Er lässt diese Ausrede nicht gelten und schüttelt den Kopf. „Was wird man über dich wohl sagen?“ „Ich weiß nicht.“, gebe ich zu. Ich merke es genau. Meine Zeit drängt. Ein leiser Seufzer entfährt ihm und langsam kommt er auf mich zu. Noch einmal suche ich einen Stern, finde aber nur Nebel und keine Klarheit.

Dann umhüllt mich der freundliche Tod mit seinem schwarzen Mantel, nimmt mich gefangen und reißt mich in die dunkle Vergänglichkeit. Wer sollte sich an mich erinnern? Ich hatte nie wirklich existiert.

Ich wurde vergessen.
 
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AW: Wahrheit



Hallo Yvele,

willkommen im df! Danke, dass du uns an deinen Werken teilhaben lässt.

Deine Geschichte gefällt mir sehr gut. Du schreibst hier über Wahrheiten, welche mich betroffen und nachdenklich machen.

helia
 
AW: Wahrheit

Grüß Dich Yve,

was für ein Einstand. Deine Geschichte macht nachdenklich. Sie gefällt mir.
Ja, sein Herz auf der Zunge tragen und authentisch sein, das ist es. Dazu habe ich vor Jahren auch ein paar Zeilen geschrieben.
Darf ich sie Dir in Deinen Thread setzen? Sie passen gut hier her.

Masken und Rollen



Warum trägst Du Masken, Mensch?

Ist Dein wahres Gesicht so hässlich?

Scheust Du den Blick in den Spiegel,

weil Du Dich dort selbst erkennst?



Warum schlüpfst Du in verschiedene Rollen, Mensch?

Ist Dein Selbst so langweilig, dass Du das brauchst?

Scheust Du den Blick in Dein Herz,

weil Du Dich dort selbst erkennst?



Nimm die Masken ab und sei Du selbst,

verlass das Rollenspiel und besinne Dich auf Dein wahres Ich,

versuche nicht, ein anderer zu sein.



Erst, wenn der Mensch sein Herz auf seiner Zunge trägt,

und seine Seele sich in seinen Augen widerspiegelt,

ist er authentisch.

(C) Polarwoelfin

Liebe Grüße,

Christiane
 
AW: Wahrheit

Hallo Yve,

ich habe mir aus dieser bewegenden Geschichte das Wort "aufrichtig" herausgesucht.
Sich in seine Seele, in sein Wesen blicken zu lassen, ist Aufrichtigkeit pur.
Schwächen zugeben zu können, bedeutet in Wirklichkeit stark zu sein.
Alles, was einmal existiert hat, steht im Buch des Lebens. Niemand, der darin steht, wird vergessen.

Christiane, auch Dein Werk ist meisterlich!

"Danke Euch beiden", für Eure Anregungen. :blume1:

Grüße von FirstDay.
 
AW: Wahrheit

Meine lieben beiden in den Spiegel-Gucker Yve und Christiane!

Ihr seht ein richtiges Bild, das euch traurig macht. Ich meine aber, der Mensch soll sich selbst so nehmen wie er ist, sich lieben wie er ist - auch seine dunklen Seiten. Wenn diese dunklen Seiten, ich meine das Widersprüchliche im Menschen, bewusst werden, wird es langsam leichter. Aber alle dunklen Seiten auf einmal überspringen oder ausräumen, das geht nicht. Es reicht, dass man tut, was man kann.

Das heißt, kannst du dein Herz nicht öffnen, so tu es in kleinen Schritten. Kannst du dich nicht behaupten oder durchsetzen, so tu es bei Kleinigkeiten. Kannst du nicht immer gerade sein, so tu es im Unscheinbaren. Verlang und wünsche nicht zu viel von dir.

Alles, auch das kleinste Streben, geht nie verloren, genau so wie es FirstDay sagt. Im Buch des Lebens, das über den Tod hinausreicht, wiegen kleine Bemühungen mehr als eine Menge grobe Fehler. Es mag sein, dass auf der Erde die kleinen Bemühungen nirgends aufscheinen und ins Meer des menschlichen Vergessen sinken - aber in dir lebt das ewig, bringt dir nach dem Tod und im jenseitigen Leben große Früchte. Wetten?

Von mir leicht gesagt? - Ich kenne eine Frau, die hatte einen ganz schweren Verkehrsunfall. Und mitten im Geschehen, beim Verlassen des Bewusstseins sah sie im Zeitraffer ihr Leben wie in einem Film ablaufen. Bis in die kleinsten Details. Alles was sie je gedacht und getan hatte war da.

Oh nein, der Tod breitet nicht die finstere Nacht und das Zurücksinken in ein Nichts über einen aus. Im Gegenteil. Nicht der wesenlose Tod blickt dich an, die Liebe Gottes sucht dich.
Liebe Grüße - reinwie
 
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AW: Wahrheit

Ich bedanke mich zunächst mal für die vielen Kommentare, das Lob und den Rat.

Am Ende meiner Geschichte wollte ich nur aufzeigen, dass man, wenn man sich nie wirklich gezeigt und gegeben hat, wie man ist, auch vergessen wird. Der Mensch, den man dargestellt hat, nicht. Das ist aber irrelevant, denn nur man selbst kennt sich am besten und wer sollte sich an eine Hülle erinnern, deren Innerstes man nicht kennt. Man sollte sein Leben in vollen Zügen genießen und so sein, wie man ist. Man sollte an sich arbeiten, wie reinwiel schon gesagt hat, auch wenn es nur in kleinen Schritten ist. Aber man darf nicht einfach nur ein Geist sein und sein Leben als sein eigener Zuschauer, an sich vorbeiziehen lassen.

Das waren jetzt leider viel "man" in einem kleinen Abschnitt, aber ich hatte eine laaange Nachtschicht und noch keinen Kaffee :)
 
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