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Sagen Sie nicht, dass es so etwas nicht gibt,

katharina

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4. März 2003
Beiträge
118
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Katharina



Sagen Sie nicht, dass es so etwas nicht gibt,


und glauben Sie noch weniger, dass es Ihnen nicht auch passieren könnte, dass Sie eines Abends die Zeitung aufschlagen (in der Früh haben Sie keine Zeit gehabt, verschlafen, nur schnell den Kaffee hinunter geschüttet, Sie wissen, was ich meine), und zwischen Extrawurstbrot und einem Achterl Rot schaut Ihnen auf einmal Ihr eigenes Gesicht entgegen. Das glauben Sie zumindest im ersten Moment, aber dann fällt Ihnen ein, dass Sie ja keine berühmte, ja noch nicht mal eine bekannte Person sind, Sie wissen also sehr schnell, dass das nicht Ihr Gesicht sein kann, aber trotzdem: dieselbe hohe Stirn, dasselbe etwas zu weich geratene Kinn, die schmalen Augen und der volle Mund. Sogar die kleine Pockennarbe neben dem linken Auge: alles ist da. Natürlich suchen Sie jetzt den Text zu dem Bild, aber es gibt keinen Text.

Glauben Sie ja nicht, ich phantasiere Ihnen da was vor, auch wenn das alles völlig unglaubwürdig klingt – Welche Zeitung druckt Bilder und schreibt nicht die kleinste Zeile Text dazu? –, es war nun einmal so, da kann ich Ihnen nicht helfen. Und wenn Ihnen das passiert, dann werden Sie haargenau dasselbe tun, was ich getan habe, denn so ein Erlebnis ist ja ein ziemlicher Schock, eine Erschütterung, wenn Sie wissen, was ich meine, und Sie werden es spätestens dann wissen, wenn es bei Ihnen so weit ist: in Krankenstand gehen und in der Redaktion der Zeitung herumlungern. Zum Beispiel als Lehrer, der etwas für den Medienunterricht in Erfahrung bringen will (eine Exkursion vorbereiten zum Beispiel, mit dem Zuständigen für Schülerbetreuung reden,...). Sie werden, genau wie ich es getan habe, Augen und Ohren offen halten (auch Sie: kein Text! Kein Wort also über dieses Foto!). Wie ich werden auch Sie von keinem der Redakteure mit diesem Foto in Verbindung gebracht werden (Die schauen sich Ihre eigene Zeitung nicht einmal an!, das werden auch Sie sich denken) und plötzlich werden Sie, als Ihr Blick verstohlen über die Pinwände streift, die über den Schreibtischen angebracht sind, das Foto sehen. Der Schreibtischsessel an diesem Arbeitsplatz ist leer (vielleicht dreht sich der Sessel noch, wenn Sie dort sind, bei mir ist er still gestanden), Sie werden erkennen können, dass dort jemand mitten unter der Arbeit aufgebrochen ist. Am Bildschirm läuft der Bildschirmschoner (ein Delfin, der durch die Wasseroberfläche stößt), neben der Tastatur liegen verschiedene Zettel, auf der Pinwand hängen jede Menge Listen und Kärtchen, Redaktionstermine, Telefonnummern, kleine Werbegeschenke an bunten Schnüren, ein paar Fotos und auf einem dieser Fotos werden Sie sich abgebildet finden. Sie werden sich umgehend auf „mein Doppelgänger“ korrigieren, nicht nur, weil Sie ja Lehrer sind und Ihnen das Korrigieren im Blut liegt, sondern weil Sie sich nicht unterkriegen lassen wollen. Aber da wird der Kerl, der Sie zum Schülerverantwortlichen bringen soll (sein Name wird Ihnen schneller entfallen sein, als er ihn gesagt hat), schon bemerkt haben, dass Sie ihm nicht mehr folgen (nicht mehr auf den Fersen folgen), er wird sich umgedreht haben, zu Ihnen zurückgegangen sein und gesagt haben: „Ist ein ganz normaler Arbeitsplatz, kommen Sie, ich zeige Ihnen den Raum für die Redaktionsbesprechungen.“ Sie werden nicht anders können, als ihm zu folgen. Einen Blick werden Sie noch über die Schulter werfen, hin zur Tür, aber der Mann mit Ihrem Gesicht kommt nicht herein. Nicht gerade und nicht zufällig, sondern ganz einfach gar nicht. Sie lassen also die öden Erklärungen des Redaktionsheinis über sich ergehen und nicken alle drei Minuten interessiert. Endlich wird ihm dann nichts mehr einfallen, der wirklich Zuständige wird aber immer noch keine Zeit haben.
„Bei uns ist heute mehr los als normal“, wird der Redaktionsheini schließlich sagen und er wird um Nachsicht bitten, denn normalerweise klappe bei ihnen immer alles wie am Schnürchen und die Betreuung der zukünftigen Zeitungsleser liege ihnen wirklich sehr am Herzen. „Aber“, wird er dann sagen, „heute ist was Blödes passiert, da ist ein Foto in die Wien-Ausgabe gerutscht, das gar nicht dort hineingehört, und jetzt ist der Teufel los.“
Jetzt werden Sie aber hellhörig werden. Ganz, ganz hellhörig werden Sie werden und mit möglichst beiläufiger Stimme werden Sie nachfragen, was das denn für ein Foto gewesen sei und wie das gehen könne, dass es einfach so zwischen die Artikel rutsche. Der Redaktionsheini wird zuerst einmal nichts Genaues wissen. „Machen wir uns doch nichts vor“, wird er auch zu Ihnen sagen. „Sowas passiert den besten Leuten“, wird er also sagen und Sie werden zustimmend nicken, um ihn bei Laune zu halten. „Und das Foto?“, werden Sie aber trotzdem und genauso wie ich insistieren, „Wer ist da eigentlich drauf?“, und der Redaktionsheini, Herr Mitterlehner heißt er, sein Name wird Ihnen einstweilen eingefallen sein, Herr Mitterlehner wird Ihnen also sagen, dass es sich peinlicherweise um sein eigenes Foto handle. Er habe am Morgen verschlafen, nur schnell den Kaffee hinuntergeschüttet, Sie wüssten doch, was er meine, und dann habe er in der Schludrigkeit dieses Morgens sein Foto in die Zeitung kopiert statt in das Mail, das er eigentlich ... Wie ich werden Sie hier nicht mehr zuhören, das wird Sie alles nicht interessieren, denn Sie werden – wie ich – absolut entsetzt sein, dass Ihnen die ganze Zeit über nicht aufgefallen ist, dass dieser Herr Mitterlehner Ihnen wie aus dem Gesicht geschnitten ist. Sie werden seine Gesichtszüge jetzt aber umso genauer studieren – er wird ohnehin so in seine Rechtfertigung vertieft sein, dass er Ihre Blicke nicht bemerken wird, er wird über dieses Mail an die Kollegin palavern, sie sitze dort, wo Sie sich zuvor länger aufgehalten hätten, das Ganze hätte eigentlich ein Scherz sein sollen, ...– und jetzt werden Sie es ganz deutlich sehen: dieselbe hohe Stirn, dasselbe etwas zu weich geratene Kinn, die schmalen Augen und der volle Mund. Sogar die kleine Pockennarbe neben dem linken Auge. Sie werden sich – Achten Sie darauf! – unwillkürlich mit der Hand ins Gesicht fahren, als ob sich diese unglaubliche Ähnlichkeit so verwischen ließe – Sie lässt sich nicht verwischen, glauben Sie mir –, und irgendwann wird dieser Mitterlehner mit seinem Gerede fertig sein. Sie werden wie ich jetzt keine Zeit mehr haben, Sie werden ein anderes Mal kommen, um Genaueres wegen des Redaktionsbesuches auszumachen. Sie werden schauen, dass Sie davon kommen, bevor noch irgendjemandem außer Ihnen auffällt, dass es Ihr Gesicht doppelt gibt.

Sie werden geduckt nachhause gehen wie einer, der etwas ausgefressen hat, Sie werden die Zeitung abbestellen und einige Wochen lang eine kräftige Identitätskrise auszustehen haben. Aber seien Sie beruhigt, denken Sie daran, wenn Sie vor dem Fernseher hocken oder vor der Spielkonsole und es gar nicht lustig finden, nichts anderes zu tun, als vor dem Fernseher oder der Spielkonsole zu hocken: es geht vorbei. Denn wie ich werden Sie nach ein paar Wochen in den Spiegel schauen und da wird auf einmal nicht mehr dieser Mitterlehner herausschauen, sondern jemand mit einem kräftigen Doppelkinn und mit ziemlich runden Backen, Schweißtröpfchen werden über den Lippen stehen, die wie erschrocken ins Gesicht zurückgewichen sein werden. Die Augen werden fast nicht mehr zu sehen sein und auch die Pockennarbe werden Sie nur noch erahnen können. Große Erleichterung wird Sie überkommen und wie mich wird es Sie einen Dreck scheren, wenn Sie Ihre Kollegen mit besorgten Gesichtern empfangen, weil man Ihnen die lange Krankheit halt ansieht. „Teigig“, werden Sie sie tuscheln hören. „Das kommt von den Medikamenten“, werden Sie sie hören, aber diese Irrtümer werden Sie kalt lassen. Sie werden darüber nur lächeln und nicht einmal dieses Lächeln werden Ihre Kollegen sehen, weil es in Ihrem neuen Gesicht verschwunden sein wird.
 
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>katharina

Die Geschichte finde ich
orthografisch und grammatikalisch ..... sehr gut
stilistisch ...... sehr gut
inhaltlich ...... recht originell​
Bedeutet die Sie-Form, dass Sie (Du) auf die Sie-Form bestehen ?

Viele Grüße

Zeili
 
danke zeiliger, das finde ich sehr nett, dass du geantwortet hast!

und nein, ich verkehre in den foren nicht per Sie, es bin ja auch nicht ich, von der der text handelt, aber wenn ich es so recht bedenke, ... muss mal schnell zeitunglesen gehen!

;)

liebe grüße
katharina
 
Versuch einer Besprechung


Das Motiv des Doppelgängers als Grenzerfahrung gestaltet. Dies Etikett verleihe ich demText.

Beängstigend dicht klebt sich das Geflecht von genauesten Schilderungen realer Umwelt und langsamem Abdriften ins irreal Gespenstische von Beginn an an den Leser.

Der Plot ist kurz:

Der Icherzähler, ein Lehrer, erblickt sich eines Abends als Foto ( Abbild) in seiner Tageszeitung. Keine Kommentierung, kein Text.Er meldet sich am nächsten Tag krank und geht der "Sache " nach, nämlich in die Reaktion. Ein Vorwand ist schnell gefunden: für Schüler eine Redaktionsführung organisieren.
Der Icherzähler erschrickt ein zweites Mal: der Redakteur weist auf ein Foto, das ihn darstellt, und plaudert charmant von dem "Unfall " des gestrigen Tages, bei dem irrtünlich sein Bild anstelle etwas anderem in die Zeitung kopiert wurde.
Es stellt sich heraus, dass auch das stimmt. Der Icherzähler und der Redakteur sind einander wie aus dem Gesicht geschnitten.Gleichsam als Steigerung des Schreckens wird der Icherzähler mit seinem lebendigen Abbild konfrontiert.Verunsichert geht er nach Hause, steht eine Identitätskrise durch - bis er eines Tages sein Spiegelbild nicht mehr mit dem Bild seines Doppelgängers verbinden kann.Er ist äußerlich ein anderer geworden.

Die Autorin wendet zahlreiche sprachliche Verfahrensweisen an, um im Leser sowohl Anteilnahme bis zum gefühlten Selbsterlebnis als auch Befremden bis zum Grauen zu evozieren.

Einge sollen aufgezeigt werden:

Schon im Titel: Sagen sie nicht... spricht der fiktive Icherzähler seine Zuhörer direkt an, bietet scheinbar sofort Möglichkeiten zum Widerspruch, zur aktiven Kommunikation.Aber eigentlich ist Widerspruch nicht möglich, denn der Sprecher verneint die Möglichkeit des Nicht- so- Handelns des Lesers wie er es bestimmt.

Sagen sie nicht, glauben sie nicht -----

Und dann zieht er quasi als Beweisführung den Leser in den Prozess des Entfremdens hinein. Die Zeitformen Futur und Futur exakt in der Höflichkeitsform suggerieren dem Leser das schreckliche Erlebnis als eines, ihm durchaus künftig mögliches. " Und sie werden es spätestens dann wissen,wenn es bei ihnen so weit ist" ( Zitatende)
Und damit wird aber die Frage nach der Selbstfindung im Doppelten vom Icherzähler auf den Leser übertragen. Ängstlich wird sich der nach dem Lesen des Textes im Spiegel beschauen und sich fragen: " Bin ich es oder bin ich ein anderer?"

Sprachlich stilistisch ist der Text ganz im assoziativen Stil des österreichischen schwarzen Humors gehalten.
Es wird alles erwähnt, begründet, kommentiert. Aber gerade dieses flüchtig schnelle Erwähnen drückt das Getriebensein des Icherzählers aus und gleichzeitig eine gewisse ironische Distanz.Als Beispiel möge die öftere Verwendung der Aufzählung von " Unwichtigem" - also die Verwendung des Prinzips der Unangemessenheit - als Mittel, ironische Distanz zu üben, dienen.
Wenn " am Bildschirm der Bildschirmschoner ( läuft) ... neben der Tastatur verschiedene Zettel ( liegen), auf den Pinnwand jede Menge Listen,Kärtchen und ,und ,und hängen, drückt das zwar einerseits die hastige Suche des Icherzählers nach sich selbst aus,andrerseits aber auch die Tatsache, dass der Mensch sogar in existenzieller Unsicherheit banal ist, Banales wahrnimmt.


Und genau hier will ich meine Deutung schließen:
Mitten im Banalen, Alltäglichen wandeln wir uns. Vom Doppelgänger - das Ich gesehen als anderes , die Objektivierung des Subjekts als intrapersoneller Vorgang- bis zum neuen Gesicht.
Es bleibt für mich offen, ob dieses dann das wahre ist.

Marianne
 
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liebe majanna,

wie es jüjü ja schon geschrieben hat: wenn man einem leser beim lesen gewissermaßen über die schulter schauen darf und wenn dieser leser sich dann auch wirklich mit dem gelesenen auseinandersetzt, dann ist das der schönst lohn fürs schreiben. getoppt natürlich noch davon, wenn dieser leser dann zu schlüssen kommt, die man als zu seinem text stimmig empfindet.
vielen dank!

ich finde meine überlegungen zu diesem text in deiner besprechung wieder, das freut!
besonders gefreut habe ich ich darüber, dass die (ja denn doch eher verborgen angelegte) ebene der distanzierung offenkundig doch zu erkennen ist. weil der text ja (zumindest von meiner absicht her) einer ist, dessen erzählstrategie dahin geht, die offenliegende erzählhaltung des ich-erzählers auch zu unterwandern. eben duch leise ironische anklänge, aber auch durch diese, ja durchaus penetrante forderung, bzw. prämisse des ich-erzählers, dass es dem leser genauso erginge. denn wollte ich tatsächlich nur (im sinne von ausschließlich) indentifikationslesen herstellen, dann dürfte ich das nicht so anlegen, der offene hinweis, dieses diktatorische einfordern hemmen die identifikation ja.

liebe grüße
katharina
 
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