AW: Lieblingsgedichtssammlung
(ist zwar kein Gedicht, aber ein Gedicht
Der schwarze Lord und sein Gefolge
Frisch gebrühter Kaffee dampft neben mir in der Tasse, Croissant mit Erdbeermarmelade liegt auf dem Teller. Eine Hummel brummt Zickzack fliegend vorbei und donnert mit Effet ins Blütenmeer der gelben Kletterrose. Muss ihr wie das Schlaraffenland vorkommen. Davon ist der schwarze Lord weit entfernt. Der harte Boden macht ihm die Wurmsuche schwer. Zwar wittert er fette Beute, kommt aber nur mit Mühe an sie heran. Regenwürmer sind seine Leibspeise. Jetzt, knapp vor zehn Uhr, als aus der Ferne die Kirchenglocken läuten, hat er Hunger.
Schon vor über fünf Stunden war der schwarze Lord wach und servierte ein fröhliches Lied mit perlendem Gesang. Urplötzlich fing er an, Zeter und Mordio zu schmettern und weckte mich unsanft. Irgendein Eindringling war in seinem Revier; deshalb der käckernde Lärm, fast wie ein Huhn, das in Panik Stakkato stammelt, ein Rap-Huhn. Nun hat er sich beruhigt und will sich belohnen, hackt mit dem gelben Schnabel ins Gras. Er, der Amselmann, bohrt hier, zupft dort, hüpft und legt den Kopf quer, wenn er seinen Lauschangriff auf die Welt der Wirbellosen startet. Irgendwo dort unter der Grasnarbe sind sie, das weiß er nur zu genau, der sonderbare Ackerdemiker. Er benimmt sich nicht selten wie ein stolzer Gockel. Dass er mich dabei stets im Visier hat, ist das Ergebnis puren Misstrauens. Ich bin ihm nicht geheuer. Eine falsche Bewegung, und weg ist er. Also bewege ich mich nicht, lasse meinen Kaffee dampfen, mein Croissant warten – und beobachte ihn mit Vergnügen.
Es ist nicht die Zeit, um wissenschaftlich über Armschwingen, Alula oder Schulterfedern zu sinnieren. Vielmehr geht es um ein täglich neu sich formierendes fliegendes, flötendes, singendes Gesamtkunstwerk. Die Töne der Kirchenglocken sind verklungen. Ich habe Platz genommen auf den Stufen, die zu meiner Terrasse führen. Das ist der richtige Ort für ein großes Kino: die heimische Vogelwelt, die so hübsche Namen wie Regulus regulus (Wintergoldhähnchen), Serinus serinus (Girlitz), Pyrrhula pyrrhula (Gimpel) oder Oriolus oriolus (Pirol) bereithält. Der schwarze Lord ist Amselkönig in meinem Garten, geht ruppig auch mit Artverwandten um, wenn sie ihm sein Revier streitig machen wollen. Ich habe ihn schwarzer Lord getauft, weil er stolz wie Hulle aus dem glänzend dunklen Federkleid blickt, seinen gelben Schnabel nach jeder Mahlzeit vornehm im Gras sauberwischt, energisch und erhaben in meinem Garten herrscht. Seine Gattin, im ganzen moppeliger als er, ist dunkelbraun, unterseits rostbraun, und lässt sich seltener blicken.
Die Amsel ist unzweifelhaft ein schöner Vogel und dazu einer der häufigsten Gäste in heimischen Gärten und Parks. Der Mann, der Lord, um die 25 Zentimeter groß, ist ein Meister des Gesangs überdies: abwechslungsreich flötend, mit hohen und tiefen Tönen schon im Morgengrauen. Über den Tag hinweg singt er weniger (wie im Übrigen die gesamte Vogelwelt), sondern ruft zum Beispiel „tschack-ack-ack“, tief „gock“ und sehr hoch „ziiiieh“, bevor er am Abend wieder Lieder mit Crescendo präsentiert. Rufen und singen, darin besteht ein Unterschied. Singvögel singen (bei den meisten Arten nur die Männchen), um ihr Revier abzustecken, und sie rufen, um zu warnen, Alarm zu schlagen oder Kontakt aufzunehmen. Neben den vielfältigsten Federkleidern sind die Stimmen das markanteste Merkmal der Tiere; mancher versteht es sogar exzellent, den Gesang anderer Arten zu imitieren!
Der Lord ist erst mal im Lebensbaum verschwunden. Über mir malen Schäfchenwolken Bilder in den blauen Morgenhimmel und ziehen nur langsam weiter. Vögel sind schneller, denke ich, als ein frecher Trupp Spatzen – Spatzen sind immer frech, das gehört zu ihrem Wesen – auf meinem Grün einherfliegt. Dreiste Punktlandung im Frischgesäten. Dass der Lebensraum des Haussperlings durch Menschenhand kleiner geworden ist, mag stimmen, aber wer sät, so sage ich, wird Spatzen ernten. Ich habe gesät.
Während ich genüsslich ins Croissant beiße, langt auch der Haussperling (Passer domesticus) ordentlich zu. Berliner Tiergarten mag er weniger, lieber teuren Qualitätsgrassamen eines Markenherstellers. Wolf im Schafspelz ist der Spatz, einer mit grauem Scheitel, rostbraunem Nacken, schwarzem Kehllatz und grauem (Männchen) beziehungsweise graubraunem (Weibchen) Bürzel, der selten den Schnabel hält und „tschilp“ und „tschürrp“ singt.
Ich rücke mir die Kappe zurecht und beobachte die rastlos flatterhaften Gäste. Am Morgen klingen sie besonders schön – aber nicht so schön wie die Meisen. Wer ein Kohlmeisenpaar (Parus major) in seinem Garten weiß, dem klingt das Glück ungefähr wie „zizidäh zizidäh“ oder „tita tita“ in den Ohren. Die Kohlmeise ist die bekannteste Meise, auch die größte. –
„Guten Morgen!“ Der Postbote reißt mich aus den morgendlichen Träumereien und bringt wieder nur Rechnungen. Mache ich lieber erst später auf. Erstmal die Meisen beobachten.
„Zizidäh zididäh“. Ein Pärchen wirbelt halsbrecherisch durch die Lüfte und fängt Gutes für die Kleinen im Nest. „Zizidäh zizidäh“. Gut, dass ich das Häuschen an windgeschützter Stelle im alten Boskop aufgehängt habe. Der Meisenkaiser und seine Familie fühlen sich anscheinend sehr wohl darin. „Zizidäh zizidäh“. Überhaupt, so denke ich, muss man viel mehr Vogelhäuser aufhängen; die Bundesregierung sollte eine Quote festlegen. Hier eins, dort ein, da eins. „Zizidäh zizidäh“. Wenn’s geht, mit der Öffnung zur dem Wetter abgewandten Seite hin, dann schauert’s nicht rein. Kohlmeisen wissen das zu schätzen.
„Zi zie zirrr, zi zie zirrr“. Kein Zizidäh? „Zi zie zirrr, zi zie zirrr“. Nö, keines. Wen haben wir denn da? Nicht die Kohl-, sondern die Blaumeise ist es. Silberhell ist ihr Gesang, auffällig blau ihr Scheitel. Ein Blau so schön wie das des Himmels an diesem vollkommenen Morgen, an dem selbst die ungeöffneten Rechnungen nicht stören. Was sind schon ein paar Rechnungen gegen dieses Schauspiel direkt vor der Haustür, gegen diese makellose Silhouette? In den Flügeln und am Schwanz trägt Parus careuleus sein schönestes Blau zur Schau. Ein blaues Kleid mit gelber Unterseite, wie es Karl Lagerfeld nicht schöner hinbekommen würde. Gäbe es in der Vogelwelt eine Prêt-à-Porter-Schau wie in Paris, so stünde die Blaumeise sicher im Mittelpunkt des Interesses. Hier bei mir auch, aber den Laufsteg im alten Apfelbaum verlässt sie geschwind Richtung Nachbarhaus, wo der Frosch gerade vor Wonne zu quaken begonnen hat. Auf Wiedersehen, Meislein, bis später dann, ich warte auf dich. –
Der seichte Wind singt ein Lied aus Liebe und Leidenschaft. Das Gras müsste gemäht werden, später, denke ich, und genieße lieber das Nichtstun, das aufregend genug ist, wenn man Augen und Ohren nur offenhält. Ich rücke mir die Sonnenbrille zurecht und freue mich über den steten Gesang der Feldlerche, die da hoch oben über den Köpfen der Menschen und dieser Siedlung ihr stetes Tirili jubiliert. Sehen, nein, sehen kann ich sie nicht, dazu ist sie zu klein und die Entfernung zu groß. Aber hören kann ich sie, und spüren, spüren wie die Freiheit grenzenlos sein muss, wenn ein Vogel aus seiner Perspektive auf diese Welt herunterblickt, fliegt, fliegt und fliegt. Diese im Kleinen und Alltäglichen so unterschätzte Welt, in der wir Menschen manchen Vogelgesang überhören, nicht wahrnehmen. Deshalb höre ich genau zu. Plötzlich ist da wieder diese fröhlich zwitschernde Stimme, die sich in den Ohren meiner Frau und mir wie „I neeeed youu, I neeed youu“ anhört. So hören wir es heraus, wenn der Buchfink von der Tannenspitze auf uns herniedersingt.
„I need you = Ich brauche dich“ – es mag sein, dass andere Menschen etwas anderes daraus hören, wir aber hören stets „I need you – ich brauche dich“, und das klingt nicht nur wie eine Liebeserklärung, es ist eine.
Kaum 15 Zentimeter Größe erreicht der Buchfink, aber sein Gesang ist laut und schön und hell und sein Antlitz mit dem grünlichen Bürzel mir so vertraut. Bienen summen. Zeit für eine zweite Tasse Kaffee. Warum gibt es eigentlich solche unwichtigen Dinge wie Fernsehen, Konferenzen, Aktienkurse? Gegen die Vogelwelt ist die Börse eine lahmer Haufen von Anzugträgern, die nichts mehr im Sinn haben als den schnöden Mammon. Lieber denke ich an das Rotkehlchen von vor drei Jahren, dass uns einfach mal so in der Küche besucht hat, um einen guten Tag zu wünschen. Schaute. Knickste. Hüpfte raus und flog fort. Stirn, Kopfseite und Brust waren rostrot, wie immer, so als wenn das Rotkehlchen ein Stündelein zu lange im Regen gestanden hätte.
Und ich denke an den Gartenrotschwanz, der sich unterm Schauer meines Vaters auf dem Lande ein hübsches Nest gebaut hat und ihn mit nahezu wehmütigem Gesang schon dann weckt, wenn selbst die Sonne noch müde über den Horizont gähnt. Und ich denke an den Zaunkönig, klein von Statur, aber mit einer Stimme ausgestattet, die Insekten wie ein Erdbeben vorkommen muss. Troglodytes troglodytes hüpfte vor einigen Tagen aus einer Blumenrabatte, und ich dachte zunächst, es sei eine Maus. Den Schwanz typisch steil aufgerichtet, so als wenn man ein Kleidungsstück dranhängen könnte. Fast ein U-förmiger Vogel. Gesehen habe ich ihn seitdem nicht wieder, ich warte drauf und würde ihm für seinen Auftritt sogar einen roten Teppich ausrollen. Aber gehört, gehört habe ich ihn – und weil dieser Sänger so furchtbar talentiert ist, habe ich mir Fachliteratur zur Brust genommen, um sein Lied in Worte zu fassen. Tatsächlich klingt es in etwa so: „Ti lü ti-ti-ti-ti-ti türr-jü tü-lü tell tell tell tell tell ju terrrrrr-zil“.
Wenn Deutschland das nächste Mal den Superstar sucht, schicke ich meinen Zaunkönig. Die Jury wird begeistert sein.
(aus: Meyers Meinung!)