AW: NATO-Gipfel in Baden-Baden und Straßburg
Da ich eigentlich noch nie wirklich in Deutschland war, abgesehen von einem sehr lange zurückliegenden Kurzaufenthalt in München und ein paar Transitaufenthalten auf deutschen Flughäfen, nehme ich Deine Schilderung einmal her und stelle mir Deutschland vor:
Ein armes Land, in dem es unzählige Obdachlose, Kinderarmut gibt, ein Land in dem die Menschen offenbar nicht genug zu essen haben, verhungerte Jugendliche, die aus Hunger auf die Straße gehen müssen, um ihr Recht auf Nahrung einzufordern. Ein Land in dem offenbar keine Demokratie herrscht, sondern Menschen zu Zwangsarbeit getreiben werden, so wie in Alexander Solscheninzyns "Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch". Mit einer Bestie als Innenminister, der sein Volk mit Militärgewalt unterdrückt. Ich stelle mir die Wellblechhüttensiedlungen in Frankfurt am Main, in Hamburg, in Berlin und Düsseldorf einmal vor.
Aber wo kommen bloß diese vielen Deutschen her, die hier bei uns (und nicht nur bei uns) ihr Geld ausgeben? Seltsam... Werden all die hübschen Dinge, auf denen Made in Germany steht von Zwangsarbeitern hergestellt? Das täte mir aber leid, da ich damit ein Terrorregime unterstütze, gegen das die Jugendlichen revoltieren sollen, die wiederum von einem Innenminister durch Militäreinsätze niedergehalten werden müssen. Und meinem Nachbarn werde ich ordentlich die Leviten lesen, weil er einen VW fährt... Seltsam auch, daß einige Österreicher dort einen guten Job haben und ein recht beschauliches Leben führen, in Wohlstand, wahrscheinlich Adepten des schrecklichen Regimes.
Und so ein verarmtes Land feierte 2006 eine Riesenparty, die WM, von der die Welt zwar begeistert war, aber was bedeutet das schon.
So, Scherz beiseite.
Nicht bös sein, Deutschland gehört zu den Ländern mit höchstem Wohlstand, das sagt jeder internationale Ländervergleich.
Es gibt keine perfekte Welt, schon gar nicht den "idealen" Menschen, eine freie Gesellschaft kann nicht jedem die Eigenverantwortung abnehmen, sie ist alles andere als vollkommen wie eben der Mensch. Der Staat kann nur bestimmte schwierige Lebenssituationen abfedern, aber dem Bürger von der Wiege bis zur Bahre alles bezahlen, das würde seine Kapazitäten überschreiten. Wie soll eine Nation mit 80 Millionen Einwohnern das bewältigen? Das geht selbst im kleinen Österreich nicht. Damit eine gewisse soziale Absicherung gewährleistet ist, bedarf es der Steuergelder des verhaßten Bürgerlichen, oder etwa nicht? Nein, da muß man ihm schon sein Eigentum kaputtschlagen bei einem reschen Krawall...
Bezüglich der Abwanderung von Arbeitsplätzen, da tragen wir alle Mitschuld, da wir die billigen Importwaren nur allzugerne gekauft haben. Und was die Leiharbeit betrifft, habe ich an anderer Stelle schon Stellung bezogen, weil ich selbst in so einer Firma gehackelt habe, ist allerdings schon sehr lange her...
Aber, um dies zu einem Ende zu bringen: Was bitteschön stellen sich gewisse Herrschaften, die randalieren denn für eine Gesellschaft vor? Das Kollektiv, alle im Mao-Kostüm mit 10m2 Wohnfläche pro Mensch und dreimal Brei am Tag? Oder Tanzen und Malen wie dereinst Ochtasechzg (68)? Zurück in die Höhlen, und alle sind nackert? Oder den genetisch gezüchteten Menschen, wo alle Zwillingsbrüder- und Schwestern sind?
Ich fürchte eine Despotie, in der ich nicht leben möchte...
Die Situation in Deutschland ist die, daß es hier tatsächlich insoweit einen Rechtsstaat gibt, als und solange der einzelne Bürger seinem Beamten, der den Staat vertritt, Recht gibt. Der Beamte wiederum erhält durch die Gesetzgebung immer mehr "Spielraum" zu eigenen Entscheidungen, was jetzt eine höfliche Umschreibung für staatlich legitimierte Willkür sein soll, die durch die Salamitaktik des langsamen Sozialstaatsabbaus auch kaum ins tagespolitische Blickfeld kommt. Solange man nur wenig mit Beamten zu tun hat, hat man auch tatsächlich den Eindruck, hier sei alles "in bester Ordnung". Also, um das ein wenig zu präzisieren, solange du hier einen 40-Wochenstundenjob mit anständig Einkommen und das übliche Brimborium der soziokulturellen Ausgestaltung der Leistungs- und Konsumgesellschaft zur Verfügung hast, will dir keiner was
Du liest zwar auch dann jeden Tag darüber, daß dich der Verfassungsschutz mal wieder ausgeschnüffelt hat, daß die Verantwortungsträger in der Wirtschaft soeben wieder Zehntausende entlassen haben und sich selbst gleichzeitig einen Millionenbonus genehmigt haben, daß dein Arzt dich diesen Monat nicht mehr gern behandeln mag, weil du Kassenpatient bist und du bereits im zweiten Monat des laufenden Quartals keinen Profit mehr bringst. Du liest also, daß hier in Deutschland solche politischen Ungeheuerlichkeiten abgehen, daß du manche Artikel inzwischen - fälschlicherweise! - eigentlich nur für einen Aprilscherz hältst.
Aber dann wird dir klar: es ist kein Scherz. Es ist echt die Wahrheit. Und du liest täglich von solchen Vorgängen, die - hätten sie vor zwanzig Jahren in Deutschland stattgefunden - innerhalb weniger Tage zu Generalstreik und Straßenschlachten im ganzen Land geführt hätten. Und zum Sturz der Regierung! Aber es ist 2009 und nicht 1989. Kein Geschrei mehr wie etwa "wir sind das Volk". Stattdessen Dummschwätzerei von jenem Bevölkerungsdrittel gutbetuchter Fettsäcke, die selber noch niemals zum Arbeitsamt oder Sozialamt gehen mußten, und das meist lediglich deshalb, weil der Lebensstandard schon seit Generationen durch Familienvermögen abgesichert ist. Mit einigen Zehntausi - und häufig auch Hunderttausi - von Papa und Mama kann man auch leicht seine Fresse aufreißen und die weniger Glücklichen mit all der Arroganz des bürgerliches Sparbuchs vollsabbern: geh' dich waschen und rasieren, dann kriegst du auch Arbeit - soweit das Zitat eines ehemaligen SPD-Chefs zu einem Arbeitslosen.
Schaut man sich mal bewußter in der Konsumrepublik Deutschland um, dann liest du auf wenigstens 80 Prozent der Waren die Aufschrift "Made in China". Ok, soweit ist also schon was dran an der Bemerkung, daß die Arbeitsplatzmisere auch was mit unser aller Kaufverhalten zu tun hat. Geiz macht eben nicht geil, sondern - längerfristig - arbeitslos. Aber trotzdem wird das Wesentliche stets verschwiegen: das Bruttoinlandsprodukt! Es steigt nämlich, mit nur wenigen kleinen Knacksern zwischendrin, seit Jahrzehnten. Immer nur steigend, immer mehr wird in Deutschland an Werten geschaffen - auf welche Weise auch immer. Das ganze Zeugs an Waren ist doch da, der jährlich neu geschaffene Güterreichtum steigt immer weiter, und trotzdem wird die andere Zweidrittelseite der Inlandsbevölkerung immer ärmer...
Das ist so wichtig, daß man sich das nochmal auf der Zunge zergehen lassen muß: es ist eine Lüge, daß in Deutschland "das Geld fehlt", sei es für Investitionen, die Arbeitsplätze schaffen würden, sei es für Sozialleistungen des Staates, die ein menschenwürdiges Leben auch dem "unteren" Drittel ermöglichen würde. Es geht nämlich gar nicht ums "Geld" - das versucht man lediglich dem wirtschaftstheoretisch unbedarften und sowieso leicht manipulierbaren Teil des Volkes weiszumachen. Es geht letztendlich - und gerade das hat auch diese "Finanzkrise" so schön gezeigt - immer nur um die Realwirtschaft, also um die tatsächlich produzierten Güter!
"Geld" ist nur ein Fiktivum, ein Spielball auf den Weltmärkten, mit dem stets diejenigen besonders elegant und gewinnbringend umgehen konnten, die auch die Regeln dazu erfunden - oder zumindest verteidigt - haben. Und das ist der springende Punkt: die gutbetuchten Fettsäcke - pardon: Geldsäcke - wollen weiterhin ihr Spielcasino - genannt "globalisierte Weltwirtschaft" - betreiben. Also weiterhin abzocken, nur für den eigenen Profit kämpfen und damit jenem Bevölkerungsteil der Erde die Solidargemeinschaft verweigern, der eben mangels Kapital nicht "mitspielen" kann. Egal ob HartzIV-Empfänger in Deutschland oder obdachloser Bettler ohne Stütze in Indien: hast du keine Kohle, hast du Pech gehabt! Ja, und wenn es darum geht, den Wohlhabenden in Deutschland den Anblick von verhungernden Bundesbürgern zu ersparen, wird sogar Väterchen Staat schwach und wagt sich ins Spielfeld der praktizierten Kriminalität. Fällt ja dem dummen Wahlvolk auch nicht weiter auf, wenn von staatlichen Stellen fortlaufend Gesetze gebrochen werden. Und wenn ein Bekannter mal wieder erzählt, was ihm neulich auf dem XY-Amt widerfahren ist, kann man zum Selbstschutz vor der Wahrheit abwinken: hey, du übertreibst. Das ist doch Schwarzmalerei. Was du erzählst, sowas gibt es doch gar nicht, doch nicht in einem Rechtsstaat!
Ja Himmelherrgott, sind wir denn nur noch deswegen in einem "Rechtsstaat", weil das Bundesverfassungsgericht gottseidank immer noch wachgeblieben ist und die schlimmsten Rechtsbrüche unserer eigenen Regierung der letzten Jahre an den Pranger gestellt hat?!?! Jedenfalls benutzen die roten Richter immer öfter diesselbe Vokabel: "verfassungswidrig". Nur schade, daß es im Rechtsstaat nicht vorgesehen ist, gleich die gesamte Regierungsbank samt Verwaltungsstrukturen mit diesem Urteil aufzulösen.
Aber, gemach, gemach! Wir wissen ja, daß alles ein Kreislauf ist, daß wir schwerlich einen einzigen Ast als faul identifizieren können, um diesen dann heilsbringend abzusägen. Wir wissen auch, daß das Kritisieren maroder Strukturen immer einfacher ist, als die Herstellung von funktionierenden Strukturen. Was also tun?
Um diesen Punkt an Wahrheit kommen wir also nicht herum, wenn es ehrlich zugehen soll: es muß auf jeden Fall umverteilt werden. Es muß auf jeden Fall einigen Leuten hier in Deutschland - und natürlich auch weltweit - etwas weggenommen werden, damit man das Weggenommene anderen geben kann. Das wird einmalig in großem Stil erforderlich sein - und wiederkehrend im Rahmen eines schon in Ansätzen praktizierten sozialen Ausgleichs. Diese Wahrheit soll aber unterdrückt werden. Ebenso wie die Wahrheit um die Folge, wenn die Umverteilung nicht rechtzeitig stattfinden sollte. Die notwendige Umverteilung läßt sich nämlich nicht aufhalten, sondern nur verschieben. Findet kein Dialog zur friedlichen Gestaltung dieser sozialen Revolution statt, wird sich das Volk die Umverteilung irgendwann mit Gewalt holen. Hoffen wir also, daß der Rechtsstaat rechtzeitig erkennt, daß er sich mutig auf die Seite der Umverteilung stellen muß, wenn er nicht von der politischen Entwicklung überrollt werden will.
Der Rote Baron