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PISA ist keine "Schulleistungsstudie"

Corsario

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6. Dezember 2007
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248
:geist:PISA testet 15-Jährige in der OECD. Dort herrscht Schulpflicht, also sind sie Schüler. Aber sind sie nichts als DAS?
Im Jahr 2000, als die erste PISA-Studie erschien, haben sie nach einer erste Schrecksekunde alle munter drauflos gequatscht. Ihre Kenntnisse bezogen sie aus zweiter, dritter, vierter Hand. Den ganzen, genau einen Kilos schweren Wälzer selber lesen? Dafür hat deutsche Lesekompetenz nicht gereicht.

Den Vogel schoss seinerzeit die rheinland-pfälzische Bildungsministerin Doris Ahnen ab, zu allem Überfluss damals Vorsitzende der Kultusministerkonferenz KMK, indem sie (in einem Zeitungsbeitrag, den vielleicht nicht selber verfasst, aber selber namentlich gezeichnet hatte) PISA als eine "Schulleistungsstudie" bezeichnete. Dabei hatte das deutsche PISA-Konsortium von Anfang an gewarnt: „Aufgrund der Schwierigkeiten, die verschiedenen Formen der Schul- und Unterrichtsorganisation adäquat zu erfassen, ist es nicht möglich, eindeutige Aussagen zu ihrer Bedeutung für die Entwicklung der Schülerleistungen zu machen.“ Namentlich zu Themen wie Ganztagsschule oder gegliedertes Schulsystem kann diese Untersuchung nichts beisteuern.

PISA fragt nicht schulische Kenntnisse ab. Zwar wird uns jede beliebige TV-Rateshow von den Programmmachern als "Pisa-Test für Erwachsene" präsentiert. Aber der Studie selbst ging es vielmehr darum, das zu erfassen, was sie immer und immer wieder als Kompetenzen zur "Welterschließung" bezeichnen: das Vermögen, sich von der Welt ein 'Bild' zu machen und – sich darin zurecht zu finden! Dabei spielt Faktenwissen offenbar eine Rolle. Aber letzten Endes kommt es darauf an, wie man mit diesen Kenntnissen im Leben anfängt; und DAS will PISA mit subtilen (wenn auch nicht unumstrittenen) Testbögen herausfinden.

Und bei der Entwicklung von Fähigkeiten zur "Welterschließung" spielt die Schule offenbar auch eine Rolle; wozu bräuchte man sie sonst? Aber ebenso offenbar nicht die einzige, und, nach gesundem Menschenverstand zu urteilen, nicht einmal die Wichtigste. Die große, wegweisende Weichenstellung leistet das gesamte kulturelle Umfeld, in die ein Mensch hineingeboren wurde. Ist es reich, ist es dürftig; ist es anregend, ist es langweilend; ist es rückwärts gewandt und selbstbezogen, oder ist es optimistisch und blickt erwartungsvoll in die Zukunft? Denn in diese Behausung ist die Schule, sind die Menschen, die in ihr lehren und lernen, selber eingebettet. Wie schlau immer die "Strukturen" sein mögen, wie "effektiv" immer die "Methoden" seien, die zur Anwendung kommen – besser als der kulturelle Rahmen, aus dem sie stammen und in den sie gehören, werden ihre Leistungen nicht ausfallen. Die Schule ist vielmehr eine Resultante der jeweiligen Nationalkultur als ihre Determinante. Dass sie zur Weltveränderung selber viel beitragen könnte, ist ein aufklärerisches Ammenmärchen aus dem achtzehnten, neunzehnten Jahrhundert.

Ein viel zu wenig beachteter Fall ist das Abschneiden BELGIENS in der Studie von 2000 im Feld 'Lesekompetenz'. Damals belegte das Königreich den elften Platz, also grad noch im oberen Drittel. (Deutschland belegte bekanntlich den einundzwanzigsten Platz – schon im untersten Drittel.) Doch Belgien hat eine nach den Sprachgrenzen bestimmte föderale Verfassung. Flandern und Wallonien wurden außerdem nochmal separat erfasst. Und siehe da: Für sich genommen, läge der germanophone flämische Landesteil auf Platz drei der internationalen Rangliste, aber der frankophone wallonische Teil noch hinter Deutschland nur auf Platz fünfundzwanzig - mit demselben Schulsystem!

Denn die Schule hat sich in beiden Landesteilen seit der Regionalisierung hinsichtlich ihrer Organisationsformen nicht geändert. Sie kann nicht schuld sein. Der wahre Grund liegt auf der Hand. Wallonien war Jahrhunderte lang der wirtschaftlich, politisch und kulturell entwickeltere Landesteil und der Born belgischer Identität. Es wurde geprägt von einer liberalen Großbourgeoisie und einer sozialistischen Arbeiterbewegung. Wallonien hieß Industrie und Fortschritt. Flandern war sein ländlich-klerikal-bornierter Hinterhof. Das hat sich seit der Stahlkrise der Siebziger radikal umgekehrt. Wallonien steht für Niedergang, Arbeitslosigkeit und Vorgestern. Das jungfräuliche Flandern hat die Zukunft für sich entdeckt und glaubt an die Neuen Technologien. In keinem Berufsstand spricht sich aber der Zeitgeist so unverhohlen aus wie in der Lehrerschaft. Und in keiner Altersgruppe so lautstark wie bei den Fünfzehnjährigen. Die hat PISA geprüft.

In diesem Lichte war die ein Jahr später erschienene nationale Ergänzungsstudie über die deutschen Bundesländer zu lesen! Was den Belgiern ihr Wallonien, ist uns Deutschen das Ruhrgebiet, und unser Flandern heißt Bayern und Württemberg. Mit dem Parteibuch der jeweiligen Kulturminister dürfte die Rangordnung bei uns weniger zu tun haben als mit unserer kulturellen Geschichte. (Aber umgekehrt wird vielleicht ein Schuh draus.)

Die in diesen Tage veröffentlichten neuen PISA-Daten ergeben für Deutschland ein etwas günstigeres Bild als die von 2000. Nach dem naturwissenschaftlichen Weltverständnis liegen die fünfzehnjährigen Deutschen im internationalen Vergleich auf Platz dreizehn; nicht so schlecht! Ob das aber eine Verbesserung gegenüber 2000 darstellt, kann man nicht wissen, denn danach wurde damals nicht gefragt. Gefragt wurde auch diesmal nach der 'Lesekompetenz' und nach der 'mathematischen Welterschließung'. Und da sind unsere von interessierter Seite aufgebauschten Fortschritte so geringfügig, dass sie noch innerhalb der statistischen Fehlermarge liegen – denn diesmal wurden nur Stichproben gezogen, während die Erhebung von 2000 allgemein war: Die Resultate lassen sich nur 'ungefähr' vergleichen. Und ungefähr sind wir da, wo wir schon waren…

:geist:Eine quellenbezogene Einführung in das PISA-Projekt unter:
http://groups.google.de/group/jochenebmeierpisa?hl=de
 
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