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Novembergeschichte von Ela

E

Ela67

Guest
So, dann will ich mal loslegen.
Dies soll also meine eigene Novembergeschichte werden, die ich versuche, jeden Tag ein kleines Stück weiterzuspinnen. Mal sehen, was dabei herauskommt. :zauberer2


1. Begegnung​

Das Jahr ist alt geworden. Graue Nebelsträhnen hängen zwischen den fast kahlen Bäumen. Man denkt an die Toten.
Flurina spaziert dem kleinen Fluss entlang, der sich leise murmelnd und ohne Eile zwischen grossen Felsblöcken und Schwemmholz seinen Weg sucht.
Nein, er sucht den Weg nicht, er selber ist der Weg und der führt zum grossen Fluss und dann zum Meer, das weit oben im Norden liegt und von wo im Herbst immer die Möwen kommen um hier zu überwintern.
Auf einem der Felsblöcke sitzt ein Fischer.
Er muss ein Fischer sein, denn er hält eine Angel ins Wasser und neben ihm steht ein gelber Plastikeimer, ein Bild des Optimismus, denn Flurina zweifelt daran, dass es hier etwas zu fangen gibt. Er ist aber überhaupt nicht wie ein Fischer gekleidet. Er trägt weder Stiefel noch khakifarbene Hosen mit vielen Taschen und auch kein dickes, kariertes Flieshemd mit einer Weste darüber, sondern Turnschuhe, Jeans und einen blauen Umhang, der eher zu einem Opernsänger oder Zauberer passen würde.
Und auf dem Kopf eine rot-weisse Strickmütze mit Bommel.
Der Fischer scheint Flurinas Blick zu spüren, denn er dreht den Kopf und schaut ihr mit einem breiten Grinsen entgegen. "Frag, ob sie beissen!"
Flurina, die jetzt auf gleicher Höhe mit ihm ist, bleibt stehen und fragt: "Warum?"
"Weil das die übliche Frage ist um mit einem Fischer ins Gespräch zu kommen, der eigentlich nur seine Ruhe haben möchte."
Flurina überlegt kurz, ob sie einfach weitergehen soll.
Stattdessen fragt sie: "Beissen sie?"
Der Fischer strahlt und erwidert fröhlich: "Noch nicht, aber wenn du mir Gesellschaft leisten magst, dann wird sich das sicher bald ändern."
Er greift unter seinen Umhang und zieht eine Thermosflasche hervor. "Ich hab auch Kaffee."
Flurina klettert die niedrige Böschung hinunter und setzt sich neben den Fischer auf den Felsblock. Er giesst Kaffee in eine ziemlich zerbeulte Blechtasse und reicht sie ihr. Der Kaffee duftet verführerisch und die heisse Tasse wärmt Flurinas Hände.
Sie fragt: "Möchtest du denn keine Ruhe?"
Er lächelt und sagt: "Mal sehen."
Dann blicken sie beide schweigend aufs Wasser.
 
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2. Pailettentanz​

Wenig später beisst tatsächlich einer an. Routiniert und gefühlvoll holt der Fischer seine Angel ein. Am Ende der Schnur zappelt ein kleines, silbern glänzendes Fischlein, das er geschickt vom Haken löst und in den gelben, halb mit Flusswasser gefüllten Plastikeimer gleiten lässt, wo es verzagt im Kreis schwimmt.
Flurina verzieht das Gesicht und sagt: "Der ist zu klein, lass ihn wieder frei!"
"Ja, er ist zu klein", stimmt ihr der Fischer zu, "und ich werde ihn auch wieder freilassen, aber jetzt noch nicht. Schau ihn dir doch mal an!"
Er steckt seine Hand in den Eimer und plötzlich wird der kleine Fisch ganz ruhig. Er stupst neugierig gegen die Finger des Fischers, lässt sich sogar streicheln und schmiegt sich dann vertrauensvoll an seine Handfläche.
Der Fischer lächelt und wiederholt: "Schau ihn dir nur an, den kleinen Kerl!"
Und Flurina schaut, sieht das silbrig glänzende, runde Auge des Fisches und das Auge sieht aus wie eine der Pailetten, die vor vielen Jahren auf dem Tisch ihrer Grossmutter lagen, als Flurina etwa sieben Jahre alt war. Der Tisch war gross und mit einem dicken, weichen, weissen Flanelltuch bedeckt.
Flurinas Grossmutter sitzt an diesem Tisch in ihrem Schneideratelier und näht schwarze und silberne Pailetten an ein schwarzes Kleid.
Flurina fragt: "Wer bekommt dieses Kleid?"
Die Grossmutter antwortet, ohne von dieser ermüdenden Arbeit aufzusehen: "Eine sehr vornehme und reiche Dame. Es ist ein Ballkleid und das trägt man, wenn man tanzen geht."
Flurina stellt sich diese vornehme und reiche Dame in ihrem Pailettenkleid vor, wie sie mit ihrem sicher ebenso vornehmen und reichen Mann tanzt in einem prächtigen Ballsaal und wie die Pailetten schimmern im Licht des Kronleuchters. Sie nimmt ein paar schwarze und silberne Pailetten und legt sie vor sich auf das weisse Flanelltuch und das Tuch wird zum Tanzparkett und sie gruppiert die Pailetten zu Paaren, immer eine Silberne und eine Schwarze und verteilt sie im Saal und lässt sie um einander kreisen zu den Klängen der Kapelle. Immer schneller und atemloser wirbeln die Paare herum und alles verwischt zu Schlieren aus Silber und Schwarz und die vornehmen und reichen Damen lachen auf vor Vergnügen.
"Autsch!" Die Grossmutter saugt an ihrer Fingerspitze.
"Werde ich auch einmal auf einem Ball tanzen?", möchte Flurina wissen.
"Wer weiss?", sagt die Grossmutter und lächelt. "Ich hoffe nur, dass dann diese verflixten Pailetten nicht mehr in Mode sein werden."
 
AW: Novembergeschichte von Ela

3. Die Erfindung​

"Und hast du?", fragt der Fischer, der nun wieder auf dem Felsblock sitzt und einen neuen Köder am Haken befestigt.
"Was meinst du? Was soll ich haben?" fragt Flurina etwas verwirrt zurück.
"Na, getanzt! Auf einem Ball."
"Ähm, nein, ich hab nie auf einem Ball getanzt. Aber woher..."
"Schade.", unterbricht sie der Fischer. "Trotzdem eine hübsche Geschichte. Etwas mager vielleicht, aber hübsch. War ja auch nur ein kleiner Fisch."
Und damit wirft er erneut seine Angel aus.
"Übrigens hat einer meiner Vorfahren Pailettenkleider erfunden." erzählt der Fischer, "magst du die Geschichte hören?"
Und ohne eine Antwort abzuwarten, beginnt er: "Dieser Vorfahre lebte damals am Hof des Kaisers von China als einer der kaiserlichen Hofschneider. Genauer gesagt, war mein Ur-ur-ur-ur-usw.-Grossvater eigentlich erst ein kaiserlicher Schneiderlehrling, und er hatte erst die Hälfte seiner Lehrzeit, also zehn Jahre absolviert, als die Sache mit der Kaiserin und den Karpfen geschah.
Der Kaiser hatte nämlich eine ungewöhnliche Leidenschaft für die kostbaren Karpfen im kaiserlichen Gartenteich entwickelt, so sehr, dass er ganze Tage auf der steinernen Bank bei diesem Teich verbrachte und wie gebannt die Fische beobachtete.
Du kannst dir ja vorstellen, dass dies die Kaiserin beunruhigte, denn im Gegensatz zu der Aufmerksamkeit, die er der Fischen schenkte, wich er ihr aus, wo es nur ging und schien sie kaum mehr zur Kenntnis zu nehmen.
Die Kaiserin war verzweifelt und einmal rief sie während des Ankleidens, als sie in den Spiegel blickte aus: 'Ich wünschte, ich wäre ein Fisch, vielleicht würde mein Mann mich dann wieder ansehen!'
Diesen schmerzvollen Aufschrei aber hörte eine junge Zofe und die war mit meinem Ur-Ahnen liiert und sie erzählte ihm davon. Beide hatten Mitleid mit der Kaiserin und wollten ihr helfen.
'Wenn ich ein Kleid machen könnte, das aussieht wie die Haut eines Fisches, dann würde der Kaiser vielleicht die Schönheit seiner Frau erkennen.', überlegte der Schneider.
Als er am nächsten Tag über den Fischmarkt ging, kam ihm die zündende Idee, als er eine dicke Händlerin beim Entschuppen von Fischen beobachtete.
Er machte ein Kleid aus hauchdünner Seide und nähte darauf die Fischschuppen. Er brauchte dafür ein ganzes Jahr, denn er musste es heimlich nach Feierabend tun, weil ihn sonst alle für verrückt gehalten hätten. Und es war eine furchtbar mühsame Arbeit, aber am Schluss hatte er ein Kleid, das so wunderschön war, wie es noch keines zuvor gegeben hatte.
Die junge Zofe brachte das Kleid zur Kaiserin und diese war bezaubert davon. Als sie es anzog, sass es wie eine zweite Haut und sie wusste, sie würde damit das Herz ihres Gatten zurückgewinnen. Der nur ganz dezente Fischgeruch würde das Seinige dazu beitragen."
Hier unterbricht der Fischer seine Erzählung mit einem schweren Seufzer und schaut melancholisch aufs Wasser.
Flurina fragt: "Und? Hat's funktioniert?"
Er zuckt die Schultern und antwortet: "Nein. Es stellte sich nämlich heraus, dass es dem Kaiser gar nicht um die äussere Schönheit der Fische gegangen war. Was ihm an ihnen gefallen hatte, war einzig, dass sie so still waren. Er hatte jahrelang unter dem nicht abbrechenden Redestrom seiner Frau gelitten, bis er jenen Teich entdeckt hatte, an den er sich seitdem zurückzog, um seine Ruhe zu haben."
 
AW: Novembergeschichte von Ela

4. Wichtige Frage​

Flurina und der Fischer schweigen beide und sehen zu, wie das Wasser an ihnen vorbeiströmt. Ab und zu schwimmen kleine Blattflosse vorbei, die sich langsam drehen.
Nach einer Weile meint Flurina: "Er hätte es ihr einfach sagen können. Der Kaiser hätte seiner Frau sagen können, dass er gerne zwischendurch mal Ruhe hat, dass ihm ihr Geplapper auf die Nerven geht."
Der Fischer zuckt die Achseln. "Er konnte nicht."
"Warum nicht? War er stumm oder was?"
"Nein, er war nicht stumm, im Gegenteil, er hatte sogar eine sehr schöne Singstimme. Den Karpfen hat er oft vorgesungen. Wusstest du, dass Fische sehr gut hören können?"
Flurina sagt: "Ja, aber doch nur die Geräusche unter Wasser. Ich glaube nicht, dass die Karpfen hörten, was ihnen der Kaiser vorsang."
Der Fischer lächelt: "Gut möglich. Aber irgendwie konnten sie den Eindruck vermitteln, sie hörten dem Kaiser zu. Manchmal glaubte er sogar, die Fische wiegten sich im Rhythmus seines Liedes. Und das beflügelte ihn und machte ihn glücklich. Es gibt keine besseren Zuhörer als Fische."
Flurina kommt wieder zu ihrer Ausgangsfrage zurück. Sie will dem Fischer sein Ausweichmanöver nicht durchgehen lassen. Deshalb wiederholt sie noch einmal: "Warum konnte der Kaiser seiner Frau nicht sagen, sie solle weniger reden?"
Der Fischer wendet sich Flurina nun voll zu und sie hat den Eindruck, dass seine Augen tatsächlich einen ganz leicht asiatischen Schnitt haben. Kann es sein, dass die Geschichte, die er ihr gerade erzählt hat, nicht völlig frei erfunden ist, dass es tatsächlich einen Vorfahren am Hof des Kaisers von China gab?
Und wieder scheint er ihre Gedanken zu lesen, denn er sagt: "Was ist wahr und was ist erfunden? Erfinden wir nicht täglich unsere Wahrheit? Ausserdem spielt es für mich keine Rolle. Ich bin Fischer."
Und dann endlich kommt doch noch die Antwort auf Flurinas eigentliche, ausgesprochene Frage, vorgetragen mit der allergrössten Ernsthaftigkeit: "Der Kaiser konnte seiner Frau nicht sagen, dass sie weniger reden solle, weil sie ihn nicht zu Wort kommen liess."
 
AW: Novembergeschichte von Ela

5. Der nächste Fang​

In diesem Moment zuckt die Angel des Fischers erneut und er springt förmlich hoch und landet auf den Füssen. Diesmal scheint es ein viel grösserer Fisch zu sein, denn er wirkt aufgeregt und gleichzeitig hoch konzentriert. Die Angelrute biegt sich durch, als er langsam daran zu ziehen beginnt. Dann lässt er etwas nach, dreht rasch die Kurbel, zieht erneut, lässt nach, dreht, wiederholt das Ganze fünf mal und Flurina blickt voller Spannung auf die Stelle, wo die Schnur im Fluss verschwindet.
Dann plötzlich ein Ruck und die Beute baumelt über dem Wasser.
Ein alter Schuh.
Flurina lacht. "Na, das ist aber ein ganz besonderer Fisch!"
Der Fischer sagt pathetisch: "Unterschätze nie etwas, das du mit eigener Angel aus dem Wasser ziehst, manchmal erweist sich das unansehnlichste Objekt als der lang ersehnte Schatz."
Er holt die Angel ein und greift nach dem nassen Schuh, einem schweren, schwarzen Wanderstiefel, und löst ihn vom Haken. Fast liebevoll stellt er ihn neben den gelben Eimer. Der Schuh ist halb mit Wasser gefüllt und der Fischer beugt sich nun darüber um hinein zu sehen.
Nach einer Weile sagt er: "Siehst du, was habe ich gesagt?"
Dann nimmt er den Schuh und kippt ihn über dem Eimer aus und Flurina staunt, als ein winziger Fisch zusammen mit dem Wasserschwall im Eimer landet.
Sie sagt: "Der ist ja noch kleiner als der Erste! Ein schuhbewohnender Zwergfisch. Und schau dir bloss mal an, was für ein Gesicht er macht, ich glaube, seine neue Umgebung gefällt ihm nicht besonders gut."
Und tatsächlich scheint es so, als mache dieser Fisch ein besonders grämliches Gesicht. Kann ein Fisch ein Gesicht machen? Ist er zu Mimik überhaupt fähig?
Aber dieser Fisch hat tatsächlich und unbestreitbar einen Gesichtsausdruck und Flurina kommt er sogar irgendwie bekannt vor. Sie kannte jemanden, der manchmal, wenn er sich unbeobachtet fühlte, genau so aussah.
"Er sieht aus wie mein Grossvater! Ist das nicht verrückt?"
Der Fischer fragt: "Wirklich? Ich habe gedacht, dein Grossvater hatte das Gesicht eines Clowns."
"Ja, das schon, aber manchmal hat er genau so ausgesehen, da schlich sich dieser grämliche Zug auf sein Gesicht. Nie lange, aber manchmal blitzte er kurz auf und..." Sie unterbricht sich plötzlich und schaut den Fischer irritiert an. "He, woher weisst du, wie mein Grossvater ausgesehen hat?"
Er setzt sich, legt die Angel neben sich auf den Boden und holt ein zerknautschtes Zigarettenpäckchen unter seinem Umhang hervor. Er bietet Flurina eine an und als sie ablehnt murmelt er: "Sehr klug." und lässt die Packung wieder verschwinden, ohne selbst eine genommen zu haben.
Dann meint er gelassen: "Ich weiss es ja gar nicht, aber ich bin Fischer."
 
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6. Geschrei​

Flurina hat den Verdacht, dass dieser komische Mann viel mehr ist, als ein gewöhnlicher Fischer.
Ja, ihr Grossvater hatte tatsächlich wie ein Clown ausgesehen. Er hatte ein langgezogenes Gesicht, eine hohe Stirn und sein Schädel war kahl bis auf einen Kranz schüttere Haare am Hinterkopf. Er hatte eine knubbelige, grosse Nase und einen breiten Mund und mindestens eine Million Lachfältchen um die Augen.
Grossvater war ein Aussteiger. Nachdem er sein ganzes Leben lang als Mechaniker und Lastwagenchauffeur gearbeitet hatte, kaufte er sich nach seiner Pensionierung ein Stück Land im Tessin, mit einem verfallenen alten Stall darauf, baute ihn um zu einem kleinen, schmucken Häuschen in dem er fortan mit seiner zweiten, viel jüngeren Frau lebte.
Er hat einen Weinberg, Bienen und einen grossen, schwarzen Hund, vor dem sich Flurina immer fürchtet, wenn sie den Grossvater mit ihrer Familie besuchen geht.
Manchmal hilft sie ihm bei der Traubenlese. Sie mag ihren Grossvater sehr, auch wenn er sie wohl eher uninteressant findet.
Was allerdings diese Besuche trübt und immer ein wenig anstrengend macht, ist die Tatsache, dass in Grossvaters Haus soviel geschrieen wird. Nicht etwa, weil man miteinander streiten würde, sondern weil er furchtbar schwerhörig ist.
Allerdings ist er auch sehr stur und er weigert sich kategorisch anzuerkennen, dass sein Gehör nicht mehr so gut wie früher funktioniert und dementsprechend braucht ihm auch niemand mit dem Thema Hörgerät zu kommen.
Seine Frau hat sich längst daran gewöhnt, ihn ständig anzubrüllen und wenn Flurina mit ihren Eltern und Geschwistern dort zu Besuch ist, müssen alle die Stimme bis nahe an die Schmerzgrenze erheben, auch wenn sie nicht direkt mit Grossvater sprechen, damit er sich von den Gesprächen am Tisch nicht ausgeschlossen fühlt. Das gibt immer eine ganz merkwürdige Dynamik, denn durch das überlaute Reden gehen natürlich sämtliche Feinheiten und Stimmmodulationen flöten und eigentlich hört keiner mehr dem anderen wirklich zu.
Flurina sagt meistens nichts. Ihre Stimme ist von Natur aus leise und selbst, wenn sie versucht laut zu werden, sagt Grossvater sofort: "Hä?" und sie wird von den anderen umgehend und natürlich brüllend daran erinnert, doch lauter zu sprechen.
Nur Grossvater selber spricht sehr leise und wenn er etwas sagt, werden alle sofort ganz still und hören wie gebannt zu.
Eigentlich ein guter Trick.
 
AW: Novembergeschichte von Ela

7. Heizkissen und Zigaretten​

"Das ist nicht nur ein guter Trick, das ist Macht", sagt der Fischer. "Nur sehr mächtigen Leuten gelingt es, dass alle zuhören, ohne dass sie selber je die Stimme erheben müssen. Meistens, weil sie andere haben, die den Job des Rumbrüllens für sie erledigen. Aber die tatsächlich Mächtigen brauchen nicht einmal Brüller als Entourage. Denn sie sitzen in der zweiten Reihe und flüstern. Sie flüstern dem Despoten zu, was er zu tun hat, aber natürlich immer so, dass er denkt, es sei seine eigene Entscheidung gewesen."
"Ja, ich weiss", meint Flurina schulterzuckend, "das sagt man immer, aber ich bin nicht sicher, ob das nicht einfach ein Klischee ist, das nicht wahrer wird, nur weil es alle einander nachplappern. Übrigens bekomme ich langsam aber sicher einen eiskalten Hintern. Ich glaube, ich geh dann mal besser weiter. Ich hoffe, du fängst heute noch was Grösseres."
"Bisher war der Fang gar nicht so schlecht.", sagt der Fischer und greift dabei wiedermal unter seinen Umhang. "Eine Grossmutter und eine Grossvatergeschichte. Aber vielleicht lässt du dich ja bewegen, noch ein wenig länger zu bleiben."
Er streckt ihr ein blau-grün gestreiftes Kissen entgegen und als sie es anfasst ist es merkwürdig warm. Dankbar schiebt sie es sich unter den Allerwertesten und sofort scheint die drohende Blasenerzündung in weite Ferne gerückt. Die Wärme kriecht ihr den Rücken hoch, erreicht den Nacken , sogar die Ohren werden warm.
"Würde ich es bereuen, wenn ich dich bitten würde mir zu sagen, wer zum Teufel du eigentlich bist?", fragt Flurina.
"Ich bin Fischer.", sagt der Fischer. "Und wenn du magst, erzähle ich dir noch eine Geschichte über Macht , die gerade so gut zum Thema passt."
"Noch eine Vorfahrengeschichte aus China?", möchte Flurina wissen.
Der Fischer lächelt. " Ja, eine Vorfahrengeschichte, aber nicht aus China. Weisst du, ich habe nicht nur dort Vorfahren. Wir sind eine ziemlich multikulturelle Familie."
Er greift wieder unter den Umhang und zieht erneut sein Zigarettenpäckchen hervor. Und jetzt zündet er sich auch wirklich eine an und meint entschuldigend lächelnd: "Sorry, ich hoffe es stört dich nicht. Weisst du, mit dem Rauchen ist es für mich wie für meinen Vorfahren mit der Macht. Mass halten wäre am Platz. Ein bisschen davon macht Spass. Zuviel kann tödlich sein."
Der Fischer nimmt einen tiefen Zug und beginnt dann zu erzählen.
 
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8. Das Schweigen des Despoten​

"Einer meiner Urahnen lebte in Afrika, in einem kleinen Land namens Batangu, das heute von der Landkarte und aus den Geschichtsbüchern verschwunden ist. Dieses Land war ein kleines Königreich und sein damaliger Herrscher war nicht schlimmer, als das der handelsübliche Despot eben ist.
Mein Vorfahre lebte an seinem Hof als königlicher Berater, denn er war lange im Ausland gewesen und sehr gebildet. Er hatte einen Freund, mit dem er eine grosse Leidenschaft teilte, oder vielleicht eher ein Laster: Das Wetten. Sie wetteten bei jeder Gelegenheit. Und beide hatten es sich zum Sport gemacht, immer abstrusere Wettideen zu entwickeln.
Ja und eines Tages, als sie wiedermal zusammensassen und beide schon leicht betrunken waren, unterhielten sie sich über Macht und mein Vorfahre behauptete, er sei in Wahrheit mächtiger als der König und er werde es beweisen. Der Freund zweifelte das natürlich sofort an und meinte, nie im Leben könne so etwas bewiesen werden ohne den König zu stürzen und das ginge dann wohl doch eher zu weit.
Aber mein Ahne wollte den König ebenso wenig stürzen wie sein Freund. Und so sagte er, um zu zeigen, dass er mächtiger sei als der König, werde er ihn zum Schweigen bringen.
Und so ging er am nächsten Tag zum Herrscher und sprach mit ihm über Macht.
Er erklärte ihm, dass Menschen, die wenig Macht hätten, dazu neigten herumzubrüllen, denn anders würde niemand auf sie hören, Menschen mit mehr Macht redeten meist ohne die Stimme zu erheben, da sie genug andere hätten, die für sie das anstrengende Brüllen übernehmen würden. Am allermeisten Macht aber hätten die, welche überhaupt nichts mehr sagen müssten. Es würde genügen, zu nicken oder den Kopf zu schütteln.
Damit würde der Herrscher dann beweisen können, dass er mächtiger sei als alle anderen, die sich noch mit dem Formulieren von Anordnungen herumschlagen müssten.
Und tatsächlich schien es zu funktionieren. Der König verstummte. Mein Urahne übernahm nun die Rolle des königlichen Sprechers. Er verkündete die Entscheidungen des Despoten. Zudem formulierte er dem König gegenüber Anliegen und Problemstellungen, die der dann jeweils mit einem Nicken oder Kopfschütteln entscheiden konnte. Und erreichte dabei unglaubliche Einflussmöglichkeit, denn er konnte alleine durch die Auswahl und Formulierung der Anliegen den Herrscher natürlich manipulieren. Damit hätte er nun seine Wette gewonnen, aber dummerweise kam eines Tages die königliche Leibgarde in sein Schlafzimmer gestürmt, er wurde gepackt, abgeführt und geköpft.
Alle waren entsetzt, niemand hatte das erwartet und der Freund meines Ahnen warf sich vor den Thron und fragte den Despoten schluchzend, weshalb er diese Hinrichtung befohlen habe.
Der König antwortete: 'Weil ich es konnte.'
Das", schliesst der Fischer, "war wirkliche Macht."
 
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9. Real oder wie?

"Puh", sagt Flurina, "was für eine schreckliche Geschichte!"
"Na ja, so etwas kommt schon mal vor.", erklärt der Fischer und zuckt die Schultern.
Flurina sieht ihn an und fragt: "Aber es stimmt doch nicht, oder? Ich meine, du hast diese Geschichte doch jetzt gerade erfunden um mir damit etwas klar zu machen, oder? Die Geschichte dient dazu, eine Aussage zu illustrieren. Welche eigentlich? Dass ich Recht habe und das Klischee von den mächtigen Hintermännern eben tatsächlich nicht stimmt? Dass der wirklich Mächtige immer eine Wahl hat? Oder dass es mächtig macht zu wählen?"
"Oder dass es besser ist, nicht zu wetten.", antwortet der Fischer schmunzelnd.
In diesem Moment fliegt ein Schwan an ihnen vorbei. Er fliegt so niedrig. dass er mit seinen Flügelspitzen ab und zu das Wasser berührt und so eine Spur zitternder Ringe auf der Wasseroberfläche hinterlässt. Er ist flussabwärts unterwegs und scheint es recht eilig zu haben.
Kurz darauf folgt ein Graureiher, der sich in der gleichen Richtung bewegt, dann ein Kormoran, drei Möwen, zwei Enten, fünf Krähen und ein kleines Doppeldeckerflugzeug, in dem ein Dodo sitzt, vor ihren Augen einen eleganten Looping dreht, ihnen kurz zuwinkt und dann den Krähen folgt.
"Was war denn das jetzt?", wundert sich Flurina.
"Ja, merkwürdig, nicht?", bestätigt der Fischer. "Sind alle in der gleichen Richtung unterwegs. Ob sie wohl irgendeine Versammlung haben, oder ist das bloss Zufall?"
Flurina schüttelt den Kopf. "Ich meinte eigentlich eher den Dodo im Flugzeug. Oder findest du das etwa nichts Besonderes, dass ein ausgestorbener Vogel in einem Flugzeug unterwegs ist?"
"Also, ich finde es eigentlich ganz logisch, dass der Dodo ein Flugzeug benutzt, immerhin ist ja bekannt, dass er leider nicht ohne Hilfsmittel fliegen kann."
"Aber er ist ausgestorben!", beharrt Flurina.
"Und wer sass denn da eben im Flugzeug," will nun der Fischer wissen, "war das vielleicht eine verkleidete Taube?"
"Was weiss ich", ereifert sie sich. "Es kann einfach nicht sein!"
Der Fischer seufzt und lehnt sich zurück. "Weisst du, es gibt eine ganz einfache Methode, herauszufinden was sein kann und was nicht, was real ist und was nicht.“
"Und was ist das für eine Methode?"
"Sei dir einfach bewusst: Alles, was geschieht, geschieht. Und das Meiste geschieht irgendwo, wenn nicht hier, dann an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit oder in einem anderen Universum. So kannst du dich also darauf verlassen, dass alles immer real ist, irgendwie, irgendwann und ganz sicher irgendwo."
 
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10. Eisblumen​

"Das ist die blödeste philosophische Theorie, die ich jemals gehört habe!", behauptet Flurina schon beinahe entrüstet, aber dennoch mit einem kleinen Lachen in ihrer Stimme.
Der Fischer sieht sie lange schweigend an und sagt dann: "Erzähl mir was von Eisblumen."
"Wie jetzt, was soll ich dir von Eisblumen erzählen?", möchte Flurina etwas verwirrt wissen.
"Du weisst eine sehr schöne Geschichte über Eisblumen und ich bitte dich, sie mir zu erzählen. Das geht jetzt vielleicht auch ohne Fisch, oder?"
Und plötzlich erinnert sie sich an diese Geschichte. Aber irgendwie ist das alles zu absurd, um es zu erzählen. Und sie hat es in ziemlich tiefen Schichten ihres Bewusstseins vergraben. Weshalb eigentlich?
Weil es wie ein Märchen war? Weil sowieso niemand ihr Glauben geschenkt hätte, wenn sie es erzählt hätte?
Sie waren Kinder gewesen und in einem Alter, in dem man denkt, man sei furchtbar lustig und intelligent, wenn man am Kiosk nach Dubidumm-Bonbons fragt. Die Art Scherz halt, der seit Generationen, manchmal leicht variiert, die Kinder immer wieder von neuem in Begeisterung versetzt und den die meisten Erwachsenen gutmütig hinnehmen, weil sie als Kinder auch einmal auf dem gleichen Trip gewesen sind.
Flurina und ihre Freundin aber begnügen sich nicht mit dem - buchstäblich ausgelutschten - Bonbonscherz. Sie gehen in Blumenläden und fragen nach Eisblumen.
Und sie finden es köstlich, die Gesichter der Blumenverkäufer zu sehen und sie erklären zu hören, dass Eisblumen ja eigentlich in dem Sinne gar keine Blumen seien, oder noch köstlicher ist es, wenn jemand im Laden steht, der nicht so richtig Bescheid weiss, und beim Chef nachfragen muss, ob man Eisblumen bestellen könne.
Eines Tages macht ein neuer Blumenladen in Flurinas Strasse auf und sie freut sich, ihren Scherz wiedermal anbringen zu können.
Als sie den Laden betritt und nach Eisblumen fragt, erlebt sie eine grosse Überraschung.
Der alte, kleine Mann, der den Laden betreibt, lächelt sie an und sagt: "Aber natürlich haben wir Eisblumen. Wir sind berühmt dafür. Komm mit, ich zeige sie dir."
Und damit öffnet er die Tür zum hinteren Raum des Ladens und führt Flurina zu einer grossen Tiefkühltruhe. Als er sie öffnet, sieht Flurina, dass sie über und über gefüllt ist mit den allerschönsten, zartesten Eisblumen.
"Such dir die Schönste aus! Weil du die Erste bist, die danach gefragt hat, schenke ich sie dir.", sagt der Blumenverkäufer mit einem Lächeln.
Flurina beugt sich tief über die Truhe und bewundert die zarten Gebilde. Es ist nicht einfach, sich für eine davon zu entscheiden, sie sind alle wunderschön.
Schliesslich deutet sie auf ein besonders langstieliges Gebilde, das entfernt an eine Margerite erinnert, nur dass die einzelnen Blütenblätter wie aneinander gereihte Riesenschneekristalle aussehen und die Blütenmitte einer in Facetten geschliffenen, gefrorenen Träne gleicht, auf der das Licht reflektiert wie auf einem Diamanten.
"Eine gute Wahl, die du da getroffen hast," meint der alte Mann anerkennend. "Ich sehe schon, du hast den Blick dafür."
Er greift behutsam nach der Blume, trägt sie in den Vorderraum und wickelt sie sorgfältig in weisses Seidenpapier. Dann legt er das Päckchen in den Korb, den Flurina dabei hat und verabschiedet sich mit einem Händedruck von ihr.
 
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