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Lieblingsgedichtssammlung

AW: Lieblingsgedichtssammlung

Vermächtnis

Kein Wesen kann zu Nichts zerfallen!

Das Ew'ge regt sich fort in allen,

Am Sein erhalte dich beglückt!

Das Sein ist ewig: denn Gesetze

Bewahren die lebend'gen Schätze,

Aus welchen sich das All geschmückt.



Das Wahre war schon längst gefunden,

Hat edle Geisterschaft verbunden;

Das alte Wahre, faß' es an!

Verdank' es, Erdensohn, dem Weisen,

Der ihr, die Sonne zu umkreisen,

Und dem Geschwister wies die Bahn.



Sofort nun wende dich nach innen,

Das Zentrum findest du dadrinnen,

Woran kein Edler zweifeln mag.

Wirst keine Regel da vermissen:

Denn das selbständige Gewissen

Ist Sonne deinem Sittentag.



Den Sinnen hast du dann zu trauen,

Kein Falsches lassen sie dich schauen,

Wenn dein Verstand dich wach erhält.

Mit frischem Blick bemerke freudig,

Und wandle sicher wie geschmeidig

Durch Auen reichbegabter Welt.



Genieße mäßig Füll und Segen,

Vernunft sei überall zugegen,

Wo Leben sich des Lebens freut.

Dann ist Vergangenheit beständig,

Das Künftige voraus lebendig,

Der Augenblick ist Ewigkeit.



Und war es endlich dir gelungen,

Und bist du vom Gefühl durchdrungen:

Was fruchtbar ist, allein ist wahr;

Du prüfst das allgemeine Walten,

Es wird nach seiner Weise schalten,

Geselle dich zur kleinsten Schar.



Und wie von alters her im stillen

Ein Liebewerk nach eignem Willen

Der Philosoph, der Dichter schuf,

So wirst du schönste Gunst erzielen:

Denn edlen Seelen vorzufühlen

Ist wünschenswertester Beruf.


Mein absolutes Lieblingsgedicht von Goethe.
 
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AW: Lieblingsgedichtssammlung

ERKLÄR MIR, LIEBE

Dein Hut lüftet sich leis, grüßt, schwebt im Wind,
dein unbedeckter Kopf hat's Wolken angetan,
dein Herz hat anderswo zu tun,
dein Mund verleibt sich neue Sprachen ein,
das Zittergras im Land nimmt überhand,
Sternblumen bläst der Sommer an und aus,
von Flocken blind erhebst du dein Gesicht,
du lachst und weinst und gehst an dir zugrund,
was soll dir noch geschehen-

Erklär mir, Liebe!

Der Pfau, in feierlichem Staunen, schlägt sein Rad,
die Taube stellt den Federkragen hoch,
vom Gurren überfüllt, dehnt sich die Luft,
der Entrich schreit, vom wilden Honig nimmt
das ganze Land, auch im gesetzten Park
hat jedes Beet ein goldner Staub umsäumt.

Der Fisch errötet, überholt den Schwarm
und stürzt durch Grotten ins Korallenbett.
Zur Silbersandmusik tanzt scheu der Skorpion.
Der Käfer riecht die Herrlichste von weit;
hätt ich nur seinen Sinn, ich fühlte auch,
dass Flügel unter ihrem Panzer schimmern,
und nähm den Weg zum fernen Erdbeerstrauch!

Erklär mir, Liebe!

Wasser weiß zu reden,
die Welle nimmt die Welle an der Hand,
im Weinberg schwillt die Traube, springt und fällt.
So arglos tritt die Schnecke aus dem Haus!

Ein Stein weiß einen andern zu erweichen!

Erklär mir, Liebe, was ich nicht erklären kann:
sollt ich die kurze schauerliche Zeit
nur mit Gedanken Umgang haben und allein
nichts Liebes kennen und nichts Liebes tun?
Muss einer denken? Wird er nicht vermisst?

Du sagst: es zählt ein anderer Geist auf ihn...
Erklär mir nichts. Ich seh den Salamander
durch jedes Feuer gehen.
Kein Schauer jagt ihn, und es schmerzt ihn nichts.

-Ingeborg Bachmann-​
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

DIE KINDER DIESER WELT

Die Kinder dieser Welt hab ich gesehen.
Mein Bruder hatte sie eingeladen
Über die sieben Berge zu fahren.
Über die sieben Berge fuhren
Die Kinder dieser Welt.

Auf dem ersten Berg war Jahrmarkt.
Die Kinder riefen, halt an.
Da tanzten über dem Rasenzelt
Milchblaue Bälle mit Nasen.
Haben, riefen die Kinder der Welt.

Auf dem zweiten Berg lief der Sturmwind
Und die Kinder schrien, hol ein.
Sie stampften und griffen ins Steuerrad
Sie ließen die Hupe gellen.
Ich weiß nicht, was mein Bruder tat
Um ihrer Herr zu sein.

Auf dem dritten Berg stand die Nebelkuh
Und leckte über das Gras.
Da machten die Kinder die Augen zu
Sie fragten, sind wir nicht blaß?
Wir stürzen in die tiefe Schlucht.
Wer weiß, wer unsre Knöchlein sucht.
Sterben, sagten die Kinder der Welt.

Auf dem vierten Berg war ein Wasser.
Und mein Bruder sagte, vorbei.
Da wollten die Kinder ihn schlagen
Sie sprangen vom fahrenden Wagen
Mitten in den See.
Sie schwammen dort in der Runde
Tief unten am steinigen Grunde
Wie die Kinder der Lilofee.

Auf dem fünften Berg schien die Sonne
Wie sieben Sonnen klar.
Da streckten die Kinder die Arme aus
Und beugten sich weit zu den Fenstern heraus
Mit wehendem Haar
Und winkten und sangen laut dabei
Wie süß die sündige Liebe sei.
Küssen, sangen die Kinder der Welt.

Um den sechsten Berg schlich der Mondmann
Klein und gebückt.
Seinen Hund an der Leine.
Da rückten die Kinder zusammen.
Mein Vater ist verrückt
Mein Bruder hat keine Beine
Meine Mutter ist fortgegangen
Kommt nicht zurück...

Auf dem siebenten Berg war kein Haus
Und mein Bruder sagte, steigt aus.
Da wurden sie alle traurig
Und ließen die Luftballons los
Und das lieblichste übergab sich
Gerade in seinen Schoß.

Sie gingen eins hierhin, eins dorthin
Die kleinen Fäuste geballt
Und wir hörten sie noch von ferne
Trotzig singen im Wald.

Marie Luise Kaschnitz

Aus: Kaschnitz - Gedichte, insel taschenbuch 2803​
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

DIE GROßE FRACHT

Die große Fracht des Sommes ist verladen,
das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.
Die große Fracht des Sommers ist verladen.

Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit,
und auf die Lippen der Gallionsfiguren
tritt unverhüllt das Lächeln der Lemuren.
Das Sonnenschiff im Hafen liegt bereit.

Wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit,
kommt aus dem Wasser der Befehl zu sinken;
doch offnen Augs wirst du im Licht ertrinken,
wenn hinter dir die Möwe stürzt und schreit.

Ingeborg Bachmann
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Glaub' mir, daß kein Atom
verlorengeht dem All,
kein Tropfen aus dem Strom,
kein Blatt im Fall.
Auch kein Gedanke, kein
Verlangen, nichts...
Erkenne dies und schreib' dich ein
ins Buch des Lichts.

Hermann_Lingg
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Herbstmanöver

Ich sage nicht: das war gestern. Mit wertlosem
Sommergeld in den Taschen liegen wir wieder
auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.
Und der Fluchtweg nach Süden kommt uns nicht ,
wie den Vögeln, zustatten. Vorüber am Abend,
ziehen Fischkutter und Gondeln, und manchmal
trifft mich ein Splitter traumsatten Marmors,
wo ich verwundbar bin, durch Schönheit, im Aug.

In den Zeitungen lese ich viel von der Kälte
und ihren Folgen, von Törichten und Toten,
von Vertriebenen, Mördern und Myriaden
von Eisschollen, aber wenig, was mir behagt.
Warum auch? Vor dem Bettler, der mittags kommt,
schlag ich die Tür zu, denn es ist Frieden
und man kann sich den Anblick ersparen, aber nicht
im Regen das freudlose Sterben der Blätter.

Lasst uns eine Reise tun! Lasst uns unter Zypressen
oder auch unter Palmen oder in den Orangenhainen
zu verbilligten Preisen Sonnenuntergänge sehen,
die nicht ihresgleichen haben! Lasst uns die
unbeantworteten Briefe an das Gestern vergessen!
Die Zeit tut Wunder. Kommt sie uns aber unrecht,
mit dem Pochen der Schuld: wir sind nicht zu Hause.
Im Keller des Herzens, schlaflos, find ich mich wieder
auf der Spreu des Hohns, im Herbstmanöver der Zeit.

Ingeborg Bachmann​
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Auch Wüsten in Köpfen vermögen zu :blume1: - zu jeder Jahreszeit...

Auf deinen Kopf bezogen glaube ich das gerne, da gibt es sicher eine farbenprächtige Frühlingswiese :blume1::blume2::blume1:, aber Überzeugungen können auch verhärtet wie Granit sein, den man nicht durchdringen kann :wut3:
und da wächst da lange Zeit gar nichts.

Liebe Grüße aus der Oase
Kaawi :):blume1:
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Für einen durstigen Wüsten-Wanderer ist die Oase das Paradies = das blühende Leben ...:blume1::blume1:
Liebe Grüße, moebius :blume2:
 
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Sonett Nr. 19

Nur eines möcht ich nicht: daß du mich fliehst.
Ich will dich hören, selbst wenn du nur klagst.
Denn wenn du taub wärst, bräucht ich, was du sagst
Und wenn du stumm wärst, bräucht ich was du siehst

Und wenn du blind wärst, möcht ich dich doch sehn.
Du bist mir beigesellt als meine Wacht:
Der lange Weg ist noch nicht halb verbracht
Bedenk das Dunkel, in dem wir noch stehn!

So gilt kein "Laß mich, denn ich bin verwundet!"
So gilt kein "Irgendwo" und nur ein "Hier"
Der Dienst wird nicht gestrichen, nur gestundet.

Du weißt es: wer gebraucht wird, ist nicht frei.
Ich aber brauche dich, wie's immer sei
Ich sage ich und könnt auch sagen wir.

B. Brecht
 
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