• Willkommen im denk-Forum für Politik, Philosophie und Kunst!
    Hier findest Du alles zum aktuellen Politikgeschehen, Diskussionen über philosophische Fragen und Kunst
    Registriere Dich kostenlos, dann kannst du eigene Themen verfassen und siehst wesentlich weniger Werbung

Lieblingsgedichtssammlung

AW: Lieblingsgedichtssammlung

:blume1:
Du musst das Leben nicht verstehen

Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.

Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.


Rainer Maria Rilke, 8.1.1898, Berlin-Wilmersdorf
http://rainer-maria-rilke.de/020015daslebenverstehen.html
:regen:
Oscar Werner : http://www.youtube.com/watch?v=WGkUvSjSlqQ
Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort

Ich fürchte mich so vor der Menschen Wort.
Sie sprechen alles so deutlich aus:
Und dieses heißt Hund und jenes heißt Haus,
und hier ist Beginn und das Ende ist dort.

Mich bangt auch ihr Sinn, ihr Spiel mit dem Spott,
sie wissen alles, was wird und war;
kein Berg ist ihnen mehr wunderbar;
ihr Garten und Gut grenzt grade an Gott.

Ich will immer warnen und wehren: Bleibt fern.
Die Dinge singen hör ich so gern.
Ihr rührt sie an: sie sind starr und stumm.
Ihr bringt mir alle die Dinge um.


Rainer Maria Rilke, 21.11.1898, Berlin-Wilmersdorf
http://rainer-maria-rilke.de/020088fuerchtemichso.html
Oscar Werner : http://www.youtube.com/watch?v=877I4qB0IQk

:trost:
 
Zuletzt bearbeitet:
Werbung:
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Die Bibliothek

Bücher stehn um dich herum:
große, kleine, dünne, dicke,
alte, neue, pow're, schicke,
stehn herum und warten stumm

bis die Leiter du erklimmst
und dann einem dieser Tiere
etwas geistige Wagenschmiere,
jeweils nach Bedarf, entnimmst.

Während aber allgemein,
wo ein Vorrat sich befindet,
dieser durch Konsum verschwindet,
pflegt es hier nicht so zu sein.

Wie der Ranft des Hutzelmanns,
wie der Ölkrug zu sarepte,
der stets aus dem vollen lebte,
bleibt ein Buch intakt und ganz.

Ist das nicht ein schöner Brauch?
Drum, o Mensch, steck' deine Gelder
in gedruckte Geistbehälter
- und die Nase möglichst auch!


Dr. Owlglass
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Frühling

Willkommen, schöne Schäferin
In deinem leichten Kleide,
Mit deinem leichten frohen Sinn,
Willkommen auf der Weide.

Sieh, wie so klar mein Bächlein fließt,

Zu tränken deine Herde!
Komm setz dich, wenn du müde bist,
Zu mir auf die grüne Erde.

Und trübt sich der Sonne goldiger Schein
Und fällt ein kühlender Regen,

Dann ist mein Mantel nicht zu klein,
Wollen beide darunter uns legen.


:blume1: :kuss1: :blume1:

http://de.wikisource.org/wiki/Frühling_(Frank_Wedekind) (1905)

http://www.gedichte.eu/71/wedekind/vier-jahreszeiten/fruehling.php (1909)

BTW: http://de.wikipedia.org/wiki/Frühlings_Erwachen (1891)​
 
Zuletzt bearbeitet:
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Der glückliche Kuckuck
(Humor)
Ein Kuckuck flog einst durch den Wald
es schien, dass er schon ziemlich alt
er schrie "Kuckuck" und lachte laut
ich hab mir heut ein Nest gebaut
die and'ren Vögel dachten still
was der mit einem Nest noch will
nur einer sagte dann ganz leise:
ein Verhältnis mit Frau Meise
die Vögel blickten ernst umher
ein Verhältnis, nein, bloss das nicht mehr
doch jeder dachte so für sich
fast böse schon, warum nicht ich
der Kuckuck singend flog vorbei
ein Ei, ein Ei, jetzt sind's schon zwei
jetzt muss ich rasch zum Nest zurück
doch leider hatte er kein Glück
ein Baum, der ihm im Wege stand,
im freien Fall den Tod er fand
die Vogelschar sprach sehr gelassen:
nun wird er wohl das Fliegen lassen.

Simone Harre-Körnich
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Zwitschere dein Lied, Amsel, und vertreibe Kummer und Sorgen.
In deiner Stimme gibt es eine Stimme, die an das Ohr meines Ohres dringt.
Khalil Gibran

***

Spatz und Spätzin

Auf dem Dache sitzt der Spatz,
Und die Spätzin sitzt daneben,
Und er spricht zu seinem Schatz:
"Küsse mich, mein holdes Leben!

Bald nun wird der Kirschbaum blühn,
Frühlingszeit ist so vergnüglich;
Ach! Wie lieb' ich junges Grün
Und die Erbsen ganz vorzüglich!"

Spricht die Spätzin: "Teurer Mann,
Denken wir der neuen Pflichten,
Fangen wir noch heute an,
Uns ein Nestchen einzurichten!"

Spricht der Spatz: "Das Nestebaun,
Eierbrüten, Junge füttern
Und dem Mann den Kopf zu krauln
Liegt den Weibern ob und Müttern."

Spricht die Spätzin: "Du Barbar!
Soll ich bei der Arbeit schwitzen,
Und du willst nur immerdar
Zwitschern und herumstibitzen?"

Spricht der Spatz: "Ich will dir hier
Mit zwei Worten kurz berichten:
Für den Spatz ist das Pläsier,
Für die Spätzin sind die Pflichten!"

Karl August Mayer
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

(ist zwar kein Gedicht, aber ein Gedicht:) :)

Der schwarze Lord und sein Gefolge

Frisch gebrühter Kaffee dampft neben mir in der Tasse, Croissant mit Erdbeermarmelade liegt auf dem Teller. Eine Hummel brummt Zickzack fliegend vorbei und donnert mit Effet ins Blütenmeer der gelben Kletterrose. Muss ihr wie das Schlaraffenland vorkommen. Davon ist der schwarze Lord weit entfernt. Der harte Boden macht ihm die Wurmsuche schwer. Zwar wittert er fette Beute, kommt aber nur mit Mühe an sie heran. Regenwürmer sind seine Leibspeise. Jetzt, knapp vor zehn Uhr, als aus der Ferne die Kirchenglocken läuten, hat er Hunger.

Schon vor über fünf Stunden war der schwarze Lord wach und servierte ein fröhliches Lied mit perlendem Gesang. Urplötzlich fing er an, Zeter und Mordio zu schmettern und weckte mich unsanft. Irgendein Eindringling war in seinem Revier; deshalb der käckernde Lärm, fast wie ein Huhn, das in Panik Stakkato stammelt, ein Rap-Huhn. Nun hat er sich beruhigt und will sich belohnen, hackt mit dem gelben Schnabel ins Gras. Er, der Amselmann, bohrt hier, zupft dort, hüpft und legt den Kopf quer, wenn er seinen Lauschangriff auf die Welt der Wirbellosen startet. Irgendwo dort unter der Grasnarbe sind sie, das weiß er nur zu genau, der sonderbare Ackerdemiker. Er benimmt sich nicht selten wie ein stolzer Gockel. Dass er mich dabei stets im Visier hat, ist das Ergebnis puren Misstrauens. Ich bin ihm nicht geheuer. Eine falsche Bewegung, und weg ist er. Also bewege ich mich nicht, lasse meinen Kaffee dampfen, mein Croissant warten – und beobachte ihn mit Vergnügen.

Es ist nicht die Zeit, um wissenschaftlich über Armschwingen, Alula oder Schulterfedern zu sinnieren. Vielmehr geht es um ein täglich neu sich formierendes fliegendes, flötendes, singendes Gesamtkunstwerk. Die Töne der Kirchenglocken sind verklungen. Ich habe Platz genommen auf den Stufen, die zu meiner Terrasse führen. Das ist der richtige Ort für ein großes Kino: die heimische Vogelwelt, die so hübsche Namen wie Regulus regulus (Wintergoldhähnchen), Serinus serinus (Girlitz), Pyrrhula pyrrhula (Gimpel) oder Oriolus oriolus (Pirol) bereithält. Der schwarze Lord ist Amselkönig in meinem Garten, geht ruppig auch mit Artverwandten um, wenn sie ihm sein Revier streitig machen wollen. Ich habe ihn schwarzer Lord getauft, weil er stolz wie Hulle aus dem glänzend dunklen Federkleid blickt, seinen gelben Schnabel nach jeder Mahlzeit vornehm im Gras sauberwischt, energisch und erhaben in meinem Garten herrscht. Seine Gattin, im ganzen moppeliger als er, ist dunkelbraun, unterseits rostbraun, und lässt sich seltener blicken.

Die Amsel ist unzweifelhaft ein schöner Vogel und dazu einer der häufigsten Gäste in heimischen Gärten und Parks. Der Mann, der Lord, um die 25 Zentimeter groß, ist ein Meister des Gesangs überdies: abwechslungsreich flötend, mit hohen und tiefen Tönen schon im Morgengrauen. Über den Tag hinweg singt er weniger (wie im Übrigen die gesamte Vogelwelt), sondern ruft zum Beispiel „tschack-ack-ack“, tief „gock“ und sehr hoch „ziiiieh“, bevor er am Abend wieder Lieder mit Crescendo präsentiert. Rufen und singen, darin besteht ein Unterschied. Singvögel singen (bei den meisten Arten nur die Männchen), um ihr Revier abzustecken, und sie rufen, um zu warnen, Alarm zu schlagen oder Kontakt aufzunehmen. Neben den vielfältigsten Federkleidern sind die Stimmen das markanteste Merkmal der Tiere; mancher versteht es sogar exzellent, den Gesang anderer Arten zu imitieren!

Der Lord ist erst mal im Lebensbaum verschwunden. Über mir malen Schäfchenwolken Bilder in den blauen Morgenhimmel und ziehen nur langsam weiter. Vögel sind schneller, denke ich, als ein frecher Trupp Spatzen – Spatzen sind immer frech, das gehört zu ihrem Wesen – auf meinem Grün einherfliegt. Dreiste Punktlandung im Frischgesäten. Dass der Lebensraum des Haussperlings durch Menschenhand kleiner geworden ist, mag stimmen, aber wer sät, so sage ich, wird Spatzen ernten. Ich habe gesät.

Während ich genüsslich ins Croissant beiße, langt auch der Haussperling (Passer domesticus) ordentlich zu. Berliner Tiergarten mag er weniger, lieber teuren Qualitätsgrassamen eines Markenherstellers. Wolf im Schafspelz ist der Spatz, einer mit grauem Scheitel, rostbraunem Nacken, schwarzem Kehllatz und grauem (Männchen) beziehungsweise graubraunem (Weibchen) Bürzel, der selten den Schnabel hält und „tschilp“ und „tschürrp“ singt.

Ich rücke mir die Kappe zurecht und beobachte die rastlos flatterhaften Gäste. Am Morgen klingen sie besonders schön – aber nicht so schön wie die Meisen. Wer ein Kohlmeisenpaar (Parus major) in seinem Garten weiß, dem klingt das Glück ungefähr wie „zizidäh zizidäh“ oder „tita tita“ in den Ohren. Die Kohlmeise ist die bekannteste Meise, auch die größte. –

„Guten Morgen!“ Der Postbote reißt mich aus den morgendlichen Träumereien und bringt wieder nur Rechnungen. Mache ich lieber erst später auf. Erstmal die Meisen beobachten.

„Zizidäh zididäh“. Ein Pärchen wirbelt halsbrecherisch durch die Lüfte und fängt Gutes für die Kleinen im Nest. „Zizidäh zizidäh“. Gut, dass ich das Häuschen an windgeschützter Stelle im alten Boskop aufgehängt habe. Der Meisenkaiser und seine Familie fühlen sich anscheinend sehr wohl darin. „Zizidäh zizidäh“. Überhaupt, so denke ich, muss man viel mehr Vogelhäuser aufhängen; die Bundesregierung sollte eine Quote festlegen. Hier eins, dort ein, da eins. „Zizidäh zizidäh“. Wenn’s geht, mit der Öffnung zur dem Wetter abgewandten Seite hin, dann schauert’s nicht rein. Kohlmeisen wissen das zu schätzen.

„Zi zie zirrr, zi zie zirrr“. Kein Zizidäh? „Zi zie zirrr, zi zie zirrr“. Nö, keines. Wen haben wir denn da? Nicht die Kohl-, sondern die Blaumeise ist es. Silberhell ist ihr Gesang, auffällig blau ihr Scheitel. Ein Blau so schön wie das des Himmels an diesem vollkommenen Morgen, an dem selbst die ungeöffneten Rechnungen nicht stören. Was sind schon ein paar Rechnungen gegen dieses Schauspiel direkt vor der Haustür, gegen diese makellose Silhouette? In den Flügeln und am Schwanz trägt Parus careuleus sein schönestes Blau zur Schau. Ein blaues Kleid mit gelber Unterseite, wie es Karl Lagerfeld nicht schöner hinbekommen würde. Gäbe es in der Vogelwelt eine Prêt-à-Porter-Schau wie in Paris, so stünde die Blaumeise sicher im Mittelpunkt des Interesses. Hier bei mir auch, aber den Laufsteg im alten Apfelbaum verlässt sie geschwind Richtung Nachbarhaus, wo der Frosch gerade vor Wonne zu quaken begonnen hat. Auf Wiedersehen, Meislein, bis später dann, ich warte auf dich. –

Der seichte Wind singt ein Lied aus Liebe und Leidenschaft. Das Gras müsste gemäht werden, später, denke ich, und genieße lieber das Nichtstun, das aufregend genug ist, wenn man Augen und Ohren nur offenhält. Ich rücke mir die Sonnenbrille zurecht und freue mich über den steten Gesang der Feldlerche, die da hoch oben über den Köpfen der Menschen und dieser Siedlung ihr stetes Tirili jubiliert. Sehen, nein, sehen kann ich sie nicht, dazu ist sie zu klein und die Entfernung zu groß. Aber hören kann ich sie, und spüren, spüren wie die Freiheit grenzenlos sein muss, wenn ein Vogel aus seiner Perspektive auf diese Welt herunterblickt, fliegt, fliegt und fliegt. Diese im Kleinen und Alltäglichen so unterschätzte Welt, in der wir Menschen manchen Vogelgesang überhören, nicht wahrnehmen. Deshalb höre ich genau zu. Plötzlich ist da wieder diese fröhlich zwitschernde Stimme, die sich in den Ohren meiner Frau und mir wie „I neeeed youu, I neeed youu“ anhört. So hören wir es heraus, wenn der Buchfink von der Tannenspitze auf uns herniedersingt.

„I need you = Ich brauche dich“ – es mag sein, dass andere Menschen etwas anderes daraus hören, wir aber hören stets „I need you – ich brauche dich“, und das klingt nicht nur wie eine Liebeserklärung, es ist eine.

Kaum 15 Zentimeter Größe erreicht der Buchfink, aber sein Gesang ist laut und schön und hell und sein Antlitz mit dem grünlichen Bürzel mir so vertraut. Bienen summen. Zeit für eine zweite Tasse Kaffee. Warum gibt es eigentlich solche unwichtigen Dinge wie Fernsehen, Konferenzen, Aktienkurse? Gegen die Vogelwelt ist die Börse eine lahmer Haufen von Anzugträgern, die nichts mehr im Sinn haben als den schnöden Mammon. Lieber denke ich an das Rotkehlchen von vor drei Jahren, dass uns einfach mal so in der Küche besucht hat, um einen guten Tag zu wünschen. Schaute. Knickste. Hüpfte raus und flog fort. Stirn, Kopfseite und Brust waren rostrot, wie immer, so als wenn das Rotkehlchen ein Stündelein zu lange im Regen gestanden hätte.

Und ich denke an den Gartenrotschwanz, der sich unterm Schauer meines Vaters auf dem Lande ein hübsches Nest gebaut hat und ihn mit nahezu wehmütigem Gesang schon dann weckt, wenn selbst die Sonne noch müde über den Horizont gähnt. Und ich denke an den Zaunkönig, klein von Statur, aber mit einer Stimme ausgestattet, die Insekten wie ein Erdbeben vorkommen muss. Troglodytes troglodytes hüpfte vor einigen Tagen aus einer Blumenrabatte, und ich dachte zunächst, es sei eine Maus. Den Schwanz typisch steil aufgerichtet, so als wenn man ein Kleidungsstück dranhängen könnte. Fast ein U-förmiger Vogel. Gesehen habe ich ihn seitdem nicht wieder, ich warte drauf und würde ihm für seinen Auftritt sogar einen roten Teppich ausrollen. Aber gehört, gehört habe ich ihn – und weil dieser Sänger so furchtbar talentiert ist, habe ich mir Fachliteratur zur Brust genommen, um sein Lied in Worte zu fassen. Tatsächlich klingt es in etwa so: „Ti lü ti-ti-ti-ti-ti türr-jü tü-lü tell tell tell tell tell ju terrrrrr-zil“.

Wenn Deutschland das nächste Mal den Superstar sucht, schicke ich meinen Zaunkönig. Die Jury wird begeistert sein.

(aus: Meyers Meinung!)
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Merlin


Wie Merlin
Möcht' ich durch die Wälder ziehn
Was die Stürme wehen,
Was die Donner rollen
Und die Blitze wollen,
Was die Bäume sprechen,
Wenn sie brechen,
Möcht' ich wie Merlin verstehen.

Voll Gewitterlust,
Wirft im Sturme hin
Sein Gewand Merlin,
Daß die Lüfte kühlen,
Blitze ihm bespülen
Seine nackte Brust.

Wurzelfäden streckt
Eiche in den Grund,
Unten saugt versteckt
Tausendfach ihr Mund
Leben aus geheimen Quellen,
Die den Stamm gen Himmel schwellen.

Flattern läßt sein Haar Merlin
In der Sturmnacht her und hin,
Und es sprühn die feurig falben
Blitze, ihm das Haupt zu salben,
Die Natur, die offenbare,
Traulich sich mit ihm verschwisternd,
Tränkt sein Herz, wenn Blitze knisternd,
Küssen seine schwarzen Haare. -

Das Gewitter ist vollbracht,
Stille ward die Nacht;
Heiter in die tiefsten Gründe
Ist der Himmel nach dem Streite;
Wer die Waldesruh verstünde
Wie Merlin, der Eingeweihte!

Frühlingsnacht! kein Lüftchen weht,
Nicht die schwanksten Halme nicken,
Jedes Blatt, von Mondesblicken
Wie bezaubert, stille steht.

Still die Götter zu beschleichen
Und die ewigen Gesetze,
In den Schatten hoher Eichen
Macht der Zaubrer, einsam sinnend,
Zwischen ihre Zweige spinnend
Heimliche Gedankennetze.

Stimmen, die den Andern schweigen,
Jenseits ihrer Hörbarkeiten,
Hört Merlin vorrübergleiten,
Alles rauscht im vollen Reigen.
Denn die Königin der Elfen,
Oder eine kluge Norn
Hält, dem Sinne nachzuhelfen,
Ihm ans Ohr ein Zauberhorn.
Rieseln hört er, springend schäumen
Lebensfluten in den Bäumen;
Vögel schlummern auf den Ästen
Nach des Tages Liebesfesten,
Doch ihr Schlaf ist auch beglückt;
Lauschend hört Merlin entzückt
Unter ihrem Brustgefieder
Träumen ihre künft'gen Lieder.

Klingend strömt des Mondes Licht
Auf die Eich' und Hagerose,
Und im Kelch der feinsten Moose
Tönt das ewige Gedicht.

Nikolaus Lenau
 
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Tannkönig


Am Felsenbruch im wilden Tann
Liegt tot und öd ein niedrig Haus;
Der Efeu steigt das Dach hinan,
Waldvöglein fliegen ein und aus.

Und drin am blanken Eichentisch
Verzaubert schläft ein Mägdelein;
Die Wangen blühen ihr rosenfrisch,
Auf den Locken wallt ihr der Sonnenschein.

Die Bäume rauschen im Waldesdicht,
Eintönig fällt der Quelle Schaum;
Es lullt sie ein, es läßt sie nicht,
Sie sinket tief von Traum zu Traum.

Nur wenn im Arm die Zither klingt,
Da hell der Wind vorüberzieht,
Wenn gar zu laut die Drossel singt,
Zuckt manches Mal ihr Augenlid.

Dann wirft sie das blonde Köpfchen herum,
Daß am Hals das güldene Kettlein klingt;
Auf fliegen die Vögel, der Wald ist stumm,
Und zurück in den Schlummer das Mägdlein sinkt.


Hell reißt der Mond die Wolken auf,
Daß durch die Tannen bricht der Strahl;
Im Grunde wachen die Elfen auf,
Die Silberhörnlein rufen durchs Tal.

»Zu Tanz, zu Tanz am Felsenhang,
Am hellen Bach, im schwarzen Tann!
Schön Jungfräulein, was wird dir bang?
Wach auf und schlag die Saiten an!«

Schön Jungfräulein, die sitzt im Traum;
Tannkönig tritt zu ihr herein,
Und küßt ihr leis des Mundes Saum
Und nimmt vom Hals das Güldkettlein.

Da schlägt sie hell die Augen auf -
Was hilft ihr Weinen all und Flehn!
»Tannkönig, laß mich ziehn nach Haus,
Laß mich zu meinen Schwestern gehn.«


»In meinem Walde fing ich dich«,
Tannkönig spricht, »so bist du mein!
Was hattest du die Mess' versäumt?
Komm mit, komm mit zum Elfenreihn!« -

»Elf! Elf! das klingt so wunderlich,
Elf! Elf! mir graut vor dem Elfenreihn;
Die haben gewiß kein Christentum,
Oh, laß mich zu Vater und Mutter mein!«

»Und denkst du an Vater und Mutter noch,
Sitz aber hundert Jahr allein!«
Die Elfen ziehn zu Tanz, zu Tanz;
Er hängt ihr um das Güldkettlein.

Theodor Storm
 
Werbung:
AW: Lieblingsgedichtssammlung

Die schöne Nacht

Nun verlaß' ich diese Hütte,
Meiner Liebsten Aufenthalt,
Wandle mit verhülltem Schritte
Durch den öden, finstern Wald:
Luna bricht durch Busch und Eichen,
Zephyr meldet ihren Lauf,
Und die Birken streun' mit Neigen
Ihr den süßten Weihrauch auf.

Wie ergötz' ich mich im Kühlen
Dieser schönen Sommernacht!
O wie still ist hier zu fühlen,
Was die Seele glücklich macht!
Läßt sich kaum die Wonne fassen,
Und doch wollt ich, Himmel, dir
Tausend solcher Nächte lassen,
Gäb mein Mädchen eine mir.


Johann Wolfgang von Goethe
 
Zurück
Oben