Binchen
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Aus der ZEIT
Rütli als Menetekel
Und das nicht nur für Berlin-Neukölln, sondern auch für unsere Begabung, heranwachsende Probleme erst zu verkennen, dann zu verdrängen – um sie am Ende mit ein paar schnellen Handgriffen angeblich beheben zu können. Ein Kommentar von Robert Leicht
Nein, kein pädagogisches Nachwort zur Aufregung um die Berliner Rütli-Hauptschule – aber doch ein politisches Staunen. Wieso nun mit einem Mal die Aufregung, als sei eine heile Welt zusammengebrochen? Diese Frage richtet sich nicht nur an die Politiker, sondern auch an die Medien. Denn eigentlich hätte sich das jeder an den fünf Fingern einer Hand abzählen können: Wenn man es über viele, viele Jahre zulässt, dass sich in den Einwandererbezirken von großen Städten Schulmilieus heranbilden, in denen die folgenden zwei Regeln gelten, dann darf man sich über nichts wundern.
Die erste Regel lautet: Die Lehrer verstehen nicht, was die Schüler untereinander reden – denn diese reden türkisch oder was deren Muttersprache sonst sein mag. Die zweite Regel lautet: Die Schüler verstehen nicht so recht, was die Lehrer ihnen beibringen wollen, und zwar weder fachlich noch sozial, denn sie sprechen kein rechtes Deutsch. Und wenn man berücksichtigt, dass es das Problem „Gewalt an der Schule“ durchaus auch in rein deutschen Problemzonen gibt, dann kann man sich ausrechnen, was sich aus der Kombination ergeben muss von mangelnder Kommunikation, latenter bis manifester Gewalt und – das nicht zu vergessen – der kulturell-sozialen-mentalen Differenz zwischen dem Herkunftsland der Eltern (vor allem der Väter) und unseren verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Standards.
Dabei wären die Zustände an der Rütli-Schule um ihrer selbst willen wohl kaum wahrgenommen worden, hätten die Lehrer sich nicht auf den bewusst zuspitzenden Hilferuf verständigt, man möge doch die Schule lieber ganz schließen. Und selbst dieser Brief wäre in der Berliner Schulbehörde sanft entschlafen, wäre er nicht nach ergebnis- und reaktionslosen Wochen der Öffentlichkeit zugespielt worden. Aber auch dann noch haben sich die Behördenhengste erst einmal über die Mitteilung der Zustände mehr geärgert als über die Zustände selber.
Das Phantastische an dieser Causa ist also zunächst einmal die unglaubliche Wahrnehmungsverzögerung in unserem politisch-administrativen Komplex und in unserer Öffentlichkeit. Zu ihr mag auch beigetragen haben, dass sich die eine Seite über Jahrzehnte vorgemacht hat, Deutschland sei kein Einwanderungsland, die andere sich aber eingeredet hatte, „Multikulti“ sei sozusagen gratis zu haben und ohnedies eine problemlose Bereicherung. So führten eben zwei gegeneinander gerichtete Formen der political correctness zur gemeinsamen Verblendung.
Kaum weniger verblüffend als die lange Wahrnehmungsverweigerung ist der sozusagen kompensierende Übereifer, als lasse sich das verdrängte Problem in einer sehr viel kürzeren Zeit, als die Verdrängung zur Verfügung hatte, mit ein paar Handgriffen bereinigen. Gewiss, Sozialarbeiter für die betroffene Schule waren dringend geboten. Aber wer wird nach Wochen noch die Geduld, die Aufmerksamkeit, die Nachhaltigkeit aufbringen, die einmal gemachten Fehler nach und nach auszubessern – und zwar nicht nur in Berlin-Neukölln, sondern überall, wo Ähnliches geschieht, ohne dass wir es schon wahrnehmen? Bis zur nächsten Katastrophenmeldung…
Die Zeit
Rütli als Menetekel
Und das nicht nur für Berlin-Neukölln, sondern auch für unsere Begabung, heranwachsende Probleme erst zu verkennen, dann zu verdrängen – um sie am Ende mit ein paar schnellen Handgriffen angeblich beheben zu können. Ein Kommentar von Robert Leicht
Nein, kein pädagogisches Nachwort zur Aufregung um die Berliner Rütli-Hauptschule – aber doch ein politisches Staunen. Wieso nun mit einem Mal die Aufregung, als sei eine heile Welt zusammengebrochen? Diese Frage richtet sich nicht nur an die Politiker, sondern auch an die Medien. Denn eigentlich hätte sich das jeder an den fünf Fingern einer Hand abzählen können: Wenn man es über viele, viele Jahre zulässt, dass sich in den Einwandererbezirken von großen Städten Schulmilieus heranbilden, in denen die folgenden zwei Regeln gelten, dann darf man sich über nichts wundern.
Die erste Regel lautet: Die Lehrer verstehen nicht, was die Schüler untereinander reden – denn diese reden türkisch oder was deren Muttersprache sonst sein mag. Die zweite Regel lautet: Die Schüler verstehen nicht so recht, was die Lehrer ihnen beibringen wollen, und zwar weder fachlich noch sozial, denn sie sprechen kein rechtes Deutsch. Und wenn man berücksichtigt, dass es das Problem „Gewalt an der Schule“ durchaus auch in rein deutschen Problemzonen gibt, dann kann man sich ausrechnen, was sich aus der Kombination ergeben muss von mangelnder Kommunikation, latenter bis manifester Gewalt und – das nicht zu vergessen – der kulturell-sozialen-mentalen Differenz zwischen dem Herkunftsland der Eltern (vor allem der Väter) und unseren verfassungsrechtlichen und gesellschaftlichen Standards.
Dabei wären die Zustände an der Rütli-Schule um ihrer selbst willen wohl kaum wahrgenommen worden, hätten die Lehrer sich nicht auf den bewusst zuspitzenden Hilferuf verständigt, man möge doch die Schule lieber ganz schließen. Und selbst dieser Brief wäre in der Berliner Schulbehörde sanft entschlafen, wäre er nicht nach ergebnis- und reaktionslosen Wochen der Öffentlichkeit zugespielt worden. Aber auch dann noch haben sich die Behördenhengste erst einmal über die Mitteilung der Zustände mehr geärgert als über die Zustände selber.
Das Phantastische an dieser Causa ist also zunächst einmal die unglaubliche Wahrnehmungsverzögerung in unserem politisch-administrativen Komplex und in unserer Öffentlichkeit. Zu ihr mag auch beigetragen haben, dass sich die eine Seite über Jahrzehnte vorgemacht hat, Deutschland sei kein Einwanderungsland, die andere sich aber eingeredet hatte, „Multikulti“ sei sozusagen gratis zu haben und ohnedies eine problemlose Bereicherung. So führten eben zwei gegeneinander gerichtete Formen der political correctness zur gemeinsamen Verblendung.
Kaum weniger verblüffend als die lange Wahrnehmungsverweigerung ist der sozusagen kompensierende Übereifer, als lasse sich das verdrängte Problem in einer sehr viel kürzeren Zeit, als die Verdrängung zur Verfügung hatte, mit ein paar Handgriffen bereinigen. Gewiss, Sozialarbeiter für die betroffene Schule waren dringend geboten. Aber wer wird nach Wochen noch die Geduld, die Aufmerksamkeit, die Nachhaltigkeit aufbringen, die einmal gemachten Fehler nach und nach auszubessern – und zwar nicht nur in Berlin-Neukölln, sondern überall, wo Ähnliches geschieht, ohne dass wir es schon wahrnehmen? Bis zur nächsten Katastrophenmeldung…
Die Zeit