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Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

  • Ersteller Ersteller Ela67
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Ela67

Guest
Im Keller liegen zwölf Blöcke wunderbaren, weissen Alabasters. Zugesägt auf 40 mal 15 mal 15 Centimeter, mit einem Gewicht von über zwanzig Kilo pro Stück, haben sie per Eisenbahn, Camion und Lieferwagen die Reise von Spanien nach Basel unternommen. Ich bin besessen von Steinen. Sie helfen mir dabei, eine Sprache zu finden.
Die Worte waren mir verloren gegangen in den letzten Jahren. Ich glaubte ihnen nicht mehr, weder den Worten, die ich hörte, noch denen, die ich selber sprach und schon gar nicht dem alten Plapperaffen, der in meinem Kopf zu allem seinen Kommentar abliefern wollte. Aber den Steinen konnte ich glauben, denn ihre Sprache war so ursprünglich und klar. Die Steine waren so fest und rein in ihrer Substanz. Ich konnte sie berühren, ihr Gewicht spüren und ihre Formen hatten nichts Gekünsteltes, Unwahres an sich, auch wenn ich selber ihnen diese Form gab.
Die Steine offenbaren mir ihre Gestalt. Ich bin nicht ihre Schöpferin, sondern ihre Dienerin, die versucht, die innere Essenz herauszuschälen, Schicht um Schicht abzutragen und zur Seele des Steines zu gelangen. Zumindest zu der Seele, die er mit meiner Hilfe offenbaren will.
So lange bin ich stumm gewesen. Nein, nicht wirklich stumm, bloss wortlos. Und jetzt merke ich, wie die Worte langsam und schüchtern zurückkommen. Ich merke, wie sie tief im Keller meines Bewusstseins liegen, so wie die zwölf Alabasterblöcke bereit liegen. Sie sind da, um in Sätze geformt zu werden, so wie der Stein bereit liegt, seine verborgene Figur zu offenbaren.
Siebenundachzig Stufen schleppe ich den ersten Steinblock vom Keller hoch in mein Atelier im vierten Stock. Schweisstreibende Stufen, auch wenn ich mich schon längst daran gewöhnt habe, alles die Treppe hochzutragen und ich keuche unter dem Gewicht dieses Steines.
Oben stelle ich ihn auf meinen Arbeitstisch und muss erst mal wieder zu Atem kommen. Die Morgensonne bemüht sich, durchs staubige Fenster zu strahlen und lässt den Block an den Kanten fast durchsichtig scheinen. Er wirkt jetzt edel und abweisend, unberührbar eigentlich und ich bin plötzlich unsicher, ob ich mich mit diesem Projekt nicht völlig überfordere. Ist es nicht unmöglich, ein himmlisches Wesen in Stein zu meisseln? Aber ich sehe sie so lebendig vor mir stehen, diese steinernen Engel, sehe sie schon seit Wochen in meinem Kopf und dieses Bild ist von solcher Kraft und Dringlichkeit, dass es den Gedanken an Gelingen oder Scheitern sofort wieder in den Hintergrund schiebt und für unwichtig erklärt.
So nehme ich meine grösste Säge und beginne mit dem ersten Schnitt, versuche die erste unsichtbare Linie zu finden, die das Wesen vom Unwesentlichen trennt.
Es geht langsam voran, milimeterweise frisst sich das Metall durch den Stein und weisser Staub rieselt mit jedem Vor und Zurück aus dem Spalt auf die Tischplatte, wie Sand in einem Stundenglas.
Und dann beginnt der Stein zu summen, erst ganz leise und dünn, dann immer deutlicher und lauter, bis der Gesang des vibrierenden und schwingenden Blockes mit einer ganzen Skala von Obertönen den Raum ausfüllt. Dann ein Knall und das abgesägte Stück fällt auf den Boden, die Musik bricht ab und ich höre nur noch meinen eigenen Atem.


Wo beginnen? Wo den ersten Schnitt setzen? Ich will eine Liebesgeschichte erzählen, aber wo fängt sie an? Ist es wichtig, die Vorgeschichte zu kennen? Muss das Material beschrieben werden, aus dem die Figuren dieser Geschichte gebaut sind? Aber ich kenne nur die Vorgeschichte der einen wirklich aus erster Hand. Also lieber nicht. Lieber gleich anfangen.
Eine junge Frau sitzt in einem Strassencafé in Basel. Es ist Sommer, endlich Sommer geworden und das ist Anlass genug, einfach nur dazusitzen, dem geschäftigen Treiben der Leute zuzuschauen, Eistee zu trinken und den Tag zu verbummeln.
Gegenüber steht ein ein Strassenmusikant und bearbeitet mit mehr Enthusiasmus als Talent seine Gitarre und singt dazu irgendwas, das ein wenig nach Tom Waits klingt. Ein anderer Typ geht mit einem Hut von Tisch zu Tisch und sammelt das Honorar für den Künstler, argwöhnisch beäugt vom mürrischen Kellner, dem dies eindeutig missfällt, der aber zu träge ist, irgendetwas dagegen zu sagen.
Als er an ihren Tisch kommt, schenkt sie ihm ein Zweifrankenstück und ein strahlendes Lächeln. Er ist ein schöner Mann und sein Grinsen, das er ihr zurückschickt lässt sie noch mehr strahlen. Er fasst das als Einladung auf und setzt sich zu ihr an den Tisch, klaubt die Münzen aus seinem Hut, legt ihn neben sich auf einen freien Stuhl und beginnt auf Englisch eine Geschichte zu erzählen. Er und sein Kumpel dort mit der Gitarre seien holländische Strassenmusikanten und ihm sei die Gitarre geklaut worden und sie dürfe ihn ruhig zu einem Bier einladen.
Aus einem Bier werden zwei und er erzählt weiter und sie taucht ganz tief ein in seine Geschichten und wenn es nicht so ein dummes Klischee wäre, dann würde ich jetzt sagen, sie taucht in seine blauen Augen und verliert sich darin. Aber das lasse ich lieber bleiben. Er ist ein schöner Mann, der gut erzählen kann, der Humor hat und schon alles mögliche vom Leben weiss, sie ist eine eher unscheinbare junge Frau und fühlt sich von soviel Aufmerksamkeit geschmeichelt, wenn auch etwas eingeschüchtert. Er will sich mit ihr verabreden für den gleichen Abend. Sie sagt zu, weil es leichter ist, als nein zu sagen und zu erklären, weshalb. Sie hat in der Schule Latein und Altgriechisch und Französisch gelernt, ihre Englischkenntnisse sind mager und sie hat sie vorallem durch englische Songtexte und englische Filme mit deutschen Untertiteln erworben. Sie kann viel verstehen und wenig sagen. Also sagt sie ja und weiss, sie wird nicht hingehen. Sie weiss, sie wird nicht hingehen und sich nach ihm sehnen.


Fortsetzung folgt...
 
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AW: Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

Ela, ich kanns kaum erwarten zu lesen, wie deine Geschichte weiter geht. Deine Sprache gefällt mir.

:blume1:
lilith
 
Steinerner Engel , Fortsetzung

Ich bearbeite den Block weiter mit der Säge. Er singt nicht bei jedem Schnitt, bloss, wenn dieser besonders tief ist. Nach und nach wird der Engel in seiner Haltung sichtbar. Und plötzlich verschwindet jede Unsicherheit. Der Stein hat begonnen, mit mir zu sprechen. Jetzt sagt er ganz klar, was er will. Die erste Hürde ist genommen, der Rest ist bloss noch physische Kraft und Ausdauer.
Die grossen, abgesägten Stücke kommen in eine Kiste, später kann ich vielleicht kleinere Figuren daraus machen.
Jetzt kommt der nächste Schritt. Mit Hammer und Meissel lege ich grob die Vertiefungen an. Dabei muss ich sehr vorsichtig sein, denn ein falscher Schlag und der Stein zerspringt. Am besten geht es, wenn ich den Block auf den Schoss nehme. Ich werde zwar blaue Flecken davon bekommen, aber das ist mir egal. Ich muss den Stein an meinem Körper spüren, er muss fast zu einem Teil von mir selbst werden. Ich muss jeden Schlag mit den Händen führen und ihn gleichzeitig mit den Beinen abfedern. Auch meine Ohren sind jetzt wichtig, denn man hört die heiklen Stellen, bevor man sie sieht.
Und immer wieder den Block hinstellen, ein paar Schritte zurücktreten, schauen, vielleicht mit dem dicken Filzstift eine Linie anzeichnen, wieder hinsetzen, den Block auf die Oberschenkel legen, Hammer und Meissel nehmen, schlagen, mit den Beinen abfedern, die Vibration des Steines im Bauch spüren, im Staub versinken. Er dringt mir in die Nase, knirscht zwischen meinen Zähnen, färbt meine Haut und meine Haare weiss. Nach drei Stunden sehe ich aus wie eine alte Frau.


Natürlich treffen sie sich wieder. Eine Woche später, im Atlantis, einem Lokal in dem jeden Abend eine andere Band spielt und in dem sie oft ist, weil sie gerne Musik hört und weil man dort immer jemanden trifft, den man kennt. Dass sie ihn dort treffen würde, hat sie eigentlich nicht erwartet, weil sie gedacht hat, dass er längst weitergezogen sei mit seinem Kumpel. Aber er ist da und steuert zielstrebig auf sie zu. Sie will ihm schon erklären, weshalb sie vor einer Woche nicht zu ihrem Rendez-vous gekommen ist, aber er tut das mit einer Handbewegung ab und dann fängt er plötzlich an, in reinstem Schweizerdeutsch zu reden. Das sei doch wesentlich einfacher so und auch irgendwie ungezwungener, jetzt da sie auf dem Weg seien, gute Freunde zu werden. Die Geschichte vom holländischen Strassenmusiker sei eben so eine Geschichte gewesen, die er erzähle, wenn er mit seinem Kumpel unterwegs sei, der im übrigen wirklich aus Holland stamme..
Er hat sie also belogen. Er hat ihr eine Geschichte erzählt. Sie hat ihn auch belogen, hat ihn versetzt und weiss noch nicht einmal eine gute Geschichte zur Begründung. Was wiegt schwerer? Und spielt das überhaupt eine Rolle in diesem Moment? Er ist ein Lügner, ein Geschichtenerzähler, ein Wortmagier. Er erschafft eine neue Realität, bunter, schillernder, spannender als die, in der sie sich normalerweise bewegt. Und er ist ein schöner Mann.
Der Abend vergeht in einem Wirbel von Musik, Worten, Blicken, kleinen, beiläufigen Berührungen, Schmetterlingsflügeln, Euphorie, Sehnsucht nach Nähe und bewusster Distanz, um den Moment zu verlängern, die Vorfreude zu steigern, den Rausch zu vertiefen. Sie sind verrückt. Nicht mehr in dieser Realität und nicht mehr zurechnungsfähig. Als das Lokal schliesst, gehen sie zu ihm und kommen während der ganzen restlichen Nacht weder zur Besinnung noch zum Schlaf.


Fortsetzung folgt...
 
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Steinerner Engel, Fortsetzung

Wenn ich bei der Arbeit am Stein bin, vergeht die Zeit rasch. So rasch, dass ich gar nicht merke, dass ich schon seit drei oder vier Stunden die gleiche Bewegung ausführe.
Ich merke es erst, wenn sich meine Muskeln schmerzhaft zu Wort melden, oder mein Rücken um ein wenig mehr Aufmerksamkeit bittet. Mein Körper bringt mich immer wieder aus der inneren Versunkenheit der Arbeit in die äussere Realität zurück.
Meine körperliche Kraft ist begrenzt. Sie zwingt mich zu Pausen.
Und manchmal geschieht das Wesentliche während der Pausen.


Am nächsten Morgen schwebt sie wie auf Wolken nach Hause. Er hat ihr zwar erklärt, dass er nicht an die Liebe glaube, jedoch an Freundschaft und Zärtlichkeit, aber das ist ihr egal wie sonst was. Was heisst schon Liebe? Was weiss er, was weiss sie schon davon? Und ist es nicht gleichgültig, was sie glauben oder nicht glauben. Ist es nicht viel wichtiger, was sie zusammen entdeckt haben?
Kaum zu Hause, klingelt das Telefon. Er ist dran und macht ihr eine flammende Liebeserklärung, die dermassen übertrieben ist, dass sie lauthals herauslachen muss. Aber er scheint es ernst zu meinen, er, der nicht an die Liebe glaubt. Er will alles noch mal erzählen, was sie zusammen erlebt haben. Er wirbt heftig um sie, er will, dass sie sofort zurück kommt und den Rest ihres Lebens mit ihm zusammen im Bett verbringt.
Sie weiss immer noch nicht, ob das einfach nur ein Spiel ist, oder ob er tatsächlich irgend etwas von dem, was er da von sich gibt, auch so meint. Sie kennt ihn ja eigentlich kaum, auch wenn sie sich noch niemals jemandem so nahe gefühlt hat.
Aber sie merkt, dass sie nun eine Pause braucht, Zeit für sich selber, Zeit, wieder auf den Boden zu kommen, nüchtern zu werden.
Er ist auch furchtbar anstrengend. Er erzählt ihr Dinge, mit denen sie nicht recht umgehen kann. Er sagt grosse, schwere Worte, die in ihrer Absolutheit in Stein gemeisselt zu sein scheinen. Und sie hat noch keine Erfahrung mit Steinen.
Er redet von Einsamkeit und der Suche nach einem Gott, dessen Existenz er für unmöglich hält. Und während er ihr seine Welt erklärt, sehnt sie sich nur nach seiner Haut, seinem Lachen und seiner wilden Zärtlichkeit. Nein, sie braucht unbedingt eine Pause. Bis heute Abend.



Fortsetzung folgt...
 
Steinerner Engel, Fortsetzung

Der Engel ist noch nicht viel mehr als ein grober Schemen, ein Klotz mit Vertiefungen. Er hat noch kein Leben, noch keinen Ausdruck. Seine Oberfläche ist mit Kratern wie Pockennarben übersät, die der Meissel hinterlassen hat.
Mit der groben Raspel beginne ich nun die Oberfläche abzutragen.
Ich modelliere den Stein, versuche, ihm klare Linien und Flächen zu geben.
Es muss noch viel Material weggeschliffen werden, bis der Körper der Figur ganz befreit ist.
Ich bemühe mich, möglichst gleichmässig von allen Seiten her zu arbeiten, mich nicht irgendwo in einem Detail zu verlieren.
Es gibt in dieser Phase der Arbeit nichts Gültiges, Fertiges, Festgelegtes. Alles verändert sich laufend, muss zu einem Gleichgewicht finden. Der ganze Prozess verlangsamt sich immer mehr. Jetzt geht es nur noch millimeterweise voran.
Und der Haufen weissen Staubes auf meinem Tisch wird immer grösser.


In den nächsten Tagen verbringen sie viel Zeit miteinander. Er führt sie in eine neue Szene ein, um die sie bisher einen grossen Bogen gemacht hat. Er zeigt ihr all die Orte, an denen er sich so was wie ein Zuhause, sowas wie eine Familie erschaffen hat. Er, der Wurzellose zeigt ihr, die bisher gedacht hat, mit den Füssen einigermassen am Boden zu stehen, einen Mikrokosmos voller Paradiesvögel und Abgestürzter, voller einsamer Trinker, die die Gesellschaft anderer Einsamer suchen, voller Menschen mit Asche unter der Haut. Es ist ein schmuddeliges Zuhause und eine chaotische Familie, dennoch fühlt er sich hier fast wohl. Hier findet er die Bühne für seine grossen und kleinen Auftritte, hier findet er Mitspieler, die er oft hemmungslos abzockt. Hier findet er auch jede Menge Frauen und alle beherrschen das uralte Balzspiel, auf den Lippen das grösste Versprechen und in den Augen die tiefste Hoffnungslosigkeit.
Ihr bleibt diese Welt fremd, auch wenn sie sich bemüht, sie als Teil von ihm zu verstehen und sie klammert sich an ihn und merkt, wie er ihr selber fremd wird.
Sie begreift dieses Spiel nicht, fühlt sich schon nach einem einzigen Bier betrunken, sitzt daneben, lässt ihn reden und spielen und sehnt sich danach, möglichst bald mit ihm alleine zu sein und den Teil, der ihr so fremd ist einfach auszublenden.
Einmal verabreden sie sich am Theaterbrunnen. Sie ist, wie meistens, zu früh, er kommt wiedereinmal zu spät. Nach einer halben Stunde taucht er auf, kommt strahlend über den ganzen Platz gerannt. In der einen Hand schwenkt er eine graue Anzugsjacke, in der anderen eine Hose der gleichen Farbe. Um seinen Hals hängt eine rote Krawatte. Ein äusserst komisches Bild, das er so bietet, obwohl der arme Kerl, mit dem er den halben Nachmittag gezockt hat, und der nun irgendwo im Hemd da steht, bestimmt noch ulkiger aussieht. Und er freut sich wie ein Scheekönig darüber, einen Banker nachmittags um fünf dazu gebracht zu haben, seine Hose zu verspielen.
Er verliert nie. Er hat immer Glück. Oder vielleicht ist er einfach nur clever genug, die Spiele zu spielen, bei denen er weiss, dass er gewinnen wird.
Den Anzug verschenken sie dem ersten Stadtstreicher, dem sie begegnen. Er steht ihm recht gut. Die Krawatte möchte er nicht haben, das sei nicht sein Stil. Also hängen sie sie der Statue des alten Isaak Iselin um.
Sie sind wiedermal in Hochstimmung. Die Welt gehört ihnen allein, denn sie erfinden sie fortwährend neu und genau so, wie sie ihnen gefällt.
Sie spazieren durch die Stadt, erzählen sich Geschichten, machen beim Brunnen auf dem Münsterplatz eine Wasserschlacht und verbringen eine wortlose halbe Stunde auf der Pfalz. Er hat seinen Kopf auf ihren Schoss gelegt und wirkt so jung und weich. Er sehnt sich so nach Geborgenheit und sie sehnt sich danach, ihm möglichst viel davon zu geben.



Meine Hände tun weh. Die Haut ist an den Fingern rauh und aufgerissen. Ich bin müde und habe das Gefühl, niemals mit dieser Arbeit fertig zu werden. Es geht so furchtbar langsam. Weshalb ist der blöde Stein bloss so hart? Weshalb mache ich das überhaupt?
Ich werfe mein Werkzeug hin, bedecke den Stein mit einem Tuch und wische den weissen Staub auf dem Tisch zu einem grossen Haufen zusammen.
Ich fange an, damit zu spielen, wie ein Kind im Sandkasten. Ich wühle meine brennenden Hände hinein und der Staub mag sie tatsächlich etwas zu kühlen. Ich forme damit Berge und Täler, zeichne mit den Fingerspitzen Muster hinein. Ich drücke ihn zusammen, zerreibe ihn wieder, verstecke immer wieder meine Hände unter ihm.
Wenn mich jetzt jemand sehen würde, hielte er mich vielleicht für ein wenig verrückt und vielleicht bin ich das ja auch in diesem Augenblick.
Aber da ist niemand.
Nach einer halben Stunde bin ich mit dem Stein wieder versöhnt. Ich räume den Staub fort, mache den Tisch sauber, nehme mein Werkzeug wieder zur Hand und schleife Millimeter um Millimeter dem Engel entgegen.


Es gibt romantische Szenen, nachts im Park des Bottminger Schlosses, in denen er ihr geklaute Rosen schenkt. Es gibt den Tag, an dem er eine Rolle Stacheldraht um sein Bett verlegt. Er liest gerade "im Westen nichts Neues" und will mehr Authentizität dabei. Es gibt andere Frauen, die er ihr allesamt vorstellt und dabei immer wieder betont, dass er sie am liebsten von allen hätte.
Manchmal fragt sie sich, weshalb sie die anderen einfach akzeptiert, nicht eifersüchtig wird, ihn nie zur Treue bewegen will. Sie spürt wohl, dass es sowieso keinen Sinn hätte, dass sie ihn niemals festhalten kann, wenn er nicht freiwillig bleiben möchte. Und vielleicht möchte sie auch nur die kostbaren Momente, in denen die Welt um sie versinkt und es nur noch sie beide gibt, nicht mit irgendwelchen Szenen zerstören.
Und dann gibt es immer wieder Zeiten der Fremdheit, in denen sie unter ihrer Wortlosigkeit leidet, in denen sie zweifelt, dass irgendetwas von dem, was sie zu sagen versucht bei ihm ankommt. Zeiten, in denen sie ihn schütteln will, wenn er wieder allzu düster über sich und sein Leben spricht, in denen sie ihn in die Sonne hinauszerren möchte, um ihm all das Schöne zu zeigen, das es doch überall gibt und das er so sträflich verachtet. Aber stattdessen lässt sie sich von seiner dunklen Seite anstecken, beginnt die Welt durch seine Augen zu sehen, nur um ihm nahe zu bleiben. Und statt ihm ihre Sicht der Dinge näher zu bringen, bringt sie oft nicht mehr als eine unsichere Umarmung und ein verunglücktes Lächeln zu stande.
Und dann gibt es den Tag, an dem sie erfährt, dass sie schwanger ist.



Fortsetzung folgt...
 
AW: Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

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Paul Klee: Engel voller Hoffnung
 
Steinerner Engel, Fortsetzung und Schluss

Das Werkzeug wird immer feiner, je mehr ich mich der endgültigen Form des Engels nähere. Nach den groben kommen die feineren Raspeln, gebogene, spitze und runde. Gewisse Stellen sind für die Feilen unerreichbar, dort muss ich mit dem Schnitzmesser weiterfahren. Aber auf keinen Fall mehr schlagen. Der Stein würde bestimmt zerspringen und die ganze Arbeit wäre umsonst gewesen.
Aber es braucht viel Selbstbeherrschung, nicht wieder den Hammer zur Hand zu nehmen. Vielleicht nur für diese eine, kleine Stelle. Es wäre so viel einfacher. Nein, ich lasse es lieber bleiben und wähle die mühsamere Methode.
Es wäre zu schade, wenn dieser Engel zerbrechen würde, noch ehe er fliegen gelernt hat.


Das Wissen, dass da ein Kind in ihr heranwächst, bringt sie schlagartig in die Realität, in ihre Realität zurück. Sie hat es sich gewiss nicht gewünscht und sie weiss nicht, wie und wann es passiert ist. Solche Dinge passieren heute nicht mehr, wenn man aufpasst und alles richtig macht, das hat sie hundert mal gehört. Aber wer macht schon immer alles richtig? Solche Dinge passieren eben manchmal immer noch.
Sie verabreden sich im Café des Arts. Er strahlt und ist gut gelaunt. Macht es das leichter? Egal. Sie sagt es ihm, ohne Umschweife. Sie findet ohne weiteres die richtigen Worte und er sagt ausnahmsweise mal gar nichts, lässt sie reden. Dann, nach einer langen Stille fragt er, ob sie es behalten möchte. Sie versteht erst nicht. Die Idee einer Abtreibung ist ihr gar nicht gekommen. Sie hat sich alles mögliche überlegt, geplant, in Gedanken Szenarien entwickelt mit und ohne ihn. Aber niemals würde sie dieses Kind, das sich sie beide als Eltern ausgesucht hat, einfach wieder zurückschicken.
Sie beginnt ihm von diesem Kind zu erzählen, wie es sein würde, was sie mit ihm alles erleben könnten, wie sie es begleiten, ihm die Welt zeigen würden und mit ihm zusammen die Welt neu entdecken. Sie erzählt, phantasiert, redet sich in eine Begeisterung, die sie bis eben noch gar nicht gespürt hat. Und er hört ihr einfach nur zu, lässt sich von ihr entführen in diesen unverhofften Traum vom einfachen Glück.
Dann lächelt er plötzlich und nimmt sie in die Arme.
"Ja, du kannst das", meint er nur, "und wir werden immer Eltern sein, auch wenn wir vielleicht irgendwann kein Paar mehr sein werden. Und wir werden immer Freunde sein."
Dann steht er auf und verkündet im ganzen Lokal lauthals, dass er Vater werde.



Der Engel hat noch kein Gesicht.
Haltung und Bewegung des Körpers sind klar und alles ist recht gut gediehen. Die Neigung des Kopfes zeigt, wo das Gesicht hingehört.
Erst muss ich mein Schnitzmesser nachschleifen. Ich ziehe die schrundige Klinge über den feuchten Schleifstein bis sie wieder glatt, gänzend und scharf ist.
Ich setze das Messer an und versuche die Konturen von Nase und Stirn zu modellieren. Mehr braucht es nicht, bloss Nase und Stirn.
Das Messer rutscht weg und die scharfe Klinge schneidet tief in meine linke Hand, gleich unterhalb des Zeigefingers.
Ich wickle einen staubigen Lappen um die Hand, damit ich den Stein nicht vollblute. Dann mache ich weiter.
Es tut nicht sehr weh.


Er ändert nichts an seinem Lebensstil. Er versucht es nicht einmal. Er pflegt weiterhin seine diversen Affären, trinkt zu viel, macht die Nacht zum Tag und verschläft die Tage, statt in die Schule zu gehen. Bald wird er dort endgültig rausfliegen, aber was solls. Er findet, er sei eh zu alt für diesen Blödsinn.
Er ist einundzwanzig.
Sie merkt, dass dieses Kind in ihr mehr Aufmerksamkeit fordert. Sie findet es immer anstrengender, bei ihm zu sein, ihm zuzuhören, wenn er endlos über die Welt im allgemeinen und sich im besonderen philosophiert. Sie ist manchmal selber mutlos und traurig und kann nicht mehr der stabile Fels für ihn sein, an den er sich anlehnen kann, sie braucht selber Zuspruch und Ermutigung oder einfach nur die Gewissheit, dass er da ist. Sie erträgt auch die Beizenszene nicht mehr, den Lärm und den Rauch und die Trostlosigkeit. Sie ist oft müde und braucht genügend Schlaf, muss morgens raus und arbeiten gehen.
Doch manchmal ist es wieder so schön wie früher.
Er kocht für sie ein wunderbares Essen, sie hören Musik, lesen sich Gedichte vor, baden zusammen mit viel Gespritze in seiner viel zu kleinen Wanne, setzen das Badezimmer unter Wasser, reiben sich gegenseitig mit wohlduftenden Ölen ein, gehen früh zu Bett und freuen sich, dass es wiedereinmal so schön, so nah und so einfach ist.
Sie schläft bald ein, wacht aber ein paar Stunden später wieder auf, als er ins Zimmer gewankt kommt. Er stinkt nach Rauch und Bier, ist betrunken und hat tiefe Kratzer an Hals und Rücken. Er ist nochmals fort gewesen, ist trinken und tanzen gegangen und hat nebenbei eine Frau kennengelernt, die etwas spezielle Begriffe von Zärtlichkeit hat.
Er lässt sich neben sie ins Bett fallen, dreht ihr den Rücken zu und beginnt sofort zu schnarchen.
Weshalb braucht er das, diese zerstörerische, stinkende, grausame Welt da draussen, weshalb kann er nicht bei ihr in ihrem wohlduftenden Nest voller Geborgenheit bleiben?
Und weshalb braucht sie das?
Sie kuschelt sich ganz nah an seinen Rücken, umfängt diesen übelriechenden, besoffenen, schnarchenden, verlorenen Kerl mit ihrem Arm, macht in dieser Nacht kein Auge mehr zu und kann ihm doch immer noch nicht böse sein.



Der Engel steht vor mir.
Ja, so ist es richtig, Form und Bewegung stimmen.
Mit der rechten Hand fasst er seine linke Schulter, der linke Arm zeigt nach unten, der Kopf ist leicht geneigt.
Er strahlt Ruhe, Konzentration und Demut aus.
Ich habe versucht, auf alle Schnörkel und Verzierungen zu verzichten, auf alles Eitle und inhaltslos Schöne, habe damit gerungen, jede Linie, jede Fläche möglichst einfach und klar zu halten.
Er ist noch nicht fertig, aber ich sehe nun das Ende. Ein paar kleine Korrekturen noch und dann endlich noch feinschleifen und polieren.


Zwei Wochen später eröffnet er ihr, dass er sich verliebt habe. Nicht bloss eine Affäre, wie sonst, diesmal sei es ernst. Und sie akzeptiere keine anderen Frauen neben sich. Sie habe ihn vor die Wahl gestellt, entweder auf sie, oder die anderen zu verzichten.
Sie gehört nun also zu den anderen.
Sie sitzt da, mit ihrem gerade erst runder werdenden Bauch und muss sich anhören, dass eine andere Frau einfach fordert, was sie nie gewagt hätte. Und dass er ihr das bereitwillig gibt.
Sie kann wiedereinmal nichts sagen. Sie fühlt eine furchtbare Kälte in sich hochsteigen, die ihr den Atem nimmt und ihre ganze Existenz auf diesen einen Moment in diesem halbdunklen Zimmer schrumpfen lässt.
Und zum erstenmal hört sie nicht zu ende, was er ihr zu erzählen hat, steht einfach auf und geht. Sie braucht Licht und Sonnenwärme.
Sie geht die halbe Stunde zu sich nach Hause zu Fuss und merkt unterwegs, dass ihre Erleichterung mit jedem Schritt wächst, dass sie sich zum Schluss fast wieder mutig und fröhlich fühlt, dass es wie ein Auftauchen aus einem düsteren Traum ist.
Nun muss sie sich nur noch um sich selber und das Kind kümmern. Sie weiss, dass sie es alleine grossziehen wird, aber das wird auch nicht schwieriger sein, als zusammen mit diesem schwierigen Mann.



Ich schleife den Engel nun noch mit Sandpapier. Erst mir grobem, dann mit immer feinerem. Seine Oberfläche wird glatt und zusehends transparenter.
An den dünneren Stellen scheint die Sonne durch und lässt den Engel wie von innen her leuchten. Das Spiel von Licht und Schatten lässt ihn fast lebendig erscheinen.
Zuletzt stelle ich ihn in ein Becken mit Wasser und schleife ihn noch nass.
Jetzt erst eröffnet sich die ganze Schönheit dieses Steines, jetzt erst im Wasser entwickelt sich der steinerne Engel mit Hilfe des Lichtes zu einem himmlischen Wesen.
Danach wird er noch eingeölt, damit er seinen Glanz behält.
Ich bin zufrieden.


Wo endet die Geschichte? Endet sie, als sie seine Wohnung verlässt um zu sich selber zurück zu finden? Oder bei der Geburt ihres Sohnes? Er hat sein Versprechen gehalten, sie sind Freunde geblieben. Sie hat mit der Zeit sogar seine neue Geliebte gern bekommen.
Er sieht seinen Sohn zu selten, er ist nicht der ideale Vater, den man sich vielleicht wünschen mag. Aber er liebt ihn doch, auf seine komplizierte Weise. Und er ist der einzige Vater, den sie für ihr Kind hat.
Wo endet die Geschichte?
Sieben Jahre später steht sie zusammen mit ihrem Sohn an einem Bergsee und streut Asche ins Wasser. Er hat sich das so gewünscht. Kein Grab, kein grosses Theater zum Schluss.
Wo endet die Geschichte?
Sie muss hier enden, damit etwas Neues beginnen kann.



Elf Alabasterblöcke liegen noch in meinem Keller und warten auf ihre Metamorphose.
Elf weitere Steine, die ich mit Säge, Meissel, Raspel, Schnitzmesser und Schleifpapier dazu bringen möchte, ihre verborgene Figur zu offenbaren.
Die Worte ziehen sich allmählich zurück, kriechen spärlicher in mein Bewusstsein, machen sich rar.
Eine Geschichte ist erzählt.
Jetzt müssen wieder nur die Steine sprechen.


-ENDE-​


Vielen Dank allen, die bis hier gelesen haben.
Ela :blume1:
 
AW: Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

17446.jpg
Paul Klee - Es weint

auch Engel dürfen mal weinen....


klee4.jpg

Paul Klee - Angelus Novus​

Liebe Ela, ich wünsche dir, dass noch viele neue Engel entstehen.

Danke dir vorerst - muss über deine schöne und auch traurige Geschichte noch nachdenken...

Allerliebste Grüße

Miriam
 
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AW: Steinerner Engel - eine Liebesgeschichte

Liebste Ela,

ich habe etwas Zeit vergehen lassen um über deinen Text einiges zu schreiben. Mit dem Inhalt möchte ich mich nicht so auseinandersetzen – nur soviel: es ist eine berührende Geschichte, die trotz ihrer Melancholie oder sogar Traurigkeit, nicht traurig stimmt. Denn es ist beides dabei: es annehmen, ich meine damit die Erzählerin die es annimmt, – aber auch sich von der Liebesgeschichte, die ja so wie viele Liebesgeschichten halt traurig ist, sich nicht in seiner eigentlichen Substanz unterkriegen zu lassen. Dafür sorgt ja diese andere Eben die fortgeführt wird, die keine Störung erfährt. Die Steine und die daraus entstehenden Engel.
Es entstehen Engel während im eigentlichen täglichen Leben man sich für die Erzählerin einen Schutzengel wünschen würde. Doch ich denke, den schafft sie sich selber – ohne der Absicht wirklich einen Schutzengel zu meißeln.

Was mich sehr beeindruckt ist dein Erzählen auf zwei Ebenen. Die Ich-Ebene die minutiös uns die wunderschönen Alabasterblöcke beschreibt, die Ich-Erzählerin die uns auch von Anfang an warnt: sie ist nicht die Schöpferin, sondern die Dienerin:

Die Steine offenbaren mir ihre Gestalt. Ich bin nicht ihre Schöpferin, sondern ihre Dienerin, die versucht, die innere Essenz herauszuschälen, Schicht um Schicht abzutragen und zur Seele des Steines zu gelangen. Zumindest zu der Seele, die er mit meiner Hilfe offenbaren will.
.

Und ich möchte es wiederholen: "Zumindest zu der Seele, die er mit meiner Hilfe offenbaren will". Mir scheint dieser Satz so wichtig und auch sehr bezeichnen für dich. Nicht mehr fordern als einer offenbaren will oder geben möchte – hier ist es der Stein, doch ist es nicht auch auf der anderen Ebene der Erzählung der Mann der ja auch nicht mehr geben soll als er will?

Dann also diese zweite Ebene – und dies gefällt mir besonders gut – die wird doch auch von derselben Person erzählt. Aber in der Form der dritten Person. Es wird auf dieser Weise nicht nur zwischen den Ebenen unterschieden, sondern auch deutlich gezeigt so habe ich es zumindest aufgefasst, wo mehr Distanz zwischen der Erzählerin und dem Leser gewahrt werden sollte. Eine sehr angenehme Distanz, die keinem Voyeurismus Platz gewährt – und doch geht einem die Geschichte sehr nah.

Ich habe sicherlich Vieles vergessen was ich noch dazu sagen wollte – und werde mich nochmals melden, vielleicht morgen.

Doch da ich sagte, dass ich manches vergessen habe, folgt natürlich einer meiner liebsten Engel:



Paul Klee - Vergesslicher Engel

Ela, ich danke dir sehr für deine schöne Erzählung. Sie kommt zu einer Zeit in der man sich immer wieder die Frage stellen muss ob es noch lohnt in diesem Forum zu schreiben.
Du hast - für mich jedenfalls - die Antwort darauf gegeben.

Sehr liebe Grüße

Miriam



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