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Gedanken zum Altern

jüjü1

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Registriert
23. Oktober 2004
Beiträge
38
Spätsommer

Manchmal - eigentlich immer öfter - ertappe ich mich dabei, dass ich mich schon richtig alt fühle. Ich blättere die allgemeine Sterbetafel durch und lese nach. Bei einem erreichten Lebensalter von 46 Jahren habe ich noch eine Lebenserwartung von 29,92 Jahren. Wie lange sind eigentlich 29,92 Jahre? Ich hab`s durchgerechnet es sind 29 Jahre, 11 Monate und 8 Tage. Also ist mein voraussichtliches statistisches Sterbedatum der 9. Januar 2030.
Gut, ich könnte jetzt mal in Brüchen rechnen. Also: Gesamtlebenserwartung rund 76 Jahre, geteilt durch vier gleich exakt 19 Jahre pro Lebensviertel. Viertel deshalb weil ich es dann so schön in die vier Jahreszeiten verteilen kann. Ich rechne: Frühjahr gleich 19 Jahre plus Sommer weitere 19 Jahre ergibt 38 Jahre. Ich bin aber schon 46 Jahre alt und stehe danach mitten im Herbst meines Lebens. Da kann aber doch etwas nicht stimmen! Meine Eltern werden dieses Jahr, so Gott will, 73 Jahre alt und behaupten - und das zusammen mit allen ihren gleichaltrigen Freunden - dass sie es sein, die im Herbst des Lebens stehen!
Nach meiner Rechnung ist das aber tiefer Winter.
Nun auf der anderen Seite muss ich zugeben, dass ich noch nie jemanden habe davon sprechen hören, er stehe im Winter seines Lebens. Das zeigt aber nur, glaube ich, dass diese Bezeichnungen eher eine Standpunktfrage sind. Denn für die einen, die ihre Herbsttage genießen, bin ich ja ein junger Mann, der in der Blüte seines Lebens steht, und so fühle ich mich ja auch. Andererseits, wenn ich meine Neffen befrage, bin ich a) der kleine, dicke Onkel und b) ein Grufti, der kurz davor steht in seine Holzkiste zu krabbeln. Das ist natürlich maßlos übertrieben von diesen pubertierenden Pickelquetschern, aber zugegeben, wenn ich in der Blüte meiner Jahre stünde, wäre für mich Sommer und der ist ja, wie ich selbst gerechnet habe, schon deutlich vorbei. Nein, nein, da hilft kein Jammern, ich bin schon im Herbst angekommen. Schon seit geraumer Zeit blicke ich morgens in den Spiegel und entdecke wieder und wieder neue bunte Blätter, die der Föhn von meinem knorrigen Haupt bläst. Gut, die meisten, eigentlich alle, sind nicht richtig bunt sondern mehr grau, aber vielleicht hat das ja etwas mit meinem nachlassenden Sehvermögen zu tun. Seh-Vermögen, auch so ein Wort. Da steckt doch „Vermögen“ drin. Und Vermögen hat doch eigentlich was mit Besitz und Reichtum zu tun. Mein Seh-Vermögen wird aber geringer, also werde ich ärmer. Als ob es nicht reicht, älter zu werden.
Ich höre übrigens auch immer schlechter. Beschwerden, Kritik, Widerwärtigkeiten nehme ich immer seltener wahr. Ich lebe in mir selbst und für mich selbst, für die Betrübnisse des Lebens habe ich immer seltener ein Ohr. Ich bin an der Nabelschnur entstanden und werde in Nabelschau enden. Gott sei mit mir gnädig.
Aber zurück zum Herbst des Lebens, dem ich mich inzwischen so zugehörig fühle. Das einzige, was mich wirklich stört, ist, von dieser debilen „For-ever-Young“-Generation“, die bisher nichts geschafft hat, außer das Geld ihrer Eltern für Mobiltelefone und PCs zu vergeuden, mit der Altersriege meiner Eltern in einen Topf geschmissen zu werden. Ich bin verdammt noch mal immer noch jung und spritzig, wenn auch leider an dieser Stelle hin und wieder - also bitte nur gelegentlich - mit einigen Einschränkungen. Aber ich würde mich doch noch nicht freuen, wenn ich das goldene Sportabzeichen dafür bekommen würde, mehr als 15 Minuten auf dem Heimtrainer durchgehalten zu haben. Ich kann noch locker einen Baum ausreißen. Gut, vielleicht nur noch in der frischangelegten Fichtenschonung, aber Bäume sind schon noch drin. Und davon abgesehen bin ich geistig noch ganz auf der Höhe. Ihr fragt nach dem Beweis? Ich habe z.B. herausgefunden, wie das mit den vier Jahreszeiten bei uns Menschen ist.
Es beginnt mit dem Frühjahr, es folgt der Sommer, und wenn die Nächte etwas kühler werden ist Spätsommer und erst der Herbst zeigt unser Lebensende an.

Aber Winter, Winter wird es nie.
 
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Trotzdem wird es für uns alle irgendwann einmal Winter.
Der Winter steht in der Prosa der Natur als Metapher für das Ende, für die Ruhe, den tiefen Schlaf. Aber er gilt auch als Zeit des Regenierens, des Erholens, des Kraftschöpfens für einen Neubeginn.
Die meisten Pflanzen erblühen im Frühling aufs Neue in einer Pracht und Fülle, die die des Vorjahres oft übertrifft. Doch selbst für die schönsten, kräftigsten Pflanzen, für mächtige, dem Wind und Wetter trotzende Bäume, für erfahrene Tiere, die ganzen Rudeln vorstanden, für die Einzelgänger unter ihnen, wird es irgendwann einmal Winter. Und dieser Winter wird ein niemals endender sein, denn er ist nicht von der realen Jahreszeit abhängig. Er ist der Winter des Lebens, und dieser Winter bedeutet für alles Lebende einen tiefen, niemals endenden Schlaf.
Anders, als in der Natur, wo das Erhalten der eigenen Art und Rasse eine Selbstverständlichkeit und Notwendigkeit ist, wo kein Tier stirbt, ohne für Nachkommen gesorgt zu haben, wo keine Pflanze verwelkt, ohne vorher ihren Samen in die Erde hat fallen lassen, durch ihren Nektar oder ihre Pollen weiteres Leben spendet, das Fortbestand garantiert, ist es bei uns Menschen.
Haben wir erst den Frühling, der für Kindheit und Jugend steht, hinter uns, folgt der Sommer. Der Sommer ist für uns das, was für die Natur der Frühling ist. Erst im Sommer des Lebens sehen wir uns soweit gefestigt, dass wir für Nachkommen sorgen und damit für den Erhalt "der eigenen Art".
Dann kommt der Herbst, der uns auf das zurück schauen lässt, was uns "ausmacht". Der uns ein Gefühl der Zufriedenheit vermittelt, oder das des "Zugzwangs", weil wir noch nicht alles erledigt, bzw. noch "einige Rechnungen offen haben".
Dann kommt der Winter.
Der steht für uns Menschen für das absolute "Aus", für "das Ende", den Tod.
Rilke schrieb in seinem Herbstgedicht: "Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr. Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben."
Aber das bezog er auf den Herbst!
Zum Winter fällt mir nur ein Lied ein:
"Ach, bitt´rer Winter, wie bist du kalt.
Du hast entlaubet den grünen Wald.
Du hast verblüht die Blümlein auf der Heiden."
 
Mir gefällt Deine Deutung des Textes von Jüjü sehr gut, Guido.

Vielleicht darf ich noch anschließen.( auch ein Gedicht von Walther von der Vogelweide)
Möcht ich verslafen des winters zit!
wache ich die wile, so han ich sin nit,
daz sin gewalt ist so breit und si wit.
weiz got er lat ouch dem meien den strit!
so lise ich bluomen da rife nu lit.


( Könnte ich doch den Winter verschlafen!
Verwachte ich ihn indessen, so hasse ich ihn,
weil seine Herrschaft sich weit und breit erstreckt.
Aber weiß Gott, eines Tages wird er doch dem Mai das Feld räumen.
Dann pflücke ich Blumen dort, wo jetzt der Reif liegt.) - Übersetzung von Peter Wapnewski



Dies Gedanken weisen über Jüjüs Text hinaus - wirklich? Ist unser Leben nicht nur Traum -?

Marianne
 
Bären halten Winterschlaf

Wenn 76 meine statistische Lebenserwartung ist,
dann begann (wenn ich richtig gerechnet habe - ohne PC und Taschenrechner) mein Lebenswinter
vor 5 Jahren. Also schon ein ganz schön langer Winter. Statistisch habe ich also weitere 14 Winterjahre vor mir. Wer weiß aber, wann ich in den Bärenschlaf versinke, aus dem ich aber anders als hier dargestellt, glaube, wiedererweckt zu werden.
So hat es nun mal der Bärenschlaf an sich, daß der Bär daran glaubt, im Frühling wieder aufzuwachen.
Denn alles wiederholt sich doch, oder? Also muß doch nach dem Winter wieder ein Fühling kommen
usw. bis in alle Ewigkeit.
 
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Ja, vielleicht ist das Leben nur ein Traum - aber dann müsste der Begriff "Traum" definiert werden.
Für den, der auf ein erfülltes und glückliches Leben zurückblicken darf, steht das Leben als Traum für etwas völlig anderes, als für den, dessen Leben eine einzige Sorge, Mühe und Plage war.
Für den Einen war es ein schöner Traum, für den Anderen nur ein Alptraum.
Aus schönen Träumen - das wissen wir alle - möchten wir am liebsten gar nicht mehr aufwachen, während uns Alpträume Angst machen und wir uns vorm nächsten Einschlafen wünschen, diesen Alptraum nie mehr träumen zu müssen.
Alpträume lassen es jedoch zu, bzw. unser Schlafzentrum hat solches Mitleid mit uns, dass wir meist dann aufwachen dürfen, wenn die geträumte Situation für uns zu gefährlich, zu unheimlich, zu furchteinflößend wird.
Im Alptraum "Leben" ist das leider nicht so. Den müssen wir zuende träumen, ob wir wollen oder nicht.
Sicher gibts da auch einen Selbstschutzmechanismus, der uns aber nur signalisiert, "es ist zu gefährlich! Tu etwas!!" - auch eine Form des Aufwachens. Trotzdem nützt dieses Aufwachen den Wenigsten etwas, denn das Wenige, das sie tun könnten, um diesem Labyrinth des Alptraums zu entkommen, ist leider nicht genug. Und so müssen sie ihren Alptraum bis ans Ende träumen,durchleben und durchleiden.
Glücklich die Anderen, die ihr Leben von Frühling bis Herbst durchträumen dürfen und im Winter zufrieden die Augen schließen können, in dem Gefühl und mit der Einstellung: " Es ist ok! Es war gut so."
 
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