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Novembergeschichte von Ela

AW: Novembergeschichte von Ela

11. Zerronnen​

Flurina läuft wie im Traum durch die Strasse. Sie hat tatsächlich eine Eisblume bekommen! Was wird ihre Freundin dazu sagen?
Eigentlich ist es ja gemein von Flurina gewesen, dass sie diesmal diesen Scherz ohne sie gemacht hat, denn normalerweise gehen sie immer zu zweit in die Geschäfte. Und ihre Freundin ist vielleicht jetzt sauer auf sie. Vielleicht sollte sie ihr deshalb gar nichts davon erzählen und am nächsten Tag noch einmal mit ihr zusammen hingehen und so tun, als sei es auch für sie das erste mal? Und dann das überraschte Gesicht der Freundin sehen, wenn der alte Mann sagt: "Aber ja, natürlich haben wir Eisblumen, komm nur und schau sie dir an!"
Aber irgendwie merkt sie, dass sie ihr diese Eisblume unbedingt zeigen möchte. Es ist so speziell und so sonderbar, dass sie platzen würde, wenn sie bis morgen damit warten müsste.
Also geht sie an ihrem eigenen Haus vorbei und macht sich sofort auf den Weg zur Freundin, die am anderen Ende der Strasse wohnt.
Dort angekommen, klingelt sie und die Mutter der Freundin macht ihr auf. Sie sagt, ihre Tochter sei noch in der Klavierstunde, sie erwarte sie aber jeden Moment zurück und Flurina solle doch reinkommen um auf sie zu warten.
Sie lehnt dankend ab, sie möchte ihr lieber entgegen gehen. Und tatsächlich treffen sie auf halbem Weg zwischen der Musikschule und dem Haus der Freundin zusammen.
Nach einer knappen Begrüssung platzt Flurina gleich mit der Neuigkeit heraus: "Denk dir nur, ich habe eine Eisblume geschenkt bekommen!"
Die Freundin schaut ungläubig. "Sag mal, spinnst du jetzt, oder wie?", fragt sie in ärgerlichem Ton.
"Nein, es stimmt! Der neue Blumenladen hat wirklich Eisblumen und der Verkäufer hat mir eine geschenkt, weil ich die erste bin, die danach gefragt hat! Sieh doch nur, wie schön sie ist!"
Flurina greift in ihren Korb und zieht ein tropfnasses, eingerolltes Seidenpapier hervor.
Ungläubig starrt die Freundin darauf. Dann schüttelt sie den Kopf und sagt: "Weisst du was? Du bist richtig blöd!" Und damit drängt sie sich an ihr vorbei und rennt davon.
Seit diesem Tag ist Flurina nie mehr, weder alleine noch mit ihrer Freundin, nach Eisblumen fragen gegangen.
 
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AW: Novembergeschichte von Ela

12. Möglich?​

"Weshalb hat sie das gesagt?", möchte der Fischer wissen, als Flurina mit der Geschichte fertig ist.
Und wieder wundert sie sich, dass er sie gehört hat, obwohl sie sie nicht laut erzählt, sondern nur als Film auf ihrer inneren Leinwand abgespielt hat. Aber er ist ja Fischer, also ist das offenbar normal und richtig so. Praktisch eigentlich, es schont die Stimme.
"Weshalb hat sie was gesagt?" , fragt Flurina. Irgendwie hat sie gerade wiedereinmal den Faden verloren. Diese Art der Unterhaltung ist ein wenig gewöhnungsbedürftig.
"Weshalb hat sie gesagt, dass du blöd bist? Auf was hat sie das genau bezogen?", präzisiert er.
"Keine Ahnung! Wahrscheinlich hat sie einfach nur gedacht, ich wolle sie aufs Kreuz legen, mit dieser Eisblumensache. Sie dachte vielleicht, ich hätte das nasse Einwickelpapier absichtlich in den Korb gelegt, um ihr vorzumachen, ich hätte eine Eisblume darin gehabt."
"Und was, wenn sie an die Eisblume geglaubt hat und es einfach nur blöd von dir fand, nicht daran zu denken, dass sie schmelzen würde?", bohrt der Fischer nach.
Flurina schweigt. Daran hat sie gar nicht gedacht. Wäre das wirklich möglich?
Der Fischer meint: "Wie gesagt: Möglich ist alles Mögliche." Und dann fügt er hinzu: "Vielleicht sogar, dass wir heute noch einen wirklich dicken Fisch fangen!"
Und erneut wirft er die Angel aus.
 
AW: Novembergeschichte von Ela

13. Kapitel​

"Das ist jetzt übrigens schon das dreizehnte Kapitel dieser Geschichte.", stellt der Fischer fest, während er sinnend aufs Wasser schaut.
"Welcher Geschichte?", fragt Flurina verwirrt.
"Unserer Geschichte, der Novembergeschichte, in der Flurina den komischen Fischer trifft."
"Wir sind in einer Geschichte? Das kann nicht sein. Wir sind doch hier am Fluss und warten, dass der nächste Fisch anbeisst.", widerspricht Flurina.
"Ja, das meinen wir aber vielleicht nur. Vielleicht sind wir bloss ausgedachte Figuren. Vielleicht existieren wir nur im Kopf eines anderen Wesens." gibt der Fischer zu bedenken. "Hast du denn nie Sophies Welt gelesen? Da kommt sowas ja auch vor."
"Ach was! Sophies Welt ist eine Geschichte! Das hat doch nichts mit uns zu tun!", begehrt Flurina auf und klopft dann mit der Handfläche auf den Stein, auf dem sie sitzt. "Ich kann diesen Stein fühlen und wenn ich fest genug drauf haue, aua!, dann spüre ich meine Hand. Oder ich kann, wenn ich möchte, dir deine Mütze vom Kopf reissen und sie ins Wasser werfen, zum Beispiel so!"
Mit diesen Worten reisst sie tatsächlich dem Fischer die Mütze vom Kopf und wirft sie in den Fluss.
"He! Sag mal, spinnst du?" Er springt auf, greift sich einen toten Ast vom Boden und läuft am Ufer entlang der Mütze nach, die sich langsam in der trägen Strömung dreht. Er versucht sie mit dem Ast herauszufischen, drückt sie aber damit so ungeschickt unter Wasser, dass sie sich rasch vollsaugt und schliesslich geräuschlos versinkt.
"Verdammter Mist!", flucht er, wirft den Ast ins Wasser und kehrt wutschnaubend zu Flurina zurück, die sich unter einem heftigen Lachanfall zusammenkrümmt.
"Das ist nicht besonders lustig!", schnaubt er, packt seine Angel, die er einfach fallen gelassen hat, bevor auch sie in den Fluss fällt, und baut sich drohend vor Flurina auf. "Was hast du dir bloss dabei gedacht? Jetzt werde ich mir die Ohren abfrieren."
"Entschuldige bitte,", sagt Flurina noch immer lachend. "Aber ich wollte dir einfach zeigen, dass du vollkommen falsch liegst mit deiner Geschichtentheorie. Die Mütze ist weg, oder etwa nicht? Und du ärgerst dich darüber. Und ich amüsiere mich darüber. Zeigt das etwa nicht, dass wir real sind und nicht bloss Hirngespinste eines anderen Wesens?"
"Dummheit! Gar nichts zeigt das! Höchstens, dass das Wesen, welches uns erfindet einen sehr merkwürdigen Sinn für Humor hat, den ich absolut nicht teilen kann!"
 
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14. Zaubern :zauberer2

Flurina und der Fischer sitzen nun wieder schweigend nebeneinander. Flurina hat sich beruhigt, der Fischer noch nicht ganz. Missmutig starrt er vor sich hin und Flurina bemerkt mit Entsetzen, dass seine Ohren knallrot sind. Sie hofft mit schlechtem Gewissen, dass es wegen der Wut ist und nicht wegen der Kälte. Aber sie wagt nicht, ihn danach zu fragen, besser einfach warten, bis er von sich aus zu reden beginnt.
"Weder noch!", stösst er unwillig hervor. "Meine Ohren haben von Natur aus diese Farbe. Ich kann auch nichts dagegen machen. Im übrigen hätten wir ja auch einfach darüber reden können. Wenn dir meine Theorie nicht gefällt, dann kannst du Argumente dagegen suchen, die nicht gerade in Handgreiflichkeiten ausarten und schwere Verluste nach sich ziehen."
"Ja.", gesteht Flurina zerknirscht ein. "Und ich bitte dich ganz ernsthaft um Vergebung. Es war wirklich etwas zu impulsiv von mir, lag wohl daran, dass mich dein Gerede etwas verwirrt hat. Ebenso übrigens wie deine Gedankenleserei. Ich wünschte, du würdest das einfach bleiben lassen."
"Ich weiss, das ist eine lästige Angewohnheit, die ich aber nur sehr schlecht ablegen kann. Das kommt aus der Zeit, als ich noch kein Fischer, sondern Zauberer gewesen bin.", räumt der Fischer ein und scheint nun doch ein wenig besänftigt.
"Du warst Zauberer?", fragt Flurina erstaunt. "Trägst du deshalb diesen blauen Umhang?"
"Natürlich nicht!", erwidert der Fischer und schon schleicht sich wieder ein leicht genervter Unterton in seine Stimme. "Den Umhang trage ich, weil er schön warm ist, genau wie die Mütze." Er streicht sich mit der Hand über sein schütteres, kurzgeschnittenes, mausbraunes Stoppelhaar. "Das heisst, ich würde die Mütze tragen, wenn ich sie noch hätte."
Flurina fühlt sich schuldig. Dennoch ärgert sie sich über das Gejammer wegen der Mütze. Sie selbst trägt ja auch keine und hat trotzdem nicht kalt. Der Fischer scheint ihr ziemlich verweichlicht.
Dann erinnert sie sich plötzlich an das Heizkissen, das noch immer eine wohlige Wärme ausstrahlt. Sie fragt: "Sag mal, dieses Kissen, hast du das eigentlich herbeigezaubert? Und wenn du dazu wirklich fähig bist, kannst du dir nicht auch eine neue Mütze zaubern?"
Der Fischer schlägt sich mit der flachen Hand gegen die Stirn. "Ja aber natürlich! Weshalb kommen einem die naheliegendsten Dinge nie auf Anhieb in den Sinn!"
Er greift unter seinen Umhang und zieht eine Mütze darunter hervor. Diesmal eine blau-weiss gestreifte. Ohne Bommel. Zufrieden stülpt er sie sich über den Kopf und Flurina lächelt ihn an.
"Sieht erst noch besser aus.", betont sie anerkennend.
 
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15. Ausbildung mit Hindernissen​

Flurina ist nicht ganz sicher, ob sie den Fischer nun einfach in Ruhe lassen soll, oder ob er seine Verstimmung so weit abgelegt hat, dass sie ihn nach dieser Zauberer-Geschichte fragen kann. Sie ist furchtbar neugierig.
"Das ist keine sehr spannende Geschichte.", sagt der Fischer. "Nicht einmal eine Schöne. Die willst du gar nicht hören." Er wirft Flurina einen Seitenblick zu und meint dann resigniert: "Also gut, du willst sie tatsächlich hören, hab's schon kapiert."
Flurina nickt ihm aufmunternd zu. "Ja bitte, wenn du sie erzählen magst, freue ich mich bestimmt."
"Ich habe als junger Mann eine traditionelle Zaubererausbildung absolviert, an der Zaubererakademie von Abrakien. Und bevor du mich unterbrichst: Ja, es gibt tatsächlich eine Zaubererakademie und Abrakien ist ein kleines Land, das kein Nichtzauberer kennt und nein, das hat nichts mit Harry Potter zu tun. Harry Potter ist eine Geschichte, die frei erfunden ist. Klar so weit? Ich muss ohne falsche Bescheidenheit sagen, dass ich kein unbegabter Schüler war. Die üblichen Tricks, wie Münzen verschwinden zu lassen und ähnliches erlernte ich bereits in den ersten Tagen der Ausbildung."
"Das kann ich auch, bei mir verschwinden die Münzen sogar noch ehe ich sie bekommen habe!", lacht Flurina dazwischen, aber der strenge Blick des Fischers lässt sie augenblicklich wieder verstummen.
"Es folgten Kartentricks und das Verschwindenlassen und ", dieses Und betonte der Zauberer ganz besonders, "das Wiederhervorzaubern der Gegenstände, die man verschwinden lassen hat.
Danach lernte ich, Dinge herbeizuzaubern aus dem Nichts, ja auch Münzen, was durchaus gewisse Vorteile hat, wenn man es auch nicht zu oft machen sollte, weil sonst die Gefahr einer Inflation besteht.
Dann kam das Zersägen von Frauen, ein Trick, der übrigens im allgemeinen überschätzt wird, da er eigentlich nicht viel mit Zauberei, sondern nur mir der Beweglichkeit der entsprechenden Frau zu tun hat. Aber auch das gehört dazu, da es vom Publikum erwartet wird.
Dann jedoch kam die Sache mit den Kaninchen."
Hier verfällt der Fischer in ein finsteres Brüten.
"Was war mit ihnen?", forscht Flurina nach.
"Ich habe eine Tierhaarallergie."
"Oh!"
"Kannst du dir vorstellen, was das für einen Zauberer bedeutet? Kaninchen gehören zum Zauberer wie die Angel zum Fischer. Es geht einfach nicht ohne. Kaninchen werden erwartet."
"David Copperfield hat auch keine.", gibt Flurina zu bedenken.
"Ha! Das ist doch kein Zauberer. Der macht alles nur mit Tricks, kein Fünkchen Magie dabei. Wenn du bei dem während der Show den Stecker ziehst, geht gar nichts mehr."
"Was hast du also gemacht?"
Der Fischer seufzt: "Ich habe mich auf Gedankenleserei umgeschult."
 
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16. Gedankenlesen​

"Es war völlig klar", fährt der Fischer mit seiner Erzählung fort, "dass ich als herkömmlicher Zauberer, trotz meines Talents gescheitert war, noch ehe ich richtig damit begonnen hatte. Niemals würde es mir vergönnt sein, als traditioneller Zauberer im Zirkus die Menschen zu verblüffen und zu erfreuen.
So blieb nur die zwielichtige Welt des Varietés übrig. Hast du jemals ein solches Etablissement besucht?"
"Nein, bisher nicht, aber ich weiss ungefähr darüber Bescheid. Es ist wie Zirkus im Theater, mit ein bisschen mehr nackter Haut, mehr Gesang und schummrigerer Beleuchtung."
"Ja, so ungefähr kommt das hin.", gibt der Fischer grosszügig zu. "Jedenfalls sind Gedankenleser in Varietés gern gesehene Attraktionen, oft sogar die Höhepunkte des Programms. Sie holen Leute auf die Bühne und sagen ihnen, was sie in ihren Brieftaschen haben und wie ihre Ehegatten zum zweiten Vornamen heissen. Manchmal auch noch intimere und peinlichere Details aus ihrem Privatleben und je peinlicher, desto mehr freut sich das Publikum. Der Gedankenleser darf es natürlich nicht übertreiben, aber das fällt ihm nicht besonders schwer, da er ja genau sieht, wann es seinem Opfer zuviel wird.
Ich bekam einen Lehrer zugewiesen, übrigens einen wahren Meister seines Fachs und ich stellte mich auch in dieser Disziplin als sehr talentiert heraus. Wir begannen zuerst mit Geschöpfen, deren Gedanken sehr einfach strukturiert sind. Schnecken zum Beispiel werden von sehr wenigen Gedanken dominiert, von denen sich die meisten ums Fressen drehen. Zudem sind sie langsam genug, um lange sichtbar zu bleiben. Und sie hinterlassen eine Art mentaler Schleimspur, der man problemlos folgen kann.
Danach folgten Schildkröten, die übrigens erstaunlicherweise meistens an Sex denken und bald schon konnte ich mich an schnellere Reptilien, wie Echsen und Schlangen heranwagen. Dann kamen die ersten Säugetiere an die Reihe, wie Hunde und Katzen."
"Und deine Tierhaarallergie störte dich dabei nicht?", wirft Flurina verwundert ein.
"Nur ein wenig. Ich musste die Tiere ja zum Glück nicht berühren und war durch meine Übungen bereits in der Lage, die Gedanken aus einer Distanz von mehreren Metern lesen zu können. Am unangenehmsten waren übrigens Pferde. Sie sind mental immer nahe am Rand des Wahnsinns.
Und schliesslich kamen die Menschen an die Reihe. Erstaunlicherweise ging das fast von selbst, als ich erst mal die Pferde geschafft hatte.
Alles in allem brauchte ich gerade mal ein halbes Jahr, um die Gedankenleserei zu erlernen.
Die nächsten zehn Jahre verbrachte ich dann damit, zu lernen, mich von den Gedanken, die ich nicht lesen wollte, abzuschotten."
 
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17. Noch mehr Fragen​

"Weshalb bist du Fischer geworden?", möchte Flurina nun wissen. Die Geschichten, die er ihr erzählt hat, haben sie mehr verwirrt, als Klarheit geschaffen. "Den Schritt vom Zauberlehrling zum Gedankenleser kann ich nachvollziehen. Wie bist du aber von dort aus zum Fischer geworden?"
Der Fischer seufzt. "Du stellst viele Fragen. Bist wohl von Natur aus sehr neugierig, oder?"
Flurina antwortet mit einem Schulterzucken: "Stört es dich, wenn ich dir Fragen stelle?"
"Nein", sagt der Fischer. "Eigentlich nicht. Es ist nur schwierig, diese Dinge so zu erzählen, dass du sie auch begreifen kannst.
Du denkst vielleicht, diese Gedankenleserei sei eine grossartige Sache. Das denken wir ja oft von Dingen, die wir selber nicht beherrschen. Aber wie ich bereits erwähnt habe, brauchte ich zehn Jahre um zu lernen, mich von den Gedanken anderer abzuschotten.
Stell dir einfach mal vor, du sitzt in einem grossen Raum und damit meine ich jetzt wirklich gross, ungefähr einen Kilometer im Quadrat, also du sitzt in einem solchen Raum und um dich herum sitzen tausend andere Leute, die alle ununterbrochen reden. Und zwar reden sie nicht etwa miteinander, was die Sache erheblich vereinfachen würde und sogar noch einen gewissen Unterhaltungswert hätte, sondern sie alle führen Selbstgespräche.
Und jetzt ist es nicht so, dass du diejenigen am besten hörst, die am nächsten bei dir sind, und die anderen nur einen unverständlichen Teppich aus Gemurmel darunterlegen, nein, du hörst jeden einzelnen von ihnen genau
gleich laut und deutlich."
"Okay, das stelle ich mir jetzt wirklich nicht besonders angenehm vor.", räumt Flurina ein.
"Nicht besonders angenehm? Es ist ganz einfach grauenhaft! Aber das ist noch nicht einmal das Schlimmste. Was wirklich nicht auszuhalten ist, sind die Gedanken selber in ihrer absolut dramatischen Hohlheit, Flatterhaftigkeit und oft völliger Zusammenhanglosigkeit.
Aber davon werde ich dir im nächsten Kapitel erzählen, jetzt brauch ich erst mal eine kleine Verschnaufpause."
 
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18. Kurzes Intermezzo​

Hier wird es nun langsam Zeit, dass wir rasch die Erzählperspektive wechseln, nämlich von Flurina zur Erzählerin, das heisst in diesem Fall zu mir.
Das wird leider nötig, da die Figuren, besonders der Fischer, begonnen haben ein gewisses Eigenleben zu führen. Schon im dreizehnten Kapitel ist das geschehen und vorhin gerade wieder. Das kann ich selbstverständlich nicht einfach so hinnehmen, denn schliesslich ist es nicht angebracht, dass die Figuren die Geschichte, in der sie mitspielen einfach zu kommentieren beginnen oder sogar die Erzählerin kritisieren.
Ich meine, eine gewisse Kontrolle sollte doch erlaubt sein, bei allem Respekt vor dem Erzählfluss.
Figuren sollten nichts von Kapiteln wissen und nicht einmal ahnen, dass es so etwas wie eine Erzählerin überhaupt gibt. Sie sollten einfach nur das sagen, was die Erzählerin ihnen in den Mund legt. Ich kann mir diese frechen Eigenwilligkeiten nur damit erklären, dass der Fischer durch seine spezielle Ausbildung Fähigkeiten entwickelt hat, die ihm erlauben, sich immer wieder aus der Rolle des Protagonisten heraus zu mogeln.
Flurina dagegen benimmt sich zum Glück vorerst so, wie ich sie mir gedacht habe: Ahnungslos. Aber natürlich wird sie zunehmend verunsichert und ich hoffe, dass das ganze am Ende nicht noch mehr aus dem Ruder läuft.
Für allfällige Unstimmigkeiten bitte ich die geschätzte Leserin, den geschätzten Leser deshalb schon an dieser Stelle um Entschuldigung. Ich werde mich bemühen, künftige Autonomieversuche des Fischers im Keime zu ersticken.
 
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19. Gedankenverwirrung​

"Also", fährt der Fischer fort, "hast du dir eigentlich schon einmal überlegt, wie so ein Kopf gedanklich funktioniert?"
"Eigentlich nicht", gibt Flurina zu. "Meistens ist man sich ja gar nicht so bewusst, welche Gedanken einem durch den Kopf gehen."
"Genau! Und weisst du auch weshalb das so ist? Weil nämlich Gedanken gewöhnlich nicht durch den Kopf gehen, so schön diszipliniert und geordnet zum Beispiel vom rechten Ohr zum linken Ohr, sondern weil sie ein absolut chaotischer Haufen sind, ohne die geringste Organisation. Zumindest, wenn sich der betreffende Kopf nicht richtig konzentriert, was leider in den allermeisten Fällen so ist.
Also da tanzen diese Gedankenfetzen wie verrückt gewordene Derwische durchs Hirn, verwandeln sich, verschwinden plötzlich, schubsen einander zur Seite, drängen sich vor, verstecken sich, schliessen sich zusammen, trennen sich wieder wegen künstlerischer Differenzen, um eigene Wege zu gehen oder eine andere Band zu finden."
"Band?", fragt Flurina.
"Entschuldige bitte, siehst du, jetzt bin ich gerade selber Opfer einer solchen Gedankenverwirrung geworden und dadurch hat sich eine Metapher eingeschlichen, die jetzt da eigentlich gar nichts zu suchen hatte."
"Kein Problem.", versucht Flurina den Fischer zu beruhigen. "Das kann ja jedem mal passieren."
Er schaut sie verständnislos an. "Was kann jedem mal passieren?"
"Na, das mit dem Metaphern! Sind ja sonst sehr beliebt um diese Jahreszeit."
Der Fischer schüttelt den Kopf und sagt: "Ich fürchte, du hast keine Ahnung wovon ich rede, oder?"
Flurina lächelt. "Doch, ich glaube schon. Die ganze Sache war dir zu anstrengend und zu schwierig und deshalb bist du Fischer geworden, stimmts?"
 
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20. Zu gross​

Flurina deutet aufs Wasser. "Ich glaube, da hat einer angebissen."
Und tatsächlich beginnt die Angel im selben Augenblick heftig zu rucken.
"Na endlich!", ruft der Fischer erfreut aus, springt auf die Füsse und beginnt, die Angel langsam einzuholen.
Diesmal ist es kein Schuh und auch bestimmt kein kleiner Fisch, denn am Ende der Angelleine sieht Flurina einen sich windenden und wild um sich spritzenden, glänzenden und vor allem grossen Leib. Er muss mindestens einen halben Meter lang sein und Flurina kann kaum ihren Augen trauen. Niemals hätte sie gedacht, dass es in diesem kleinen Flüsschen solch grosse Fische gibt.
Die Angel biegt sich gefährlich durch und der Fischer ruft: "Hilf mir! Allein schaffe ich es nicht ihn herauszuholen! Nimm den Kescher und versuch ihn damit einzufangen, ich hole ihn so nahe ans Ufer wie möglich!"
Flurina greift sich den langstieligen Kescher und schaut ihn zweifelnd an. Der Aluminiumring, an dem das feinmaschige Netz angemacht ist, misst bestimmt nicht mehr als vierzig Zentimeter im Durchmesser und es ist ihr alles andere als klar, wie sie damit diesen Riesen-Eumel einfangen soll. Sie klettert unsicher möglichst nahe zum Wasser hinab, stellt sich breitbeinig und wenig graziös auf und schwingt den Kescher, den sie nur mit einer Hand am hintersten Ende der Stange hält, übers Wasser.
Der Fischer stöhnt. "Aber nein, so doch nicht! Du musst von hinten an ihn ran und halt das Ding um Neptuns Willen doch mit beiden Händen!"
Doch in diesem Moment reisst mit einem hellen und langezogenen Ton die Leine, der Fisch springt ein letztes mal hoch in die Luft um mit einem heftigen Bauchklatscher Flurina und den Fischer nass zu spritzen und dann sofort abzutauchen. Kurz sieht man noch ein silbernes Aufblitzen, dann ist er verschwunden und die letzten Wellenringe glätten sich.
Flurina fürchtet, dass der Fischer jetzt wütend auf sie ist, weil sie sich so ungeschickt angestellt hat.
Aber er seufzt nur erleichtert, holt der traurigen Rest der Angelschnur
ein und sagt: "Glück gehabt! Jetzt hätten wir echt in Schwierigkeiten kommen können."
"Wieso?"
"Na überleg doch mal. Der Eimer wäre doch viel zu klein gewesen für diesen Fisch."
 
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