Kirche der Lügen
Von Rapp, Tobias
Vor anderthalb Jahren verließ der Oscar-Preisträger Paul Haggis die Scientologen. Jetzt packt er aus. Sein Bericht zerstört den bizarren Gründungsmythos der Sekte.
Es ist wie in der Geschichte vom Flügelschlag eines Schmetterlings, der einen Orkan auslösen kann, hier steht am Anfang ein knapper Brief. Am Ende könnte dieses Schreiben die mächtige Sekte der Scientologen in eine tiefe Legitimationskrise stürzen.
Den Brief schreibt der amerikanische Regisseur, Drehbauchautor und zweifache Oscar-Preisträger Paul Haggis ("L. A. Crash") Mitte August 2009 an Tommy Davis, den Sprecher der Church of Scientology. Nach 35 Jahren Mitgliedschaft in der Kirche erklärt Haggis seinen Austritt.
Haggis und Davis haben sich in den Wochen davor über einen Volksentscheid gegen die Schwulenehe gestritten, der in jenem Sommer in Kalifornien ansteht. Haggis hat zwei lesbische Töchter und fordert von seiner Kirche ein Bekenntnis zu Homosexuellen. Davis lehnt ab.
Haggis ist ein wichtiges Mitglied der Kirche. Er ist nicht ganz so prominent wie Tom Cruise, John Travolta oder der Sänger Beck, aber beinahe. Haggis lässt seinen Brief nur unter seinen Freunden kursieren. Aber er hat späte Folgen.
27 Seiten umfasst das Porträt, das der Journalist Lawrence Wright für die aktuelle Ausgabe des amerikanischen Wochenmagazins "The New Yorker" über Paul Haggis und seinen langen Abschied von den Scientologen geschrieben hat. Der Artikel zeichnet die Geschichte eines Mannes nach, der zuerst das Vertrauen in seine Kirche und dann seinen Glauben an deren Werte verliert. "Jeder andere konnte es sehen", sagt Haggis, "ich habe keine Ahnung, warum es mir nicht gelungen ist."
Natürlich handelt Haggis' Geschichte auch von der Macht der Scientologen in Hollywood und ihren prominenten Mitgliedern. Und sie handelt vom Druck, den die Sekte gegen Aussteiger ausübt.
Auch Haggis rechnet mit Konsequenzen. "Diese Leute haben ein gutes Gedächtnis. Ich bin mir sicher, dass ich irgendwann in den nächsten zwei Jahren mit einem Skandal in Verbindung gebracht werde, der aussieht, als ob er nichts mit der Kirche zu tun hätte."
Als Haggis, 57, der Sekte beitrat, war er 22 Jahre alt. Damals lebte er in der Provinz und war ein erfolgloser Autor mit Beziehungsproblemen. Scientology half ihm und seiner Frau, sie zogen nach Los Angeles, und parallel zu seiner Karriere als Drehbuchautor stieg Haggis in der Kirche auf. Er schaffte es bis zum Operating Thetan VII, der höchsten Eingeweihtenstufe.
Manchmal habe er Zweifel gehabt, sagt Haggis. Vor allem, als er nach einigen Jahren Mitgliedschaft zum ersten Mal mit der Scientologen-Kosmologie konfrontiert worden sei, dem Glauben, Außerirdische hätten etwa vor 75 Millionen Jahren, um die Überbevölkerung der Erde zu beenden, Frühmenschen in Vulkane gesteckt und mit Atombomben beworfen. Danach, so die bizarre Theorie, sollen sich die Seelen von ihren Körpern gelöst haben und auf eine Wanderschaft gegangen sein, die angeblich bis heute andauert.
Ähnlich verworren ist der Ur-Mythos der Sekte. Ihr Gründer, L. Ron Hubbard (1911 bis 1986), hatte behauptet, die Church of Scientology 1954 erschaffen zu haben, nachdem er im Winter 1945 in einem Krankenhaus der US-Armee eine schwere Kriegsverletzung auskurierte. Er habe vorübergehend sein Augenlicht verloren und in der Dunkelheit all jene Psycho-Techniken entwickelt, mit denen er zuerst sich selbst heilte und dann die Welt beglückte. 1950 veröffentlichte er sein Buch "Dianetics", in dem er seine Methoden beschrieb.
Diese Erlebnisse, so Lawrence Wright, gab es nie. Auf ihnen basiert jedoch der Gründungsmythos von Scientology.
Hubbard war zwar Soldat, soll aber nie so schwer verwundet worden sein wie behauptet. Die Orden, die er angeblich für seine Tapferkeit bekommen haben soll, gab es zum Teil noch gar nicht, als er im Dienst war, oder es gibt sie überhaupt nicht. Die Krankenakte, auf die Scientology sich beruft, ist nach Wrights Recherchen offensichtlich gefälscht.
Auch die Geheimdienstvergangenheit, mit der sich Hubbard brüstete, gab es laut Wright nie. Der Sekten-Chef hatte behauptet, eine Satanistengruppe im Auftrag des Marinegeheimdienstes infiltriert zu haben.
Hubbard war wahrscheinlich nur ein geschickter Science-Fiction-Autor, dem es gelang, seine Weltbeherrschungsphantasien in eine ganz eigene Realität umzusetzen - ein charismatischer Wirrkopf wie fast alle Sektenführer. Die Enthüllungen über die angeblichen Lügen und Fälschungen, auf denen ihr Gründungsmythos basiert, dürften der Sekte langfristig mehr schaden als alles, was bisher über Scientology ans Licht kam.
Scientology streitet die Behauptungen ab. Allerdings steht sie unter Druck. Eine Kirche oder Sekte funktioniert niemals ohne einen Gründungsmythos. Ohne das Versprechen, Zugang zu einer geheimen Wahrheit zu erlangen.
Paul Haggis hat lange daran geglaubt. Er ist einer dieser Hollywood-Kreativen, wie sie wahrscheinlich zu Hunderten Mitglieder der Church of Scientology sind. Die Sekte gibt ihnen Halt und hilft ihnen mit ihren teuren Psycho-Trainings, das Gehirn auf Erfolg zu programmieren. Sie fühlen sich nicht mehr einsam im Haifischbecken der Filmindustrie, gibt es Probleme, geht's ins Celebrity Center.
Scientology bietet zunächst einmal das sogenannte Auditing, eine elektronisch unterstützte Gesprächstherapie. Sie soll helfen, den Kopf freizubekommen - nichts, was über den ideologischen Überbau einer Yoga-Unterrichtsstunde hinausginge. Ideal für die fragilen Persönlichkeiten, die im unberechenbaren Karriere-Auf-und-Ab der Traumfabrik nicht den Verstand verlieren wollen.
Scientology bestreitet, gezielt Prominente anzuwerben. Die Premium-Behandlung, die sie ihnen bietet, spricht allerdings eine andere Sprache. Tom Cruise macht dabei eine besonders erbärmliche Figur. Ihm sollen Scientology-Mitglieder als Arbeitskräfte zur Verfügung gestellt worden sein, schreibt Wright, die für einen Hungerlohn die Holzverkleidung im Innenraum seines Geländewagens überarbeiten mussten, seinen Flugzeughangar renovierten und Motorräder mit Lackierungen versahen - angeblich Geschenke des Scientology-Chefs David Miscavige. Scientology und Cruise bestreiten all das. Unstrittig ist, dass die beiden Scientologen eng befreundet sind.
Miscavige, 50, ist der Nachfolger von L. Ron Hubbard. Zahlreiche ehemalige Scientologen werfen ihm vor, ein geheimes Luxusleben zu führen und die Kirche wie ein Autokrat zu leiten. Einige behaupten, von ihm geschlagen worden zu sein. Auch das bestreitet Scientology und bietet Zeugen auf, die ihre Version stützen.
Überhaupt bestreitet die Sekte fast alles, was Wright herausgefunden hat - was nichts an seiner Glaubwürdigkeit ändert. Der Journalist hat ansonsten mit Geheimdiensten und Terroristen zu tun. Sein Werk "Der Tod wird euch finden" zählt zu den besten Büchern, die über al-Qaida und die Vorgeschichte der Anschläge vom 11. September geschrieben wurden.
Angeblich ermittelt jetzt das FBI auch im Fall der Scientology. Wright schreibt, es untersuche die Aktivitäten von "Sea Org", einer Kaderorganisation. Die Vorwürfe lauten auf Menschenhandel, Freiheitsberaubung und Sklaverei. Die Sekte bestreitet das und will von Untersuchungen nichts wissen. Das FBI erklärte gegenüber dem SPIEGEL: "Wir können Ermittlungen weder bestätigen noch dementieren."