AW: Medizin oder Kommerz?
Machbarkeitswahn und ausuferndes Anspruchsdenken.
Im Rahmen der TV-Sendereihe "kreuz und quer" wurde gestern abend
auf ORF2 eine Diskussion über Exzesse in der Medizin gesendet.
Solche schwere Kost kann dem Publikum natürlich nicht zur Primetime
zugemutet werden, sondern wird frühestens ab 23:30 Uhr ausgestrahlt.
Der unmittelbare Anlass für diese Diskussion war zwar die geplante Änderung
der gesetzlichen Regelungen im Bereich der Fortpflanzungsmedizin,
aber die angeschnittenen Fragestellungen gehen sehr viel tiefer.
In letzter Konsequenz geht es bei den zugrundeliegenden Fragen darum,
welche Ansprüche jeder Mensch legitimerweise stellen kann
und gegen wen sich diese Ansprüche richten sollen, d.h.,
wer denn nun eigentlich zur Erfüllung dieser Ansprüche verpflichtet ist.
Hat jeder Mensch legitimerweise einen Anspruch auf
eine bestimmte Beschaffenheit seines eigenen Körpers?
Hat jedes Paar einen Anspruch
auf ein Kind mit blonden Locken und blauen Augen?
Hat jedes Paar einen Anspruch
auf ein Kind mit einem Intelligenzquotienten größer als 130?
Hat jedes Paar einen Anspruch auf ein gesundes Kind?
Hat jedes Paar überhaupt einen Anspruch auf ein Kind?
...
In der Vergangenheit wurden falsche Antworten auf diese Fragen gegeben,
was zu einem langen Rattenschwanz von Fehlentwicklungen im Bereich
der Medizin geführt hat.
Zu Exzessen in der plastischen Chirurgie (Schönheitsoperationen),
zu einer weit überhöhten Häufigkeit von Entbindungen durch Kaiserschnitt
(in manchen Kliniken erfolgen mehr als 30% der Entbindungen durch Sectio,
obwohl sie nur bei einem niedrigen einstelligen Prozentsatz medizinisch
indiziert ist), zur Pränataldiagnostik, zur künstlichen Befruchtung,
zur Präimplantationsdiagnostik, zur Samenspende, zur Eispende,
zur Leihmutterschaft, usw..
Bei all diesen problematischen Entwicklungen drängt sich der Eindruck auf,
dass neben einem weit überzogenen Anspruchsdenken
ein ausufernder Machbarkeitswahn
sowie eine weitgehende kommerzielle Nutzbarmachung des menschlichen Körpers
mit prosperierendem Organhandel dahinter steckt.
Wer sind aber die Schuldigen an diesen Fehlentwicklungen ?
Sind es jene Ideologen politischer Parteien,
die einen bestimmten Lebensentwurf als den einzig erstrebenswerten hinstellen
und so beim lemmingartigen Publikum umfangreiche Begehrlichkeiten wecken,
die gleichzeitig dem Publikum auch suggerieren, es hätte einen Anspruch
auf Erfüllung dieser Wünsche?
Sind es andere Meinungsmanipulations-Gurus, die diesem Publikum mit Erfolg
einreden, dass ein Mensch nur dann wertvoll und begehrenswert ist,
wenn sein Körper die von den Gurus festgelegten Merkmale aufweist
(Nasenform, Backenknochenform, Brustgröße, Beinlänge, etc.)?
Sind es die Schönheits-Chirurgen,
die von der Blödheit dieser Lemminge nicht schlecht leben?
Sind es die Fortpflanzungsmediziner,
die den Machbarkeitswahn befördern und davon gut leben?
Und schließlich, welche Schuld trifft die vielen Lemminge selbst,
die bei all diesen Verrücktheiten bereitwillig mitmachen?
> Das musste auch einmal in aller Klarheit gefragt werden. <
Toll, dass Sie dieses Thema hier aufgreifen. ich hatte das vor Wochen schon einmal versucht. Es war nach 2 Tagen unterm Teppich. Lieber säuselt man sich mit Fragen über Religion und Sex gegenseitig was vor.
Ein Frauenarzt verdient für eine Krebsvorsorgeuntersuchung ca. 12 €. Eine Kinderwunschbehandlung kann in die 20 000 € gehen.
Es dürfte klar sein, warum also die "Geschäftsleute" unter uns lieber Kinder produzieren helfen, als profane Gynäkologie zu betreiben.
Und zu "Geschäftsleuten" möchte man uns Ärzte schon seit vielen Jahren öffentlich erklären. Zumindest steuerlich stimmt das auch, allerdings nicht, wenn es um die Einkunftsmöglichkeiten geht. Die sind für Ärzte drastisch beschränkt, reglementiert und total bürokratisiert.
Zu den häufigen Kaiserschnitten: ich weiß nicht , wie weit allgemein bekannt ist, dass es schon seit ca. 15 Jahren den sogenannten "Wunsch-Kaiserschnitt"
in den Angeboten von Krankenhäusern gibt. Diese "Angebote" sind Auswüchse von mißverstandenem "Dienstleistungsservice" in Krankenhäusern, die ja ebenfalls als "Unternehmen" zu funktionieren haben.
Es ist mehr als verständlich, wenn eine Hochschwangere nach einem Gespräch mit einer frisch entbundenen Frau, die ihr die "Tortur" einer mehr als 18-stündigen Geburtsdauer äußerst plastisch geschildert hat - einen Wunsch-Kaiserschnitt anstrebt: kurze Schlafphase, oder sogar relative Wachheit bei Periduralanästhesie - keine Schmerzen - und zack - hält man das rosige Baby im Arm.
Warum es noch Frauen gibt, die sich einer sogenannten "Spontangeburt" aussetzen, ist kaum verständlich. An die Risiken des Kaiserschnitts für Mutter - und Kind - möchte man nicht erinnert werden. Das gilt sowohl für werdende Mütter, als auch für die "Dienstleister" unter den Ärzten.
Wer stellt denn noch Indikationen in der Medizin ?
Höchstens der Notfallarzt, der Unfallchirurg. Alles andere ist mit einem Katalog an Menuepunkten versehen. "Hätten Sie gern.....?"
Die Entwicklung zum medizinischen Dienstleistungssystem hat natürlich auch für die entsprechende Nachfrage der Kundschaft gesorgt.
Die ganze Chose der jetzt aufblühenden Möglichkeiten der Kinderwunschbehandlung entwickelt eine Eigendynamik, die etwa analog zur Schönheitschirurgie fortschreitet. Grenzen sind unter dem alles beherrschenden Aspekt der kapitalistischen Dienstleistungsgesellschaft weitgehend weggeräumt worden.
Ich selber habe noch Zeiten erlebt, in denen der Begriff "Sterilität" bei Mann und/oder Frau zu einer "Sterilitätsbehandlung die Indikation lieferte. Als ich auf einem Kongress in München den Professor Diedrich aus Lübeck fragte, warum man die Bezeichnung in "Kinderwunschbehandlung" geändert habe, antwortete er mit einem Schmunzeln : " das hört sich schöner an.."
Klar, wenn der Partner in Dortmund wohnt, die Partnerin aber in Berlin, was dazu führt, dass man sich nur ca. alle 4 Wochen begegnet, dann kann das zu einem "unerfüllten Kinderwunsch" führen. Früher hätte man in solchen Fällen empfohlen, dass die Partner doch möglichst zusammenziehen sollten. Heute läßt man in Dortmund Spermien einfrieren, die dann in Berlin nach entsprechender hightech-Vorbereitung per ICSI eine oder mehrere Schwangerschaften erzeugen sollen. Elegant !
Ja, warum dann nicht auch weibliche, befruchtungsfähige Eier mit 25 einfrieren lassen, um dann - nach Erreichung eines Vorstandssitzes bei der Deutschen Bank mit 48 die Verwendung für die Nachkommenschaft anzustreben ?
Das ist alles derart krank, dass man als alter Mediziner Alpträume bekommt.
Leider sind es aber gerade die alten Professoren, die mit sattem Pensionärs-Salär - immer noch auf Kongressen, in Interviews hofiert - keinen Makel an dieser Entwicklung sehen, sondern im Gegenteil: diese geradezu anfeuern.-
Perivisor